Daniil Trifonov - eine "singuläre Erscheinung am musikalischen Sternenhimmel"?

  • Ich habe mal in meinem Archiv nachgeschaut. Trifonov habe ich mit Rach 2 letztes Jahr im Konzerthaus Wien erlebt. Das war schon großes Kino, ob singulär vermag ich aus diesem Erlebnis heraus nicht zu beurteilen. Aber er ist definitiv kein 08/15-Piano-Star, auch wenn das Marketing ihn schon sehr in eine Richtung drängen will.

    Wenn ich F10 auf meinem Computer drücke, schweigt er. Wie passend...

  • Aber am 4. Februar 2016 ist er ja wieder da, und nun im Großen Saal. Das Programm lautet:
    Bach/Brahms: Chaconne aus der Partita für Violine solo Nr. 2 d-moll BWV 1004 (für die linke Hand allein)
    Chopin: Zwölf Etüden op. 10
    Rachmaninow: Sonate Nr. 1 d-moll op. 28

    Wie ich gerade sehe, hat Daniil Trifonov den ersten Teil seines heutigen Hamburger Programms geändert. Anstelle der Chopin-Etüden spielt er nun die Grandes Etudes de Paganini von Franz Liszt.

    Gestern in Stuttgart spielte Trifonov (neben der Bach/Brahms-Chaconne und der 1. Sonate von Rachmaninow) übrigens Schuberts Sonate op. 78 und das erste Heft der Paganini-Variationen von Brahms. Hier die Kritik aus den Stuttgarter Nachrichten:
    "http://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.daniil-…e19cbb00f5.html"

    «Denn Du bist, was Du isst»
    (Rammstein)

  • Der Hamburger Abend vom 4.02.2016 muss phänomenal gewesen sein

    Das war er, liebe Berenice.

    Ich habe bewusst direkt nach dem Trifonov-Klavierabend, noch voller Euphorie, nur bei Facebook etwas darüber geschrieben. Also quasi eine "Mini-Rezension" verfasst. Meine Facebook-Freunde unter den Capricii haben also meine direkten Eindrücke mitbekommen.

    Ich habe mir abgewöhnt, bei Capriccio euphorisch zu sein. Man bekommt das ja doch nur um die Ohren gehauen. Aber ein wenig über diesen denkwürdigen Klavierabend schreiben möchte ich hier doch:

    Trifonov hat in letzter Minute das mit Schwierigstem gespickte Programm, welches ich in meinem Posting vom 4. Februar erwähnt hatte, noch erweitert bzw. die Architektur des Abends verändert. Nach der angekündigten Bach/Brahms-Chaconne für die linke Hand allein gab es im ersten Teil auf die spontane Entscheidung Trifonovs hin noch zwei weitere Bach-Bearbeitungen, nämlich Prélude, Gavotte und Gigue aus der Partita für Violine solo BWV 1006 in der Rachmaninow-Transkription sowie die Fantasie und Fuge für Orgel g-moll BWV 542 in der Liszt-Transkription (dieses Bach/Liszt-Werk hatte Trifonov bereits bei dem sagenhaften Lyoner Klavierabend, den arte ausgestrahlt hatte, an den Beginn gestellt). Vor der Pause gab es also einen reinen Bach-Teil - sinnfälligerweise aber in Transkriptionen von jenen Komponisten, deren Werke im zweiten Teil anstanden: Liszt und Rachmaninow.

    Trifonov hatte - was jeder "Sterbliche" tun würde - in seinem ursprünglichen Programm eine Pause eingeplant zwischen den mörderisch schwierigen Paganini-Etüden von Liszt und der kräftezehrenden 1. Sonate von Rachmaninow. Durch seine spontane Entscheidung, das Programm des Hamburger Klavierabends von 2 Stunden auf 2 1/2 Stunden zu erweitern und den ersten Teil allein Bach zu widmen, hatte er nunmehr im zweiten Teil den Liszt und den Rachmaninow hintereinander weg zu spielen. Außer Hamelin und Volodos wüsste ich niemanden auf diesem Planeten, der sich das zutrauen würde (vielleicht würden selbst diese beiden es sich gut überlegen, bevor sie sich in ein solches Abenteuer stürzen). Als Trifonov die letzten brachialen Akkorde der Rachmaninow-Sonate in die Tasten stemmte und dann sofort aufsprang, sah man ihm an, dass ihn dieses Abenteuer an seine Grenzen gebracht hatte. Er sah beim Verbeugen aus wie Klitschko nach seinem verlorenen Boxkampf, mit völlig leerem Blick. Aber im Gegensatz zu Klitschko hatte er es geschafft!!! Er hatte beide Werke geradezu atemberaubend interpretiert, ihre technischen Schwierigkeiten gemeistert und dazu noch Klangwunder geschaffen, wie insbesondere ein glockenspielartiges Klingeln beim Liszt aus dem Flügel herauszuzaubern, das ich überhaupt noch nie vorher wahrgenommen habe.

    Trifonov quittierte den frenetischen Jubel des Hamburger Publikums zunächst mit einer Miniatur als Zugabe, die ich noch nie zuvor gehört habe. War sie vielleicht von ihm selbst? Da er auch komponiert, halte ich das für ziemlich nahe liegend. Dann Scriabins Prélude op. 9 Nr. 1 für die linke Hand allein - wiederum sinnfällig hoch zehn!!! Ein Schulterschluss zum Beginn des Abends, der der Musik für die linke Hand allein gewidmet war.

    Zum Abschluss des Abends folgte der Hammer schlechthin: eine Schubert-Zugabe, die mich schlichtweg flashte. Das war der beste Schubert, seit ich an selber Stelle im Jahr 1979 Swjatoslaw Richter die Reliquie habe spielen hören. Es war ein Satz aus einer Schubert-Sonate, aber ich war viel zu elektrisiert, um darüber nachzudenken, welcher Satz aus welcher Sonate es war. Ich vermute stark, es war der dritte Satz aus op. 78, denn diese Sonate hatte er am Tag zuvor in Stuttgart komplett gegeben. Ich habe es bis heute aber nicht anhand von Aufnahmen nachvollzogen, denn ich möchte mir in meinem Musikgedächtnis diesen spezifischen Trifonov-Schubert-Klang erlebt im Konzertsaal solange wie möglich erhalten, ohne ihn mit Einspielungen aus meiner Sammlung zu mischen.

    Die Kritik von Joachim Mischke im Hamburger Abendblatt, die Du verlinkt hast, liebe Berenice, ist in der Tat euphorisch. Ich habe ihr nichts hinzuzufügen. Genauso wie ich hat er den 92-jährigen Menahem Pressler im Publikum ausgemacht. Für mich war das keine Schwierigkeit, saß er doch nur wenige Reihen hinter mir. Auch in der Pause lief ich ihm über den Weg. Wirklich schön, dass sich solch eine Legende auf den Weg nach Hamburg begeben hat, um eine kommende Legende namens Trifonov zu erleben.

    «Denn Du bist, was Du isst»
    (Rammstein)

  • Außer Hamelin und Volodos wüsste ich niemanden auf diesem Planeten, der sich das zutrauen würde (vielleicht würden selbst diese beiden es sich gut überlegen, bevor sie sich in ein solches Abenteuer stürzen).

    Bei allem Respekt lieber music lover, das möchte ich doch stark bezweifeln. Bei dem allgemein sehr hohen technischen Standard der jungen und jung gebliebenen Pianisten gibt es sicherlich einige Dutzend die das vermögen. Kleines Beispiel gefällig: "

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    " Da spielt Beatrice Rana nach der b-Moll Sonate von Chopin nach der Pause die 6. Sonate von Prokovieff, und zwar atemberaubend. Und sie sieht dabei und danach noch recht entspannt aus. Dergleichen Beispiele liessen sich viele finden (auch aus eigenen Konzerterfahrungen). Und warum müssen immer gleich ultimative Vergleiche wie der mit Horowitz gezogen werden, wie Herr Mischke das getan hat? Es reicht doch vollkommen hier von einem großartigen Pianisten zu sprechen, der noch alles vor sich hat und sicher zu den aufregendsten seiner Zunft zählen kann. Aber andere Mütter haben eben auch schöne Töchter, und Virtuosität ist nur ein Aspekt eines Künstlers.

    Eusebius

    "Sie haben mich gerade beleidigt. Nehmen Sie das eventuell zurück?" "Nein" "Na gut, dann ist der Fall für mich erledigt" (Groucho Marx)

  • Bei dem allgemein sehr hohen technischen Standard der jungen und jung gebliebenen Pianisten gibt es sicherlich einige Dutzend die das vermögen.

    Das glaube ich allerdings auch. Z.B. besteht ein typisches Programm eines Finalisten beim Brüsseler Wettbewerb aus so etwas wie einer späten Beethoven-Sonate, einem enorm schweren Pflichtstück mit Orchester und dem dritten Rachmaninow-Konzert, alles unmittelbar nacheinander, ohne Pause und vor allem unter Wettbewerbsstress, was etwas vollkommen anderes ist als ein normales Konzert (was natürlich in keiner Weise Trifonovs Leistung schmälern soll).

    Und warum müssen immer gleich ultimative Vergleiche wie der mit Horowitz gezogen werden, wie Herr Mischke das getan hat? Es reicht doch vollkommen hier von einem großartigen Pianisten zu sprechen, der noch alles vor sich hat und sicher zu den aufregendsten seiner Zunft zählen kann. Aber andere Mütter haben eben auch schöne Töchter, und Virtuosität ist nur ein Aspekt eines Künstlers.

    Vor allem schadet der Vergleich mit Horowitz dem jungen Künstler sicher mehr als er nützt. Nach dem, was ich von Trifonov bisher gehört habe (leider nur Aufnahmen; sein Konzert beim Klavierfestival Ruhr lasse ich diesmal noch aus, weil ich die erste Rachmaninow-Sonate nicht ausstehen kann...) ist er tatsächlich ein ganz außerordentlicher Pianist und Musiker, der natürlich weit mehr zu bieten hat als bloße Virtuosität. Aber auch mit 24 ist er noch in Gefahr, zwischen sensationsheischendem Publikum und kritikloser Kritik aufgerieben zu werden. Traurige Beispiele gibt es mehr als genug...

    Christian

  • Kleines Beispiel gefällig: "

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    " Da spielt Beatrice Rana nach der b-Moll Sonate von Chopin nach der Pause die 6. Sonate von Prokovieff


    Eben. Sie spielt die 6. Prokofiew-Sonate nach der Pause, also nachdem sie sich 20 Minuten nach der Partita Nr. 1 von Bach und der b-moll Sonate von Chopin im ersten Teil ausgeruht hat. Mein Punkt, den Du aufgegriffen hast, war demgegenüber, dass sich Trifonov die ursprünglich vorgesehene Pause zwischen den Grandes Etudes de Paganini von Liszt und der Rachmaninow-Sonate Nr. 1 geschenkt hat und beide (mörderisch schwierigen) Werke hintereinander weg spielte.

    Im Übrigen ist die Partita Nr. 1 von Bach Klavierstunden-Repertoire. Gleiches gilt für den technisch weitgehend anspruchslosen Marche funèbre aus der b-moll Sonate Chopins. Diese Werke, vor dem Prokofiew von Frau Rana gegeben, kann man nicht einmal ansatzweise vom Schwierigkeitsgrad her vergleichen mit dem, was Trifonov vor dem Rachmaninow bewältigt hat (Bach/Brahms Chaconne für die linke Hand, Bach/Rachmaninow Prélude, Gavotte und Gigue, Bach/Liszt Fantasie und Fuge, 6 Grandes Etudes de Paganini von Liszt). Ein Programm wie das von Frau Rana absolvieren Hunderte Pianisten weltweit tadellos. Was Trifonov in Hamburg abgeliefert hat, ist damit verglichen dann doch eine etwas andere Liga. Und in dieser überwältigenden interpretatorischen Qualität ohnehin.

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  • Ok. Wir können natürlich noch weiter "Wer hat den kann am längsten" spielen. Es sieht auch jeder sofort ein, dass die ganz besondere Klasse eines Pianisten dadurch erkennbar wird, dass er möglichst viele Tasten in möglichst kurzer Zeit drückt. So gesehen ist die Erfindung des Klavierclusters nichts weiter als die logische Konsequenz von Liszt, Rachmaninow und Scriabin.

    Eigentlich finde ich dieses Maß für die Qualität eines Pianisten gar nicht mal so schlecht. Dann können auch viel mehr Leute mitreden.

    Im Übrigen ist die Partita Nr. 1 von Bach Klavierstunden-Repertoire.


    Na ja. Die Frage ist halt, auf welchem Niveau. Trifonov hat die Partita vielleicht wirklich in seiner Klavierstunde gespielt, einschließlich der akrobatischen Gigue.

    Gruß
    MB

    :wink1:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Es sieht auch jeder sofort ein, dass die ganz besondere Klasse eines Pianisten dadurch erkennbar wird, dass er möglichst viele Tasten in möglichst kurzer Zeit drückt. So gesehen ist die Erfindung des Klavierclusters nichts weiter als die logische Konsequenz von Liszt, Rachmaninow und Scriabin.

    Ich habe music lovers Beitrag nicht so verstanden, dass er Trifonovs Qualitäten ausschließlich in der Bewältigung einer außergewöhnlichen Kraftanstrengung gesehen hat. Aber selbstverständlich ist es eine außergewöhnliche Leistung, zwei solche technischen Schwergewichte ohne Pause hintereinander zu spielen. Insofern verstehe ich den Sinn dieser Polemik nicht.

    Christian

  • Ich habe music lovers Beitrag nicht so verstanden,

    Hat auch niemand behauptet. Überzeichnung gehört allerdings zur Satire, nicht wahr. - Wenn einer die Aria aus den GBV zum Niederknien spielte, dann fände ich das aufregender, als wenn einer den Minutenwalzer in 57 Sekunden herunterraste und gleichzeitig auf einer zweiten Tastatur noch Strawinskys "Drei Tänze aus Petruschka" herausdonnerte. ^^

    Gruß
    MB

    :wink1:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Es gibt tatsächlich Leute, die unbedingt ihr Salz in jede Suppe streuen wollen, ob man's braucht oder nicht .

    Eine wahre, wenngleich triviale Aussage. Und darüber hinaus sogar selbstbezüglich. ;)

    Gruß
    MB

    :wink1:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Überzeichnung gehört allerdings zur Satire, nicht wahr. - Wenn einer die Aria aus den GBV zum Niederknien spielte, dann fände ich das aufregender, als wenn einer den Minutenwalzer in 57 Sekunden herunterraste und gleichzeitig auf einer zweiten Tastatur noch Strawinskys "Drei Tänze aus Petruschka" herausdonnerte.

    Was aber doch nichts daran ändern würde, dass man eine solche artistische Leistung höchstwahrscheinlich bemerkenswert finden und folglich in einem Konzertbericht auch bemerken würde, oder? Und music lover hat doch ausdrücklich geschrieben, dass ihn die Schubert-Zugabe (die, wenn es tatsächlich der dritte Satz aus der G-Dur-Sonate war, man bequem vom Blatt spielen kann) am meisten beeindruckt hat.

    Ich finde über den speziellen Fall hinaus eigentlich etwas anderes interessanter: Dass das mit unglaublichem Übeaufwand verbundene Streben der jungen Musiker nach immer noch extremerem spieltechnischen Niveau offenbar bei manchen Zuhörern nicht etwa zur besonderen Wertschätzung des schließlich erreichten Könnens führt, sondern geradezu zum Gegenteil! Da wird dann so getan, als sei die Bewältigung pianistischer Höchstschwierigkeiten eine Selbstverständlichkeit (die man nicht weiter erwähnen muss) oder gar etwas Unkünstlerisches. Verdächtiges, Unseriöses (was nichts im Vergleich zu einer schön gespielten Aria ist).

    Christian

  • Es gibt tatsächlich Leute, die unbedingt ihr Salz in jede Suppe streuen wollen

    interessante Metaphorik - an sich ist das Salz in der Suppe ja positiv konnotiert. Mal sehen, was sich machen läßt. ;)

    ---
    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Im Übrigen ist die Partita Nr. 1 von Bach Klavierstunden-Repertoire. Gleiches gilt für den technisch weitgehend anspruchslosen Marche funèbre aus der b-moll Sonate Chopins. Diese Werke, vor dem Prokofiew von Frau Rana gegeben, kann man nicht einmal ansatzweise vom Schwierigkeitsgrad her vergleichen mit dem, was Trifonov vor dem Rachmaninow bewältigt hat (Bach/Brahms Chaconne für die linke Hand, Bach/Rachmaninow Prélude, Gavotte und Gigue, Bach/Liszt Fantasie und Fuge, 6 Grandes Etudes de Paganini von Liszt). Ein Programm wie das von Frau Rana absolvieren Hunderte Pianisten weltweit tadellos. Was Trifonov in Hamburg abgeliefert hat, ist damit verglichen dann doch eine etwas andere Liga. Und in dieser überwältigenden interpretatorischen Qualität ohnehin.

    Lieber music lover

    Ich möchte mich nicht mit Dir darüber streiten wer jetzt das schwierigere Programm gegeben hat, und ob jemand in der Klavierstunde in Lage ist die Gigue aus der B-Dur Partita von Bach so zu spielen wie Frau Rana das getan hat. Auch möchte ich nicht darüber streiten ob die von Trifonov im 1. Teil seines Konzertes gegebenen Stücke wirklich zu den pianististisch schwergewichtigigen gehören (was sie im Falle des Studienwerkes von Brahms mit Sicherheit nicht tun). Mir ging es in meiner Replik einzig um die Aussage, dass kaum jemand in der Lage wäre ein derartiges Programm zu spielen, was ich nach wie vor bezweifeln möchte. Mir kommt es bei einem Programm auch in erster Linie darauf an, wie ein Pianist spielt. Virtuose Überwältigung ist bei mir ohnehin schwer zu erreichen. Da halte ich es mit dem Ausspruch der Herodias "ich glaube nicht an Wunder, ich habe deren schon zu viele gesehen". Und für mich persönlich sind selbst solche Programme wie das von Trifonov eher langweilig, weil ich diese Werke schon viel zu oft gehört habe.
    Aber über Virtuosität verfügen heutzutage viele Pianisten. Die Frage ist wie sie diese einsetzen. Ich habe ja gar nichts gegen Trifonov, und bin überzeugt das es ein phänomenales Konzert war, dafür sprechen die vielen begeisterten Kommentare. Was mich an der ganzen Diskussion stört, ist dieser Einzigartigkeitsanspruch. Bei allem was ich bisher von ihm gehört habe, hat sich nie dieser "Wow" Effekt eingestellt. Bei Frau Rana schon. Möglicherweise hätte sich das in dem Konzert ergeben. Aber ich fände es falsch wenn wir jetzt versuchen den einen gegen den anderen auszuspielen. Freuen wir uns doch darüber, das es so viele phantastische Talente gibt, bei denen auch immer wieder neues zu entdecken ist.

    Eusebius

    "Sie haben mich gerade beleidigt. Nehmen Sie das eventuell zurück?" "Nein" "Na gut, dann ist der Fall für mich erledigt" (Groucho Marx)

  • Wenn ich mich hier zum Thema allgemein auch mal einmischen darf... :versteck1:
    Ich habe vom Trifonov zwar einige Aufnahmen und kenne auch viele der jetzt schon zahlreichen Youtube-Auftritte, hatte aber leider bisher nicht das Glück, ihn live erleben zu dürfen. Aber music lover, ich bin wirklich neidisch:

    Bei seiner im Vorfeld so gerühmten Aufnahme aus der Carnegie Hall war ich ja auch sehr skeptisch. Schon wieder ein Supervirtuose, der vom Marketing als Jahrhundert-Pianist beworben wird? Da gab's in der Tat in der jüngeren Vergangenheit einige Beispiele (von Lang Lang will ich gar nicht erst anfangen
    :neenee1: ).

    Aber die besagte CD hat mich umgehauen! Dieser Skjabin, so unfassbar perlend gespielt. Der Chopin klingt in keiner Prelude aufgesetzt oder effekthascherisch.
    Sein Spiel ist generell nie von einer selbstgefälligen oder prätentiösen Art und Weise geprägt. In der Tat ist dies für einen Anfang/Mitte Zwanzigjährigen beeindruckend.
    Trifonov ist exzellent im schichten von Klangebenen, bei den Préludes Op. 28 scheitert er auch nicht daran, jede Einzelne pianistisch individuell zu interpretieren und doch einen großen Bogen zu spannen. Man wird hier zum Zuhören regelrecht "gezwungen". Auch bei dem Bach/Liszt hat mich sein bereits jetzt schon ausgefeilter Sinn für Kontrapunkt wirklich beeindruckt. UND natürlich ist er daneben auch ein wahnsinnig virtuoser Techniker. Das alleine reicht heute nicht aus, ich denke darin besteht Konsens. Bei Trifonov ist aber so viel mehr. Er kann mittlerweile fast tot-gespielte Werke neu aufleben lassen, einen frischen Interpretationsansatz finden und (vielleicht das Wichtigste) sein Spiel unterscheidet sich ganz einfach von dem anderer Pianisten, wenn man sein Alter bedenkt. Und genau das ist für mich wahres Können, also nochmal an music lover: Ich bin neidisch auf dich!
    :cincinbier:
    PS: Kleiner fun-fact...Angeblich übt er ja Rachmaninoff unter Wasser, um die nötige Kraft aus den Schultern zu bekommen.

    „Music is a nexus. It's a conduit. It's a connection. But the connection is the thing that will, if we can ever evolve to the point if we can still mutate, if we can still change and through learning, get better. Then we can master the basic things of governance and cooperation between nations.“ - John Williams

  • Was aber doch nichts daran ändern würde, dass man eine solche artistische Leistung höchstwahrscheinlich bemerkenswert finden und folglich in einem Konzertbericht auch bemerken würde, oder?

    Richtig.

    Und music lover hat doch ausdrücklich geschrieben, dass ihn die Schubert-Zugabe (die, wenn es tatsächlich der dritte Satz aus der G-Dur-Sonate war, man bequem vom Blatt spielen kann) am meisten beeindruckt hat.

    Es ging mir weniger um den Konzertbericht von Music Lover als um die kleine Diskussion danach, die für meinen Geschmack doch etwas sehr die rein physische Leistungsfähigkeit in den Mittelpunkt stellte. Dies im Sinne von "Hammerwerk 1, Hammerwerk 2, Hammerwerk 3 hintereinander ohne Pause".

    Ich finde über den speziellen Fall hinaus eigentlich etwas anderes interessanter: Dass das mit unglaublichem Übeaufwand verbundene Streben der jungen Musiker nach immer noch extremerem spieltechnischen Niveau offenbar bei manchen Zuhörern nicht etwa zur besonderen Wertschätzung des schließlich erreichten Könnens führt, sondern geradezu zum Gegenteil! Da wird dann so getan, als sei die Bewältigung pianistischer Höchstschwierigkeiten eine Selbstverständlichkeit (die man nicht weiter erwähnen muss) oder gar etwas Unkünstlerisches. Verdächtiges, Unseriöses (was nichts im Vergleich zu einer schön gespielten Aria ist).

    Ich habe nicht den ganzen Thread gelesen, aber ich meine, der Gedanke, dass man "unglaublichen Übeaufwand" nicht wertschätzen würde, sondern "die Bewältigung pianistischer Höchstschwierigkeiten" als selbstverständlich hinnehmen würde, wäre durch Dich in diese Diskussion getragen worden.

    Ein interessanter Gedanke. Vielleicht können wir uns ja auf den Konsens einigen, dass ein Pianist, der konzertiert und Tonträger aufnimmt, die Chopin-Etüden nicht als unspielbar (im landläufigen Sinne) bezeichnen sollte, dass aber gelungene Aufführungen und Aufnahmen der Godowsky-Bearbeitungen dieser Werke allen Respekt verdienen. - Auch dann, wenn bei weiter voranschreitendem technischen Fortschritt diese Stücke in 200 Jahren auch mal bei einer Aufnahmeprüfung zu hören sein könnten, so wie man heute auch Chopin-Etüden bei Aufnahmeprüfungen hören kann.

    Gruß
    MB

    :wink1:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Auch dann, wenn bei weiter voranschreitendem technischen Fortschritt diese Stücke in 200 Jahren auch mal bei einer Aufnahmeprüfung zu hören sein könnten, so wie man heute auch Chopin-Etüden bei Aufnahmeprüfungen hören kann.

    Die technische Perfektion wird man nicht beliebig erweitern können, und tatsächlich gab es ja auch bereits im 19. Jh Pianisten die die unglaublichsten Sachen gespielt haben. Jedenfalls wird die Ausführung der Etüden für Player Piano von Conlon Nancarrow einem Pianisten wohl nie gelingen, möge er noch so geschickt agieren. Und andereseits geht einem das hypervirtuose Tastengeklingel auch irgendwann auf den Keks. Denn sonst könnte man sich endlos an Thalberg, Cramer, Hünten oder anderen Komponisten dieses Genres delektieren. Mir sind immer die am Liebsten, die das virtuose Element in eine geistreiche Komposition einbinden. So wie Godowsky z.B. Und dessen Werke sind nun tatsächlich eine Herausforderung, der sich hingegen kaum einer der jungen Pianisten stellt.

    Eusebius

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  • Ich habe nicht den ganzen Thread gelesen, aber ich meine, der Gedanke, dass man "unglaublichen Übeaufwand" nicht wertschätzen würde, sondern "die Bewältigung pianistischer Höchstschwierigkeiten" als selbstverständlich hinnehmen würde, wäre durch Dich in diese Diskussion getragen worden.

    Ich mache diese Beobachtung schon länger und fühlte mich durch Deine Abwertung von pianistischen Höchstleistungen im Vergleich zu einer "Aria zum Niederknien" darin bestätigt. Dabei muss doch z.B. gerade ein Interpret der Goldberg-Variationen nach einer schönen Aria auch so manche pianistische Herausforderung meistern... Man braucht also (natürlich nicht nur bei diesem Stück) beides, und eben darin (so habe ich music lover jedenfalls verstanden) liegt Trifonovs Qualität, nicht in der Fähigkeit, "viele Tasten in kurzer Zeit zu drücken".

    Christian

  • Man braucht also (natürlich nicht nur bei diesem Stück) beides, und eben darin (so habe ich music lover jedenfalls verstanden) liegt Trifonovs Qualität, nicht in der Fähigkeit, "viele Tasten in kurzer Zeit zu drücken".

    Allerdings wurde der Aspekt der pianistischen Schwierigkeit der gespielten Stücke sehr stark betont, und auch bei der Erwiderung meines Einwandes herausgestellt. Ich halte es auch dem Pianisten gegenüber nicht für zuträglich, wenn er auf reines Virtuosentum reduziert wird (hat ml auch nicht gemacht, um dem fälligen Einwand zuvorzukommen). Der von mir hoch geschätzte Marc André Hamelin wird von vielen immer noch so behandelt, obwohl er mittlerweile auch hinreissend Haydn spielt. Von seinem delikaten Debussy mal ganz zu schweigen. Also vielleicht sollte Trifonov zur Vermeidung des Virtuosenstempels einen ähnlichen Weg beschreiten wie Arcadi Volodos. Dessen Deutung der pianistisch eher simplen Werke von Mompou ist überirdisch. Und wie bereits gesagt, jeder Teilnehmer eines der renommierten Wettbewerbe muß mehr leisten als seine Kollegen, die schon einen Namen haben.

    Eusebius

    "Sie haben mich gerade beleidigt. Nehmen Sie das eventuell zurück?" "Nein" "Na gut, dann ist der Fall für mich erledigt" (Groucho Marx)

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