RAMEAU: Les Indes Galantes (1735)

  • RAMEAU: Les Indes Galantes (1735)

    Liebe Capricciosi,

    wie ich an anderer Stelle kürzlich schrieb, sind einige Opern Jean-Philippe Rameaus in meinem persönlichen Ranking in kurzer Zeit von Null auf Hundert durchgestartet. Außerdem ist ja gerade mehrfach die Rede von den entsprechenden Suiten, nämlich hier: Rameau Suiten... Daher mal ein neuer Thread (wer in einem der Nachbarforen, i.e. "Das Klassikforum", liest, kennt den Text schon) zu einer Rameau-Oper (bisher vertreten: Platée; Hippolyte et Aricie). Da ich momentan nur die beiden auf dem Markt befindlichen DVDs dieser Oper kenne, aber keine der CD-Einspielungen, würde es mich sehr freuen, wenn es in dieser Richtung, also bzgl. der m.E. vier verfügbaren CDs, Empfehlungen oder Kommentare geben würde – oder hat gar mal jemand die Oper live gesehen? Sehr erfreulich ist im Übrigen, dass es in der aktuellen Opernsaison zwei Premieren dieses Werkes in D geben wird (Nürnberg, München).
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    Les Indes Galantes ("Die galanten Indien", wobei "Indien" als Sammelbegriff für exotische Gefilde gebraucht wird ...) gehört zu Rameaus Ballettopern, ein zur Entstehungszeit (Uraufführung: 1735) in Paris sehr angesagtes Genre. Les Indes Galantes bestehen aus einem Prolog und vier Entrées (Aufzüge, die man auch als in sich abgeschlossene Kurzopern betrachten kann), in denen es nur so vor originellen Instrumentierungsideen und ohrwurmartigen Melodien wimmelt. Insgesamt ergeben sich etwa drei Stunden Spieldauer, wobei die Balletteinlagen eine exponierte Stellung einnehmen. Zur Uraufführung wurden nur die ersten beiden Entrées gegeben, später kam das dritte, noch später (1736) das vierte hinzu.

    Zu Rameaus Zeit, nach anfänglichen Schwierigkeiten, ein erfolgreiches Bühnenwerk, zwischendurch vergessen, sagt die aktuelle Statistik (Operabase) Folgendes: Platz sechs unter neunzehn gelisteten Rameau-Opern bzgl. der Aufführungshäufigkeit (unangefochten auf Platz eins treffen wir, nicht ganz überraschend, die schräge Platée).

    Das Libretto von Louis Fuzelier ist weniger schwierig zu durchschauen als man es von der einen oder anderen italienischen Oper der gleichen Epoche gewöhnt ist. Einige Quellen [1,2] kommen mit wenigen Sätzen pro Aufzug aus, um die jeweilige Handlung zusammenzufassen. Der anspruchsvollste Aspekt besteht wohl eher darin, sich auf immerhin siebzehn verschiedene Charaktere, die recht unterschiedlich tiefgründig gezeichnet werden, einzustellen. Das verbindende Element aller Aufzüge ist, dass jeweils ein amouröses Abenteuer dargestellt wird, das nach einigen Schwierigkeiten ein recht gutes Ende findet...
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    Prolog ... Monologe bzw. Dialoge von / zwischen Hébé (Göttin der Jugend, Sopran), Bellone (Kriegsgöttin, Bariton), l’Amour (Amor, Sopran) mit dem Ergebnis, dass Letzterer seine Helferlein, die Amoretten, mit Pfeil und Bogen in allerlei fremde Länder schickt. Bellone und l’Amour sind als Travestierollen angelegt, was den Spaßfaktor des Prologs erhöht.

    Le Turc généreux (Der großmütige Türke) ... Leichte Parallelen bzw. Antiparallelen zur Entführung aus dem Serail: Die junge Emilie (Sopran) wurde von Piraten entführt und soll einen Pascha namens Osman (Bass) beglücken, worauf sie logischerweise wenig scharf ist. Verständlich, denn ihr Liebster ist Valère (Tenor), der, so ein Glück, nach einem Schiffbruch gerade am nahen Strand angespült wird, samt diverser Kollegen. Die See ist stürmisch und Rameau setzt, bekanntermaßen nicht nur an dieser Stelle, die Naturgewalt eindrucksvoll in Töne. Das Liebespaar ist vereint, allerdings stellt sich heraus, dass Valère inzwischen auch von Osman (der zu allem Überfluss auch noch das Liebesgesäusel der beiden jungen Leute mithört) versklavt wurde. Osman gerät in Wut, bemerkt aber, dass er Valère irgendwoher kennt: früher war nämlicher sein Herr und schenkte ihm schließlich die Freiheit. Als nachträgliches Dankeschön verzichtet Osmin Emilie und beweist damit, um auf den Titel zurückzukommen, seinen Großmut.

    Les Incas du Pérou (Die Inkas von Peru) ... Wieder eine Sopran-Tenor-Bass-Dreiecksgeschichte, die, als einzige der vier Geschichten, kein uneingeschränktes Happy End hat: Wir begegnen dem Spanier Don Carlos (nein, hier sind absolut keine Assoziationen zu einer bekannteren Oper angezeigt), der die Inkaprinzessin Phani liebt und heiraten will, was auf Gegenseitigkeit beruht. Phani ist der culture clash, den so eine Sache mit sich zieht, bewusst und sie ist demzufolge ängstlich. Dafür gibt es auch einen weiteren Grund, denn der einheimische Inka Huascar hat ein Auge auf Phani geworfen und findet, dass er wesentlich besser zu der jungen Frau passt als ein Europäer, spürt aber auch, dass Phani wohl tatsächlich Don Carlos liebt. Im Übrigen ist Huascar Sonnenpriester und zufällig wird auch gleich das Sonnenfest begangen, während dessen es zu einem Erdbeben kommt und der nahe gelegene Vulkan auszubrechen droht (die nächste Naturgewalt, die Rameau in erschütternde Töne setzten konnte...). Huascar glaubt, dass er die Lage im Griff hat und fordert Phani auf, seine Frau zu werden, sonst werde sie Opfer der Naturkatastrophe. Aber vergebens, Don Carlos entreißt dem verdatterten Huascar Phani und entkommt mit ihr, während der Sonnenpriester Opfer des Vulkanausbruches wird. Seinen letzten Worten kann entnommen werden, dass ihm das sogar recht ist ...

    Les Fleurs - Fête persane (Die Blumen - Ein persisches Fest) ... Zur Abwechslung eine Vierecksgeschichte, am besten man zeichnet sich das auf einem Stück Papier auf: Zwei verkumpelte persische Haremsbesitzer (Tacmas, Ali -- Tenor, Bariton), von denen jeder auf eine Schöne (Zaire, Fatime -- jeweils Sopran) aus dem Harem des jeweils anderen scharf ist. Die beiden angebeteten Untergebenen erwidern diese Zuneigung sogar prinzipiell. Daraus ließe sich nun noch keine Oper, auch kein Akt machen, daher verkleiden sich einer der Herren (als Haremshändlerin!! -- wieder eine Travestie und was für eine ...) und eine der Damen, um einen kleinen Test (Assoziationen zu Cosi fan tutte sind nicht von der Hand zu weisen ...) auf Treue und Wahrhaftigkeit vorzunehmen, was zwischendurch in eine Fast-Messerstecherei mündet und sich nach Enttarnung der Verkleideten doch in Wohlgefallen bzw. in einem "Blumenfest", im Zuge dessen natürlich ausgiebig getanzt wird, auflöst. Was soll man, mehr noch frau, dazu sagen? -- Ein Riesenklamauk, der lieber nicht aus feministischer Sicht durchleuchtet werden sollte, oder doch?

    Les Sauvages (Die Wilden) ... Das Entrée mit der vermutlich bekanntesten Musik! Wir sind bei den Eingeborenen Nordamerikas, repräsentiert durch Adario (Anführer der Stammeskrieger, Bariton) und Zima (Tochter des Häuptlings, Sopran) und den Chor. Die Europäer sind leider auch schon da, vertreten durch Don Alvar und Damon (Anführer spanischer und französischer Truppen resp. - Bariton, Tenor), die, wie könnte es anders sein, beide ein Auge auf Zima geworfen haben. Jegliche militärische Aktionen sind zum Glück schon beigelegt, nur Zima muss sich noch gegen die Avancen der beiden Europäer wehren, ihr wahrer Liebling Adario kommt ihr dabei erfolgreich zur Hilfe. Alles löst sich in Wohlgefallen und einem Friedensfest mit viel Tanz zu unwiderstehlich energiegeladener Musik auf.
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    Wie bringt man das Werk im 21. Jh. auf die Bühne? Als barockes Spektakel und Fest für Auge und Ohr, opulent bebildert? Oder baut man die sich geradezu schreiend aufdrängenden aktuellen Bezüge (Rechte von Frauen, Zerstörung der Natur, ...) ein? Es gibt aktuell zwei Inszenierungen dieser Oper, die auf DVD verewigt wurden, in denen jeweils eines der genannten Konzepte verfolgt wird. Alles in allem finde ich beide Arbeiten schlüssig und empfehlenswert:
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    Barockes Spektakel: Paris 2003, Regie -- Andrei Serban; Les Arts Florissants / William Christie

    Hier wurde aus dem Vollen geschöpft, auch personell: Bis auf eine Ausnahme ist keine Rolle doppelt besetzt! Es singen:

    Hébé ... Danielle de Niese
    Bellona ... Joao Fenandes
    Amour ... Valérie Gabail

    Emilie ... Anna Maria Panzarella
    Valère ... Paul Agnew
    Osman ... Nicolas Cavallier

    Phani ... Jaël Azzaretti
    Don Carlos ... François Piolino
    Huascar ... Nathan Berg

    Zaïre ... Gaële Le Roi
    Fatime ... Malin Hartelius
    Tacmas ... Richard Croft
    Ali ... Nathan Berg

    Zima ... Patricia Petibon
    Adario ... Nicolas Rivenq
    Damon ... Christoph Strehl
    Don Alvaro ... Christophe Fel

    Bühne und Kostüme sind farbstark, phantasievoll, teils stilisiert, teils an das jeweilige exotische Land angepasst. Die Balletteinlagen (Choreografie: Laura Scozzi) langweilen keine Sekunde, sind mal abstrakt, illustrieren dann wieder die Beziehungen zwischen den Geschlechtern... Sängerisch (und meist auch typenmäßig) sind die Rollen durchweg passend besetzt und der Clou kommt ganz am Ende: "Forêts paisibles" wird wiederholt, dazu tanzt die gesamte zum Schlussapplaus versammelte Mannschaft – ich beneide aufrichtig alle Zuschauer, die bei diesem "Event" dabei waren.

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    ... hier die nicht ganz so spaßige Variante:

    Barockoper mit aktuellen Bezügen: Bordeaux 2014, Regie -- Laura Scozzi; Les Talens Lyriques / Christophe Rousset

    In dieser Produktion wurde mit weniger Solisten gearbeitet, die entsprechend in bis zu vier Rollen auftraten:

    Hébé, Fatime, Phani ... Amel Brahim-Djelloul
    Bellone, Don Alvar ... Benoît Arnould
    Roxane ... Eugénie Warnier
    Amour, Zima ... Olivera Topalovic
    Emilie, Atalide ... Judith van Wanroij
    Osman ... Vittorio Prato
    Valère, Tacmas, Carlos, Damon ... Anders Dahlin
    Huascar ... Nathan Berg
    Adario ... Thomas Dolié

    Dass die Figuren z.T. andere Namen haben, hängt damit zusammen, dass hier mit einer späteren Version (sog. "1750 Toulouse Version") gearbeitet wurde. Hätte diese Aufnahme meine Erstbegegnung mit der Oper dargestellt, wäre ich wahrscheinlich sehr zufrieden gewesen. Da ich nun aber die o.g. opulente Barockspektakelversion vorher kannte, bleibt es beim ehrenwerten zweiten Platz. Ein dreisprachiges Booklet zu dieser Produktion, in dem Christophe Rousset und Laura Scozzi zu Wort kommen, ist übrigens im Netz zu finden [5], ebenso ein DVD-Teaser hier:
    "

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    Quellen:

    [1] "https://de.wikipedia.org/wiki/Les_Indes_galantes
    [2] "http://www.opera-guide.ch/opera.php?id=302&uilang=de
    [3] "http://www.tamino-klassikforum.de/index.php?page…d&threadID=2199
    [4] "http://www.eroica-klassikforum.de/index.php?page=Thread&threadID=169
    [5] "http://www.outhere-music.com/de/albums/les-…pha-710/booklet

    :wink: Amaryllis

  • Alter Falter! Toller Beitrag!

    Dann doch gleich mal die Frage: Enthält denn die Suite Stücke/Tänze aus allen 4 Aufzügen oder nur aus einem oder zweien? Denn im letzteren Falle würde es sich ja doch mal lohnen, das komplette Werk zu kaufen - wobei 3 Stunden echt fett sind. 3 Stunden Opernmusik ohne zuschauen... das mache ich nicht mal mit Mozarts Figaros Hochzeit, was nun meine absolute Lieblingsoper ist. Das stehe ich vermutlich nicht durch... :D

    Was heißt hier modern? Betonen Sie das Wort mal anders! Richard Strauss

  • Dann doch gleich mal die Frage: Enthält denn die Suite Stücke/Tänze aus allen 4 Aufzügen oder nur aus einem oder zweien?


    Ja, wenn ich das wüsste ?( . Ich habe halt bisher nur diese beiden DVDs und da langweile ich mich wirklich keine Minute, weder beim Gesang noch beim Tanz. Aber dass ich das Werk komplett hintereinander anschaue, ist auch eher selten, vor allem aus Zeitgründen – das ist doch gerade das Schöne an Les Indes Galantes, dass es praktisch 4 Kurzopern sind :thumbup: , und für eine solche ist doch immer Zeit ;+) .

    Hat denn jemand beides in seiner Sammlung, also eine Suite-Einspielung und eine GA?

  • So, habe mir gerade mal beispielhaft das Tracklisting von dieser Suite-Einspielung angesehen und da sind Stücken aus allen Teilen des Werkes dabei:

    UFF! Na da bin ich ja beruhigt! :D

    Was heißt hier modern? Betonen Sie das Wort mal anders! Richard Strauss

  • Eine gute Nachricht:

    Von der Münchner Neuinszenierung, die einige Capricciosi ja vor Ort besuchen werden, siehe hier, wird es einen Livestream (der offenbar relativ kurzfristig ins Streamingprogramm aufgenommen wurde) geben.

    https://www.staatsoper.de/tv

    Dort finden sich auch die genauen Daten:

    Zitat

    24. Juli 2016, 18.00 Uhr

    Jean-Philippe Rameau
    Les Indes galantes (Neuinszenierung, Festspielpremiere)
    Musikalische Leitung: Ivor Bolton
    Inszenierung und Choreographie: Sidi Larbi Cherkaoui
    Mit Lisette Oropesa, Anna Prohaska, Mathias Vidal, Tänzern der Compagnie Eastman u.a.

    Es wird also die Premiere gestreamt, sehr mutig!

  • Erinnerung: Morgen (= 24.07.2016) Livestream der Les-Indes-Galantes-Premiere aus München

    Es wird also die Premiere gestreamt, sehr mutig!

    Wie doch die Zeit vergeht. Besagte Premiere inkl. Stream gehen morgen über die Bühne.

    Einige Details und Fotos zur Münchner Neuproduktion finden sich in folgenden zwei Blogbeiträgen der Bayerischen Staatsoper:

    „La vraie musique est le langage du coeur“ (Beitrag vom 12.07.2016)

    Auf der Zielgeraden (Beitrag vom 21.07.2016)

    Sieht auf jeden Fall ganz anders aus als die beiden im Eingangsposting vorgestellten Produktionen aus neuerer Zeit und das soll es ja auch – sehr spannend!

  • Wenn ich denn wüsste, wann der Gassenhauer Les Sauvages ertönt, wäre ich zu gegebener Zeit natürlich auch dabei.

    Wenn an der üblichen Reihenfolge nichts herumgebastelt wird, dann kommt es erst ziemlich am Ende, so 20 Minuten vor Schluss. Wenn man eine Geamtdauer von 3 Stunden plus 30 Min. Pause annimmt, reicht es möglicherweise ab 21:00 Uhr reinzuschauen, sicherer ist 20:45 Uhr ... alles ohne Gewähr :evil:

    Absolut geil unter Minkowski.

    https://www.youtube.com/watch?v=RKvd4tMkFHc

    Jaaaa!!! Sehr rasantes Tempo :verbeugung1: :verbeugung1: :verbeugung1: .


  • Übrigens handelt es sich um die Erstaufführung der neuen, mit großem Aufwand erstellten kritischen Ausgabe des Werks, die bei Bärenreiter erschienen ist. Von den diversen Fassungen, die zu Rameaus Lebzeiten aufgeführt worden sind, hat man sich für diejenige von 1736 entschieden - mit Ausnahme der Erdbebenmusik des Inka-Bilds:

    The 1736 version was selected for this edition in the order: Prologue (without the episode of L’Amour), Le Turc généreux, Les Incas du Pérou, Les Fleurs and Les Sauvages, which were added in March 1736. And so, the main part of the opera appears in a coherent version, in line with the adjustments made for the first performances. The only exception to this editorial choice is the earthquake (Tremblement de terre) in the Incas du Pérou, which is reproduced in the main music text in its original version of 1735. This difficult, previously unpublished version was rejected during the first rehearsals, because the performers regarded this imaginative music as unplayable, and Rameau felt forced to rework it into more typical music. With the introduction of the original version of the “Tremblement de terre” it should be possible, and justifiably so, to reveal Rameau’s genius once more.

    Quelle und nähere Informationen zur gespielten Fassung:

    Takte-Online/Bärenreiter-Magazin (Rameau's “Les Indes galantes” at the Munich Opera Festival)


    Und ein Interview mit Dirigent Ivor Bolton: Abendzeitung (Interview Bolton)


    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • Als erstes: Danke an Yukon und an Zwielicht für Eure Ergänzungen und Hinweise ... ja, und dann der Livestream, musikalisch klang's für meine Öhrchen gelungen, vor allem sängerisch ein sehr ausgewogener Cast. Daher und aufgrund der Tatsache, dass es sich um eine so noch nie eingespielte Fassung handelt, muss sich der Mitschnitt bestimmt nicht hinter älteren Aufnahmen verstecken.

    Nachhören kann man die Aufnahme übrigens hier: Münchner Opernfestspiele, Jean-Philippe Rameau: "Les Indes galantes (BR Klassik)

    Szenisch war ich insgesamt doch eher enttäuscht, auch wenn die Grundidee, die vier Geschichten stärker miteinander zu verbinden, originell ist und auch partiell stimmig und raffiniert umgesetzt wurde. Allerdings gibt es immer mal wieder ziemlich schräge Albernheiten, die mir zu vordergründig schienen (Hoverboard-Einsatz; Toilettentrackt, der rückseitig als Beichtstuhl genutzt wird, um mal zwei Beispiele zu nennen). Kann sein, dass ich nicht so richtig in Stimmung dafür war :D .

    Das Rondeau "Forêt paisibles", der Gassenhauer, war, tempomäßig eher gemächlich, ganz fetzig choreographiert, als eine Art Street Dance, allerdings letztlich in einen kleinen Gewaltexzess mündend – keine so richtige Friedensutopie!

    Bin sehr gespannt, was die Capricciosi, die die Produktion live, ohne Tontechnik und Bildschnitt, erleben werden (oder schon haben?), dazu sagen!

    Viele Grüße,
    Amaryllis

  • Hallo zusammen,

    es gibt sehr viel Gutes zu berichten von der gestern besuchten Aufführung der ‚Les Indes Galantes‘ im Rahmen der Münchner Opernfestspiele. Für mich war es eine Erstbegegnung mit einer szenischen Rameau-Oper und auch mit dem vollständigen Stück. Insofern kann ich ganz unvoreingenommen von dieser wundervollen Ballettopern-Aufführung berichten. Ich habe nicht mehr Vorwissen als die Mehrzahl der Leser dieses Beitrags.

    Das Originalkonzept der Oper sieht nach einem himmlischen Prolog (Hébé, Bellona und L‘Amour und der Chor singen mit) vier nicht miteinander verbundene Akte vor, in denen jeweils galante Liebesgeschichten erzählt werden. Der erste, in der Türkei lokalisierte Akt ist eine Kurzfassung der Mozart’schen Entführung (inklusive Gnadenakt und direktem Bezug zwischen Osman (Bass, bei Mozart Bassa Selim) und Valère, Hautcontre, die die gleiche Frau Emilie lieben. Im zweiten Akt sehen Rameau und sein Librettist Louis Fuzelier eine Gegenüberstellung zwischen einem christlichen Liebhaber Don Carlos (Hautcontre) und dem verbrecherischen Inka-Priester Huascar (Bass) vor, die die gleiche Frau Phani lieben. Hier wirken ein Missbrauch priesterlicher Macht und die aufgeklärte Reaktion der jungen Frau wunderbar modern.
    Im dritten Akt, in Persien während eines Blumenfestes lokalisiert, lieben Tacmas (Hautcontre) und Ali (Bariton) jeweils eine Sklavin des anderen. Weil Tacmas und Fatime während dieses Festes durch Verkleidung das andere Geschlecht vortäuschen, kommt es zu einer amourösen Verwicklung. Der letzte Akt spielt in den Wäldern Nordamerikas, hier liebt der lokale Anführer Adario (Tenor) die gleiche Frau Zima, die auch von Damon (Hautcontre) und Don Alvaro (Bass) bedrängt wird.

    Das Regiekonzept des Choreografen Sidi Larbi Cherkaoui macht aus dieser sehr individuellen unverbundenen Handlung wieder einen langen, nicht immer ganz durchgängigen Faden. Mithin habe ich an wenigen Stelle zu rätseln, warum in der Aufführung bestimmte Stücke von Personen des 1. Akts im Rahmen des 2. Akts gesungen werden, ob hier das Stück umgestellt worden ist, ob hier eine Arie auf eine andere Sängerin transferiert worden ist – es entzieht sich meiner Kenntnis. Das Bühnenbild von Anna Viebrock ist durchgängig mit sehr vielen wechselnden Requisiten gestaltet, manches Detail, z.B. ein ausgestopfter Vogel vor der rechten Rückwand hat sich mir nicht erschlossen.

    Aus Hébé wird im Prolog wegen der vielen adhortativen Passagen Ihres Textes eine Lehrerin, ihre Rolle (dann als Zima) und die zugehörige Schulklasse kehren erst im vierten Akt wieder auf. Wer den weiter oben verlinkten Mitschnitt der Premiere aufruft, wird sich wahrscheinlich über die vielen Nebengeräusche wundern: Die Schulbänke (mit Kindern drauf) werden geschoben, gekippt, hier unterstützen die Tänzer der Compagnie Eastman, Antwerpen, das ungemein agile und wandlungsschnelle Bühnenbild. Ich bin ehrlich, den Prolog und die beiden ersten Akte fand ich an dieser Stelle überinszeniert, mein Eindruck war, dass hier ein tänzerischer horror vacui, eventuell auch die Angst vor mangelnder Aufmerksamkeit des Publikums für das unbekannte Stück vorherrschten. Wobei mich nach der Pause, besonders im dritten Akt, die etwas beruhigtere Inszenierung ungemein begeistert haben.

    Denn mich hat, was die Personenführung, Choreographie und Verschmelzung der eigentlich völlig getrennten Gruppen Solisten, Tänzer und Chor angeht, das meiste sehr überzeugt. Ob es daran lag, dass hier eine sehr intensive Probenarbeit nötig und sehr erfolgreich war, weiß ich nicht. Bei der Aufführung sang nicht der exzellente Bayrische Staatsopernchor, sondern der nicht minder exzellente, aber sicher deutlich barockerfahrene Balthasar-Neumann-Chor. Sidi Larbi Cherkaoui hat es in meinen Augen sehr überzeugend vermocht, die Gestik und Agogik der französischen Barockmusik in ein wandlungsfähiges Bewegungskonzept umzusetzen, manches war, so mein Eindruck, durchaus Barock gedacht, aber als moderner Tanz ausgedrückt. Ich bin sicher kein Spezialist für modernen Tanz, aber ich fand das Bewegungskonzept sehr angemessen, an manchen Stellen sehr witzig, an anderen Stellen sicher auch desillusioniert, manches hat mich an Pina Bausch erinnert, was die gelegentlich ungemein verschmolzenen und verschachtelten Bewegungsabläufe angeht.

    Von der musikalischen Seite gibt es in meinen Ohren nur Bestes zu berichten: Ivor Boltons musikalische Leitung der Aufführung, die von einer sehr großen Barockorchesterbesetzung, die als Münchner Festspielorchester benannt worden ist, wunderbar farbig, abwechslungsreich, sehr französisch duftend unterstützt wurde, hat wenig Wünsche offen gelassen. Mein Eindruck ist, dass nicht besonders viele Musiker des Bayerischen Staatsorchesters beteiligt waren, ich mag mich da irren. Unter den Sängern haben in meinen Ohren Ana Quintans (L’Amour, Zaire), Elsa Benoit (Emilie) und Lisette Oropesa (Hébé, Zima) ganz knapp die Nase vorn gehabt, auch die wenigen lokalen Kräfte, Goran Juric und Tareq Nazmi, haben sich im französischen Barockgesang mehr als wacker geschlagen.

    Besonders der zweite Akt mit der Rolle des verbrecherischen Inka-Priesters Huascar war recht nahe an der Originalhandlung inszeniert, allerdings mit dem wichtigen Unterschied, dass dieser Priester nun eindeutig ein katholischer Priester ist, der seinen Einfluss auf seine Gläubigen zu missbrauchen versucht, aber nicht erfolgreich ist. Über diese Umstellung haben sich in meinem Umfeld einige andere Zuhörer geärgert, ein Bekannter schimpfte ‚ich bin es leid, immer meine Religion als Dreckszeug beschimpft zu sehen‘. Ich fand diese Reaktion eher überraschend, weil der Machtmissbrauch durch den Priester und die aufgeklärte Reaktion der angebeteten Phani eindeutig im Stück angelegt sind.

    Der große Jubel des Publikums der gestrigen Aufführung ist aus meiner Sicht absolut berechtigt. Mir als altem Händelianer hat dieses Live-Erlebnis die Ohren (noch etwas mehr) für Rameau geöffnet, ich hoffe auf noch ganz viele derartige Angebote.

    Vielleicht mag ja Fairy Queen auch noch etwas schreiben, mit der wir gestern noch sehr ausführlich in der Pause und nach der Aufführung diskutiert haben.

    Die verbleibenden beiden Aufführungen am Fr und Sa sind ausverkauft.

    Gruß Benno

    Überzeugung ist der Glaube, in irgend einem Puncte der Erkenntniss im Besitze der unbedingten Wahrheit zu sein. Dieser Glaube setzt also voraus, dass es unbedingte Wahrheiten gebe; ebenfalls, dass jene vollkommenen Methoden gefunden seien, um zu ihnen zu gelangen; endlich, dass jeder, der Überzeugungen habe, sich dieser vollkommenen Methoden bediene. Alle drei Aufstellungen beweisen sofort, dass der Mensch der Überzeugungen nicht der Mensch des wissenschaftlichen Denkens ist (Nietzsche)

  • Les indes dansantes

    Wow!!! Dieser exorbitante Bericht von Benno kommt mir auch deshalb sehr gelegen weil ich zum Einen seine Begeisterung nebst Kritikpunkten teile und zum Anderen sehr eingeschränkt bin ,da ohne Computer und nur mit IPhone ,was das Schreiben mühsam macht. Daher in aller Kürze: erster Besuch im ausverkauften Prinzregententheater hat mich begeistert . Tolles Haus und jubelndes Publikum, das diese Uraufführung der galanten und tanzenden Inder in München gebührend feierte. Die musikalische Seite war ohne Fehl und Tadel, das können sie in Frankreich kaum besser. Einige Effektinstrunente die Sturm und Gewitter und Wellen produzierten hatte ich noch nie gesehen- die ganze Barocktrickkiste wurde ausgepackt und ich kann immer wieder nur über die unglaubliche Farben und Formenvielfalt Rameaus staunen, gegen den ich Lully geradezu langweilig finde. Arietten , Ariosi Duette, Rezitative, ein herrliches Quartett , getanzte Interludien- die Zeit, immerhin3Stunden ohne Pause, vergeht im Flug. Ivor Bolton und Seine Musiker haben im Graben genauso getanzt wie die Sänger und Tänzer auf der Bühne. Um es mit unserem Amfortas zu sagen: das war fetziger Swing! Von den Sängern haben mich Anna Prohaska und Ana Quintans besonders begeistert . Anna Prohaskas Arie " Viens hymen" war neben dem Quartett der Höhepunkt für mich. Ihre per se schon wunderschöne Stimme konnte sich in aller Pianopracht entfalten und der Zwischenapplaus ließ nicht auf sich warten. :verbeugung1: :verbeugung1: :verbeugung1: Aber auch Ana Quintans Timbre und Gesangskultur ist vom Feinsten . Es gab keinen einzigen Sänger der das hohe Niveau nicht halten konnte und was mir besonders auffiel, war die fast perfekte frz. Diktion. Was für eine Leistung allein das ist, weiß ich sehr zu würdigen. Dazu wurden die Sänger, wie schon bei Sasha Walz Orfeo ,vollkommen in die Choreographie eingebunden und mussten sehr viel tanzen bzw sich nahezu ständig bewegen. Manchmal waren Sänger und Tänzer eine Einheit und nicht mehr unterscheidbar. Man kann dem Casting Team nur gratulieren- die Besetzung war perfekt und ausgewogen, was auch den Chor einschließt der ebenfalls szenisch begabt und erfahren ist., ich hatte schon mehrfach das Glück, diesen Spitzenchor zu erleben. Musikalisch 10 von 10Punkten von mir . Nun zur Inszenierung . Zuerst war ich nicht nur sehr überrascht sondern auch erschlagen und musste mehrfach an die Wimmelbücher meiner Enkel denken. Cherkaoui hat zum 1. Mal Oper gemacht und dass er da noch nicht das rechte Maß gefunden hat war eindeutig. Trop c'est trop. Das Gesamtkonzept hat mich zwar nicht nur überzeugt sondern auch begeistert, aber in den Details kann man etliches besser machen. Alles was Bewegung und Tanz angeht war schlichtweg phantastisch und durch all die Vielfalt zwischen klassischen Schrittfolgen bis zum Streetdance und Ausdruckstanz ein Querschnitt der gesamten Tanzkultur . Sehr Barock , wenn auch nicht so wie man es erwarten würde. Die Soli waren allesamt überraschend aber die eigentliche Stärke der Truppe und von Cherkaoui liegt in den Gruppenszenen. Die einzelnen Tänzer werden da zu Zellen eines Organs die nur gemeinsam etwas Lebendiges erschaffen können und das für mich Unglaubliche war , dass die Sänger sich genauso organisch in dieses Kollektiv eingefügt haben. Cherkaoui hat sich keinen Deut darum geschert , was das Libretto zu Rameaus Zeiten vermitteln sollte. Er hat gnadenlos aktualisiert und nichts ausgelassen. Von Gender über Kirchenkritik bis zum Flüchtlingsthema und Europakrise war Alles dabei . Dass das funktioniert hat wurde auch mir erst im zweiten Teil klar . Dass sich konservative Barockfreunde da nicht wiedergefunden haben, kann ich allerdings verstehen . Späte vielleicht noch mehr falls es Fragen gibt. einstweilen liebe Grüße und besonderen Dank an Giovanni di Tolo und seine charmante Ehefrau, mit denen ich einige sehr schöne Stunden hatte. :fee: Schade dass unsere Werbung euch keine Karten verschaffen kann - restlos ausverkauft.

    Jede Krankheit ist ein musikalisches Problem und die Heilung eine musikalische Auflösung (Novalis)

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    Das ist es zweifellos, aber Eure farbenvollen Berichte - herzlichen Dank dafür - machen um so mehr Lust sich die Aufführung zumindest anzuhören, was ja bis Sonntag möglich ist, wie mir Benno geschrieben hat! :D

    Rem tene- verba sequentur - Beherrsche die Sache, die Worte werden folgen

    Cato der Ältere

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