Festival "Jazz à Vienne" 2009

  • Festival "Jazz à Vienne" 2009

    Das Festival "Jazz à Vienne" existiert seit 1981, als es von einer Gruppe ortsansässiger Jazz-Enthusiasten ins Leben gerufen wurde. Bis heute ist der Verein "Vienne Action Culturelle" (VAC) Betreiber des Festivals. Dieser organisiert seit 1975 Kulturveranstaltungen aller Art im wunderschönen, winzigen Stadttheater von Vienne sowie im antiken römischen Theater. 1980 wurde auf Anregung von Jean-Paul Boutellier, dem Präsidenten des Jazz Club im nahen Lyon, im Théâtre antique eine "Nuît du Blues" mit Muddy Waters, Fats Domino und B.B. King veranstaltet, zu der gleich 5000 Besucher erschienen. Das ermutigte die VAC, im Folgejahr erstmals ein Jazz-Festival in dieser prachtvollen Kulisse zu veranstalten; zu fünf Konzerten erschienen im ersten Jahr bereits 15000 Besucher. Schon damals gab es gleich einige große Namen: Count Basie, Art Pepper, Lionel Hampton und Herbie Hancock waren dabei. Inzwischen findet "Jazz à Vienne" jährlich für ca. 14 Tage etwa Anfang Juli statt; Hauptveranstaltungsort ist das antike römische Theater der Stadt.

    Mir ist das Festival zwar seit etwa 10 Jahren bekannt, als ein Freund ins Département Isère zog und es für sich entdeckte, aber erst in diesem Jahr habe ich es endlich geschafft hinzufahren; es wird sicher nicht das letzte Mal gewesen sein! Die einzigartige Kulisse der alten Theaterruine [Blockierte Grafik: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Datei:Vienne-cavea-du-haut.jpg&filetimestamp=20080830121725], das eher gemütliche ("douillet et familial") Flair des Festivals (pique-nique!), das für solche Veranstaltungen ungewöhnlich gesittete (und zu offenbar erheblichen Teilen fachkundige) Publikum und die überaus angenehme Athmosphäre in der ganzen Altstadt von Vienne tragen dazu in hohem Maße bei. Schön auch, Abend für Abend einen musikalisch bestens untermalten Bilderbuchsonnenuntergang über den Hügeln an der Rhône erleben zu können :) . Das musikalische Programm ist breitgefächert, aber durchaus vom feinsten. Ganz im Gegensatz dazu übrigens die vergleichsweise niedrigen Preise: schon die 36 € pro Abend (Vorverkauf: 32 €) sind günstig; im frühen Vorverkauf gibt es das 7er-Abonnement mit freier Konzertwahl und Platzgarantie für alle Konzerte zu 115 €. Dafür gibt es allabendlich ein Doppelkonzert, an Samstagen sogar drei Konzerte und in der Abschlußnacht sechs - für die, die lange genug aushalten: in diesem Jahr spielte Archie Shepp seine letzten Töne um sechs Uhr morgens...

    Neben den Hauptkonzerten im Théâtre antique gibt es noch (kostenlose) Nachtkonzerte an zwei Stellen der Stadt, im Stadttheater und in einem Zelt am Rhôneufer, wo weniger bekannte Musiker spielen, aber die insgesamt wohl interessantesten Konzerte zu hören sind. Außerdem am Nachmittag Konzerte von Nachwuchsgruppen; das reicht von der örtlichen Musikschule über amerikanische College-Bands bis zu semiprofessionellen Nachwuchsmusikern, überwiegend aus Frankreich, wie den Preisträgern des Nachwuchswettbewerbs "RéZZo". Schon hier ist ein beachtliches Niveau zu hören!

    Aufgefallen ist mir, daß insbesondere unter den jüngeren und jüngsten Musikern endlich auch in nennenswertem Umfang Frauen und Mädchen Jazz machen (und nicht nur singenderweise), auch an bisher für sie eher ungewöhnlichen Instrumenten. So hatte die aus 13-14 Jährigen bestehende "College Groove Gang" des Vienner Conservatoire eine (schon ziemlich versierte, vor allem aber stilsichere) Schlagzeugerin, die ebenfalls ortsansässige Big Band hatte einige Bläserinnen (und nebenbei mit Robinson Khoury einen unglaublich virtuosen 18jährigen Posaunisten), eine der amerikanischen High School Bands präsentierte im Wechsel u.a. zwei Kontrabassistinnen und eine Schlagzeugerin. Zu einer anderen Schlagzeugerin später mehr! Das mit einem ungewöhnlichen und sehr interessanten musikalischen Konzept angetretene "Orioxy-Quartett" aus Paris brachte die klassische Rhythmusgrundlage des Jazz (Bassist und Schlagzeuger) mit einer Harfenistin und einer experimentierfreudigen Sängerin zusammen. Weit überwiegend bleibt der Jazz aber offenbar noch eine Männerdomäne.

    2009 stand das Festival unter dem Motto "Métissages", was ich mit "Mischformen" oder "Vermischungen" übersetzen würde (Frankophone vor, bitte!), was sich u.a. auf die recht große Spannweite des Programms beziehen ließe, das vom im Freejazz wurzelnden Sun Ra Akestra bis zur Pop-Ikone Seal reichte. Daneben selbstverständlich die "Nuît du Blues" sowie die inzwischen traditionelle "Nuît brésilienne". Ein wenig war auch die sog. Klassik vertreten: Barbara Hendricks sang den Blues. Einige Künstler haben aber offenbar das Motto auf ihre Konzerte übertragen und in ihrem Programm vieles miteinander vermischt. Das war insbesondere bei Martial Solal und Roy Hargrove der Fall, die beide einen Abend für sich alleine hatten (dazu später mehr); auch Wynton Marsalis hat, wie mir berichtet wurde, ein extrem weit gefächertes Programm gespielt.

    Im weiteren ein Überblick über die Konzerte der Woche, in der ich in Vienne war.

    Bernd

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  • RE: Festival "Jazz à Vienne" 2009

    2009 stand das Festival unter dem Motto "Métissages", was ich mit "Mischformen" oder "Vermischungen" übersetzen würde (Frankophone vor, bitte!), was sich u.a. auf die recht große Spannweite des Programms beziehen ließe, das vom im Freejazz wurzelnden Sun Ra Akestra bis zur Pop-Ikone Seal reichte.

    Lieber Quasimodo

    Ich bin gespannt auf die Konzertberichte, auch wenn ich Jazz eher im "Nebenberuf" höre.

    "Métissages" hat im Französischen eine ganz spezielle Konnotation: Ein "métis" ist jemand, der gemischte Vorfahren aus dem französischen Stammland und den (ehemaligen) Kolonien hat, wobei ich sagen würde, dass der Begriff meistens ideologiefrei benutzt wird. Ich würde bei "métissages" also vor allem an Mischungen unterschiedlicher, weit voneinander entfernter Kulturräume denken, etwa europäisch, afrikanisch und asiatisch.

    Cordialement [Blockierte Grafik: http://www.cosgan.de/images/midi/figuren/a075.gif]
    Michel

    Es gibt kaum etwas Subversiveres als die Oper. Ich bin demütiger Diener gegenüber diesem Material, das voller Pfeffer steckt. Also: Provokation um der Werktreue willen. (Stefan Herheim)

  • 29. Juni 2009

    Big Bands gab es reichlich in diesem Jahr: nur von fern (leider!) hatten wir, eben in Vienne angekommen, das Laurent Mignard Duke Orchestra hören können; in der zweiten Woche spielten noch Wynton Marsalis' Lincoln Center Jazz Orchestra und das Sun Ra Arkestra.

    Für uns machte den Auftakt eine ziemlich kleine große Band: nur 8 Bläser neben Klavier, Bass und Schlagzeug zählt die Jason Lindner Big Band aus New York. Die aber spielen mit einer unerhörten Präzision und Prägnanz, was sie gleich im Eingangsstück eindringlich demonstrieren, einem vom Bassisten virtuos eröffneten Stück im 13er-Metrum (glaub' ich jedenfalls ;+) ). Lindners Musik nimmt Einflüsse verschiedenster Provenienzen ("métissages"!) und verarbeitet sie mit den "Regeln" für die Big Band: typische Bläsersätze, Solo-Untermalungen, Fill-ins - diese Elemente klingen immer, wie es bei einer klassischen Big Band zu sein hat, nur die Musik, die klingt immer ganz anders. Immer laufen die Stücke ein wenig anders ab, als man erwartet, oder nehmen auch schon mal eine völlig andere Wendung. Vieles beginnt spielerisch und entwickelt sich zu einer furiosen Melange aus Big Band-Klang und Poly-Rhythmus. Einmal beginnt Lindner, selbst sonst wenig solistisch tätig, ein Klaviersolo, als habe er ein Kinderklavier vor sich, und könne auch nur wie ein zweijähriger und mit zwei Fingern spielen. Daraus entwickelt sich dann - und mit der gesamten Band! - ein regelrechter Amoklauf an begleitetem Pianosolo. Langeweile ist bei dieser Band ein Fremdwort. Dabei bleibt die Musik immer im rhythmischen Rahmen (auch wenn der manchmal etwas komplexer gerät) und "geht richtig ab" - gleich zu Anfang ein Highlight des Festivals! Unter den durchweg hochkarätigen Solisten besonders hervorzuheben sind der Bassist Omer Avital und Yosvany Terry, der außer dem Altsaxophon noch virtuos eine mit Schnüren bespannte Kalebasse aus seiner Heimat Kuba bedient. Von ihm wird später nochmal die Rede sein.

    Den zweiten Teil des Konzerts bestritt die Laurent Cugny Enormous Band mit dem Programm "Remembering Gil Evans, Lumière and O.N.J." Laurent Cugny ist ein in Frankreich offenbar recht bekannter Jazzpianist und -komponist, der hier Episoden seiner früheren Arbeit mit drei Big Bands in Erinnerung bringt. Dabei handelt es sich um umfängliche mehrteilige Kompositionen mit eingebauten Passagen für Solisten. Das ist alles irgendwie stückwerkhaft und zusammenhanglos und wird schon sehr bald schlicht langweilig. Auch die Arrangements für die in der Tat enorme Besetzung (IIRC ca. 25 Musiker) wirkten auf mich routiniert und gekonnt, aber irgendwie uninspiriert und, ja, langweilig. Entschädigung bieten einige prachtvolle Soli, insbesondere von Stéphane Guillaume am Altsaxophon und ganz besonders vom herausragenden Stefano di Battista, u.a. mit einem gefühlt 20minütigen, zum Teil unbegleiteten und nie im mindesten langweiligen Sopran-Solo.

    Bernd

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  • 30. Juni 2009

    Carte blanche à Martial Solal

    Martial Solal ist eine feste Größe der französischen und europäischen Jazzszene. Geboren 1927 in Algier (ein "métis" also?) spielte er seit den 40er Jahren in Paris, u.a. als Pianist des Hot Club de France (Django Reinhardts Band) und mit allen amerikanischen Jazzgrößen, die es in jener Zeit nach Europa (und damit immer erst einmal nach Paris) verschlug, darunter der alte Sidney Bechet und der junge Chet Baker, die Jones-Brüder und viele andere mehr. Solal ist dabei immer ein ausgesprochen "moderner" Jazzpianist geblieben und kann an diesem ihm gewidmeten Abend als (mit einer Ausnahme) bei weitem ältester Musiker mit der kompromisslosen Individualität und Modernität seines Klavierspiels ein ums andere mal verblüffen.


    Martial Solal invite 5 pianistes : Benjamin Moussay, Pierre de Bethmann, Franck Avitabile, Franck Amsallem et Manuel Rocheman

    Jean-Claude Bouteiller, wie immer auf die Minute pünktlich um 20:30 Uhr seine Ansage machend, wies stolz auf die logistische Leistung hin, für diesen Abend acht Bösendorfer-Konzertflügel (zwei "richtig" große für Teil 2, sechs ziemlich große für Teil 1) auf die Bühne gebracht und gestimmt zu haben. Für den ersten Teil hatte Martial Solal fünf junge Pianistenkollegen der französischen Szene eingeladen und für die Besetzung 6 Klaviere plus Bass und Schlagzeug ein Stück komponiert. Dies bestand aus relativ kurzen gemeinsam gespielten Passagen, zwischen denen Platz blieb für sechs ausgedehnte Klaviersoli. Dabei gelang allen Solisten ein individueller und unverwechselbarer Auftritt mit recht unterschiedlichen Auffassungen vom Klavierspiel im modernen Jazz. Vielmehr als eine Anhäufung von Virtuosität war das Ganze aber nicht. Ein thematischer Zusammenhang des Ganzen war für mich allerdings nicht recht erkennbar. Einen musikalischen Zusammenhang innerhalb der Solopassage konnte mit Abstand am besten von allen der Senior herstellen.


    Duo Martial Solal/Hank Jones avec François & Louis Moutin

    Hank Jones, 1918 in Mississippi geboren und älterer Bruder der noch berühmteren Elvin Jones und Thad Jones (beide bereits verstorben), ist seit den 30er Jahren als Jazzpianist tätig und war in den 40ern Sideman unter anderem von Hot Lips Page, Charlie Parker und Coleman Hawkins und in den 60ern Pianist der bedeutenden Thad Jones/Mel Lewis Big Band. 2009 in Vienne hatte er bereits einen Teil des Eröffnungsabends (mit Cheick Tidiane Seick) bestritten und war von Martial Solal für diesen Duo-Auftritt eingeladen worden. Die beiden alten Säcke spielten das gottverdammte antike Theater in Grund und Boden (der Slang sei mir bitte verziehen), und an diesem Abend habe ich vom Sonnenuntergang nichts mitbekommen! Das Programm bestand ganz solide aus einer Handvoll alter Standards, die auf beste Hardbop-Manier bereits vom ersten Ton an in ihre Einzelteile zerlegt wurden. ("What is This Thing Called Love" habe ich erst im dritten Chorus erkannt). Aber WIE sie das machten! Ein dermaßen integratives Zusammenspielen zweier Musiker habe ich noch nie erlebt. Nahezu nichts zu hören ist da vom klassischen Schema Thema - Solo 1 - Solo 2 - Bass-Solo - Schlagzeugsolo - Thema - fertig. Diese beiden Musiker spielen ihre Soli gemeinsam, als wären sie ein vierhändiger Pianist, allerdings einer mit zwei Seelen in seiner Brust, denn das überaus distinguierte, sehr "klassische" Klavierspiel von Hank Jones (man stelle sich eine virtuose Ausgabe von Duke Ellington vor) setzt sich sehr, sehr deutlich von dem polytonalen, oft a-tonal klingenden, hochmodernen Spiel Martial Solals ab. Und die beiden haben einen unglaublichen Spaß dabei, Hank Jones überdies noch zusätzlich beim Zuhören und Beobachten des Bassisten François Moutin, der auf dem Kontrabass Sachen macht, die ich nicht geglaubt hätte, wenn ich sie nicht gesehen hätte. (O-Ton Martial Solal, mit betont französischem Akzent: "Si incredible Moutin-Brosers".)

    Kann man solistische Individualität und kongeniales Gemeinsam-Spielen in improvisierter Musik noch besser machen? Leider war nach zwei Zugaben (eine davon: Love for Sale in Nano-Technologie!) Schluß. Ich bin sehr glücklich, diese beiden Musiker live gehört zu haben. Absolut unvergeßlich!


    Martial Solal Quartet (Rick Margitza, François Moutin, Louis Moutin), le Newdecabande et l'Orchestre de l'Opéra de Lyon

    Für seine Mini-Big Band, die Newdecabande, und das Lyoner Opernorchester (genauer: die Streicher plus Marimbaphon) hatte Martial Solal extra für diesen Abend einige seiner Kompositionen umgearbeitet und einige neue geschrieben. Kurz: wirklich gelungen ist ihm das Experiment nicht. Zu sehr blieben die unterschiedlichen Klangkörper von einander isoliert, zu selten konnte mal wenigstens ein Übergang von der Jazzband zum Sinfonieorchester harmonisch gestaltet werden, zu sehr blieb auch hier der komponierte Jazz Stückwerk. Einiges klanglich sehr Gelungenes bei der Newdecabande, in der Solals Tochter Claudia als "instrumentale" Sängerin mitwirkt. Das Ganze wurde so manchem Zuhörer dann schlicht zu lang, und nach der ersten Zugabe war's dann auch für alle genug. Nur der 81jährige Carte-blanche-Inhaber hätte, glaub' ich, noch Lust gehabt, weiterzuspielen.


    Ein recht anstrengendes Konzert im Théâtre antique, daher waren wir zu kaputt, um uns anschließend im "Club de minuit" im Stadttheater noch allzuviel vom Quartett des französischen Saxophonisten Stéphane Guillaume anzuhören. Schade, denn was da zu hören war, klang sehr interessant. Ein andermal vielleicht!

    Bernd

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  • 1. Juli 2009

    Der amerikanische Tenorsaxophonist David Sanborn war mir bisher aus dem Radio als Vertreter eines weichgespülten Jazz mit Schmusefunktion und abwechselnder Funky-Dancefloor-Variante bekannt. Das stimmt auch irgendwie, aber live kommt das durchaus anders 'rüber. Ich war angenehm überrascht. Sanborns Solospiel ist allerdings variantenarm und eintönig; besonders gern greift er zur linke-Innenhand-Klappe für das höchste Register, und ein ums andere Mal denkt man: ooch, nicht schon wieder das Gequieke. Er überläßt aber gerne Solos auch seinen Mitmusikern, darunter der die Hammond B3 auf typische Weise bearbeitende und (leider nur in der Schlußnummer) herrlich Blues singende Ricky Peterson. Aus dem im Programm leider nicht genannten Bläsertrio ein Trompetensolo wie vom anderen Stern (und aus einer ganz anderen Liga); Sanborn nannte den mit großem Extrabeifall bedachten Solisten, ich konnte den Namen aber leider nicht verstehen. Ein im besten Sinne gefälliges Konzert.


    Zwei Wochen vor Beginn des Festivals sagte die Sängerin Randy Crawford, die mit einem Jazztrio auftreten wollte, krankheitsbedingt ab. Stattdessen kam Chaka Khan mit dem George Duke Trio. Die Disco-Queen der frühen 80er Jahre und Frank Zappas durchgeorgelter Keyboarder aus den 70ern? Würde das interessant werden? Leider nicht im Mindesten! George Duke legte mit einer up-tempo-Nummer im Latin-Rhythmus vor, bei der er das Fender Rhodes (E-Piano) in altbekannter Manier traktierte und ein wenig dazu sang, um anschließend die Sängerin anzukündigen. Die versuchte sich immerhin an Jazz-Standards (Duke wechselte jetzt zum Flügel und der Bassist von der Bassgitarre zum Kontrabass), aber daß sie irgendiwe die Mittel besäße, um dem gerecht zu werden, den Eindruck hatte ich nicht. Sie schien mir vielmehr einen Gesangsstil zu kopieren, wie er in der Popmusik und der Musicalszene durch Sängerinnen wie Whitney Houston und Mariah Carey modern geworden ist, was ihr aber nicht recht gelang. Es gelang ihr vor allem nicht allzu oft, halbwegs korrekte Töne zu treffen. Sie wirkte auch rein äußerlich wie eine satirische Kopie ihrer selbst und machte auf mich den Eindruck, als habe sie sich für dieses Konzert überreichlich Mut antrinken müssen. Eine traurige Vorstellung, die ich mir lieber nicht bis zum Ende angesehen habe.


    Stattdessen habe ich mir im Club de minuit das Trio der jungen französischen Schlagzeugerin Anne Paceo, "Triphase", angehört - und: ich krieg' den Mund bis heute nicht zu! Wie schrieb ich vorhin: Kann man solistische Individualität und kongeniales Gemeinsam-Spielen in improvisierter Musik noch besser machen? Ja, kann man! Nämlich dann, wenn nicht nur zwei Musiker, sondern gleich alle drei Musiker einer Band spielen, als wären sie ein Einziger mit drei Seelen. Die Musik von Triphase (ausnahmslos Eigenkompositionen der drei Musiker) ist vergleichsweise konventionell: da gibt es gut wiedererkennbare Themen bis hin zu Ohrwürmern, musikalische klare, wenngleich eher nicht einfache, Strukturen, Solopassagen für je einen der drei, typische Swing- und Latin-Rhythmen (letztere deutlich brasilianisch angehaucht; der Pianist ist Brasilianer). Aber das wird mit einem durchaus nicht konventionellen Zusammenspiel präsentiert. Ein Solo ist bei Triphase niemals einfach "einer spielt Solo, zwei begleiten", es ist immer ein gemeinsames, interaktives Spiel. So etwas spannendes habe ich in improvisierter Musik vielleicht noch nie gehört! Das einzige, was mir als Parallele einfällt, sind die Live-Aufnahmen der King-Crimson-Besetzung der Jahre 1973/74, und das war eine sehr andere Musik. Leider war nach einer guten Stunde und einer Zugabe Schluß, da es noch ein zweites Nachtkonzert gab (für das ich dann allerdings nicht mehr aufnahmefähig war). Über die Virtuosität der gemeinsamen Improvisation geht der Blick ein wenig verloren auf die solistischen Fähigkeiten der drei jungen Musiker (alle Anfang/Mitte 20), die durchaus beachtlich sind. Joan Eche-Puig hätte ich am Kontrabass sicher weit mehr bestaunt, hätte ich nicht zuvor den wirklich unglaublichen François Moutin gesehen. Der Pianist Leonardo Montana besticht vor allem mit einer bei Jazzpianisten selten zu hörenden absoluten Unabhängigkeit beider Hände, wodurch das Trio manchmal tatsächlich wie ein Quartett klingt. Und Anne Paceo spielt so zurückgelehnt und entspannt Schlagzeug, daß man manchmal die Bühne nach dem anderen Schlagzeuger absuchen möchte, von dem dieses ganze Getrommel kommt. Daß sie bereits mit einigen Größen auch der amerikanischen Szene gespielt hat, darunter Charlie Haden und Rhoda Scott (in einem reinen Frauen-Quartett), kann da nicht verwundern. Ein Name, den man sich merken sollte!

    Trotz Hank Jones und Martial Solal: Triphase war für mich das größte Highlight des Festivals! Leider wird man Anne Paceo in Deutschland vermutlich nicht oft zu hören bekommen. Die jüngst veröffentlichte Platte habe ich mir natürlich sofort mitgenommen. Die ist zweifelsohne sehr gut und empfehlenswert; die Intensität des Zusammenspiels der drei gibt sie aber nur ganz rudimentär wieder. Sowas geht wohl nur im Konzert! Trotzdem sei auf diese CD hingewiesen:

    Bernd

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  • 2. Juli 2009

    Der Abend im Théâtre antique gehörte dem amerikanischen Trompeter Roy Hargrove (*1969), der, seit er 1987 an einer High School von Wynton Marsalis "entdeckt" wurde, in allen möglichen Stilrichtungen und Formationen quer über den Globus auftaucht, zunehmend seinen eigenen. Seine Big Band existiert schon seit 10 Jahren, 2003 gründete er die stark vom Hip Hop inspirierte Formation The RH Factor.


    Roy Hargrove Big Band invite Roberta Gambarini

    Erneut also eine Big Band, und erneut eine von großer Klasse. Das Repertoire reicht von Funk, Soul und modernem Jazz bis zurück in die Frühzeit des Jazz. Der Schwerpunkt lag allerdings auf dem "klassischen" Big Band-Repertoire der Swing-Ära. Dafür hatte sich Roy auch entsprechend in Schale geworfen: Im hellbeigen Anzug mit weißer Fliege und roten Schuhen sah er ein bißchen wie ein Wiedergänger von Cab Calloway aus :D - oder auch wie der junge Duke. Roberta Gambarini, passend dazu in tief ausgeschnittenem knallrotem Abendkleid, zeigte mit "Ev'ry Time We Say Goodbye" dem Publikum erst einmal, wie man einen Jazz Standard anständig 'rüberbringt - Gänsehaut garantiert -, um ein paar Nummern später, in einer Bop-Nummer zunächst instrumental im Bläsersatz mitsingend, ein Scat-Solo zu liefern, zu dem auch Ella selig wohlwollend genickt hätte. Überhaupt gefiel mir diese aus Turin stammende und jetzt in New York lebende Sängerin erheblich besser als nahezu alles, was ich den letzten Jahren an jungen Jazz-Sängerinnen (häufig aus Skandinavien und den Niederlanden) gehört habe! Sie verläßt sich nämlich nicht allein auf Crooning-Effekte mit dem Mikrofon, sie kann auch mal richtig "aufmachen" (und muß dann auch mal einen halben Meter vom Mikro weg), womit sie klanglich ein ganz anderes Spektrum erreicht als andere Sängerinnen.

    Gegen Ende des Sets, Gambarini ist bereits abgegangen, kommt auch Roy Hargrove ans Mikro und singt (und zwar verdammt gut) "September in the Rain" (übrigens fing es etwa zu dem Zeitpunkt an zu nieseln...). Meine Hoffnung, daß Gambarini für ein Duett nochmal zurückkäme, hat sich aber leider nicht erfüllt.

    Reichlich gute, eher knappe Soli von fast allen 18 Mitgliedern der Big Band, erstklassige Arrangements (vom Chef selbst, nehme ich an), und ja, Trompete hat Hargrove auch gespielt, und nein, das war nicht überragend! Er schien wirklich nicht recht in Form zu sein. Bezeichnend, daß seine Beiträge auf dem (mW leichter und mit weniger Lippendruck zu spielenden) Flügelhorn deutlich besser gelangen. Ganz offensichtlich wurde das im letzten Stück, einer Reminiszenz an die Vor-Big Band-Zeit und an New Orleans, wo - wunderbar aufgebautes Arrangement! - am Ende ein Solo à la Louis Armstrong geradezu erwartet wurde. Und auch kam; oder kommen sollte: denn die strahlenden Spitzentöne gab es einfach nicht. Mir schien, als versuche er das (daß er es grundsätzlich kann, steht außer Frage!), es klappte aber nicht so recht (so, wie wenn eine Sängerin der Lady Macbeth am Ende der Schlafwandelszene erst beim Aufstieg zum des'' entscheidet: nee, lieber nicht...). Er entschädigte dafür mit einer Zugabe auf dem Flügelhorn, einer absolut traumhaften, nur ganz spärlich begleiteten Version von "My Funny Valentine", das ich - trotz Chet Baker - nie wundervoller gehört habe!


    Roy Hargrove RH Factor invite MC Solaar

    Während des Bühnenumbaus zum zweiten Konzertteil hatte sich der Regen festgesetzt und es sollte bis gegen Ende des Konzerts kräftig gießen. Kein Grund zu Gehen für das Vienner Publikum; für mich, nachdem ich mich erst einmal unter meinem Cape eingerichtet hatte, ein Grund mehr, nicht zu gehen. Ich muß gestehen: mit Hip Hop kann ich, vorsichtig ausgedrückt, nix anfangen, im Gegenteil, das geht mir auf den Senkel, und zwar mächtig. Trotzdem war ich natürlich gespannt, was ein Jazzer wie Roy Hargrove daraus machen würde. Mein erstes Problem war, daß es nun laut wurde, da bin ich wohl vergleichsweise empfindlich. Nun, ein bißchen zusammengerolltes Taschentuchpapier half dem ein wenig ab. Die Band bestand nun aus zwei Saxophonisten, E-Bass, Schlagzeug, Keyboards und Gitarre, dazu eine Sängerin, die ebenfalls ein Keyboard spielte, und natürlich Roy Hargrove. Der hatte mittlerweile die Fliege abgelegt, aber einen Strohhut mit schmaler Krempe aufgesetzt und sah nun endgültig wie ein schwarzer Loddel aus einem 40er-Jahre-B-Film aus. Oder auch ein bißchen wie Sammy Davis jr. in der Rolle des Sportin' Life. Ich glaube, auch die beiden Saxophonisten, vorher in der Big Band mit dabei, hatten Schlabberhosen angezogen, und das singende Mädel trug - abgesehen von einem doppelt tiefen Ausschnitt im Vergleich zu Gambarini - High Heels, die so hoch waren, daß sie nur mit gebeugten Knieen über die Bühne laufen konnte. Warum ich das alles erzähle? Ich war plötzlich irgendwie in einer anderen, mir sehr fremden Welt gelandet. Zu einem guten Teil galt das auch für die Musik - allerdings: die enervierende Eindimensionalität der Musik, die ich bisher als Hip Hop kannte, hatte das nicht! Es gab auch dynamische Abwechslung, die aus mehr bestand als daraus, daß mal für ein paar Takte Bass und Schlagzeug aussetzen. Dazu immer wieder prägnante Fill-ins vom Bläsertrio, und, vor allem von Jason Marshall am Baritonsaxophon, ein paar gelungene, allerdings auch ziemlich grelle Soli.

    Und dann kam natürlich noch Claude M'Barali aka MC Solaar. Daß der als einer der ganz Großen der internationalen Rapper-Szene gilt und der bedeutendste frankophone, habe ich erst eine Woche später durch Zufall erfahren. Mein französisch reicht auch keinesfalls aus, um irgendwas von seinen Texten zu verstehen (allerdings reicht auch mein Englisch nicht aus, um einen amerikanischen Rapper zu verstehen; und mein Deutsch nicht für einen deutschsprachigen Rapper :P ). So war denn sein Auftritt für mich auch mit einem deutlichen Anstieg an Langeweile verbunden. Nachdem der Regen aufgehört hatte, habe ich die Zugaben ausgelassen und mich wieder in den Club de minuit verdrückt. Ich bedaure es nicht, das Konzert gehört zu haben, aber zum Hip Hop-Fan hat es micht auch nicht gerade bekehrt. Ist es übrigens wirklich so, daß die Hiphopper ihre Texte mehr oder weniger live improvisieren? Das fände ich doch eine uU erstaunliche Leistung!


    Yosvany Terry

    Im Club de minuit gab es anschließend noch das Quartett (mit Piano, Bass, Schlagzeug) des kubanischen Altsaxophonisten zu hören, der auch schon bei Jason Lindner mitgespielt hatte. Die Band spielte klassisch aufgebaute Stücke (Thema, Soli, Thema), allerdings in extrem freier Weise. Wenn man mal vom Stückaufbau und dem (weitgehend) durchgehenden Rhythmus absieht, ist das eigentlich schon Free Jazz, etwa im Sinne des späten Coltrane. Es wird auch fast ständig Vollgas gegeben. Das ist beeindruckend, nicht nur beim hochvirtuosen Bandleader, sondern auch bei seinen Sidemen, wird aber nach einigen Nummern recht ermüdend (jedenfalls, wenn man vorher schon 3 Stunden Musik intus hat!). Die erste Nummer, die man mit etwas gutem Willen eine Ballade hätte nennen können, kam nach einer knappen halben Stunde; danach ging es erstmal mit Vollgas weiter - ich konnte dann schlicht nicht mehr und habe mich Richtung Bett verdrückt.

    Mit der Musik, die man typischerweise mit Kuba in Verbindung bringt, hat das erstmal wenig zu tun. Allerdings fand ich, nachdem ich mich etwas eingehört hatte, da durchaus einiges wieder: vor allem die rhythmischen Patterns des Bassisten Yunior Terry (Bruder des Bandleaders) erinnerten nicht selten an den Son cubano. Ich muß gestehen, daß ich solch experimentierfreudige und (im besten Sinne) "schwierige" Musik aus Kuba nicht erwartet hätte.

    Bernd

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  • 3. Juli 2009 - Nuît brésilienne

    Heute wurde es enger im Théâtre antique von Vienne - zum einen geht es aufs Wochenende zu, zum anderen kommt mit Gilberto Gil ein besonders beliebter Künstler auf die Bühne; das Theater ist ausverkauft.


    Trio Esperança

    In den 60er Jahren sangen die Brüder der Familie Correa als "Golden Boys" in Brasilien aktuelle internationale Hits auf portugiesisch. Ihre kleinen Schwestern Regina und Eva griffen sich den noch verbliebenen jüngsten Bruder und taten es ihnen als Trio Esperança nach. Statt Bruder Mario singt heute Mariza, seinerzeit noch ein Baby, mit ihren älteren Schwestern; als Pianist wirkt Evas Ehemann Gérard Gambus mit.

    Nach dem Lärm, den RH Factor am Abend zuvor veranstaltet hatte, wirkten die vier schon fast aufreizend leise gegenüber knapp 8000 Besuchern. Das Repertoire besteht zum großen Teil aus den alten Samba- und Bossa-Hits von Tom Jobim, Milton Nascimento, João Gilberto und anderen. Der Pianist bleibt meist nur Stichwortgeber, schweigt oft genug ganz und überläßt den drei Damen die Arbeit - aber Gambus ist (wenn ich das recht verstanden habe) maßgeblich verantwortlich für die Gesangssätze, in denen eine Musik, die auf grundsätzlich (mindestens) viertönigen Harmonien beruht, auf drei Stimmen verteilt wird, ohne daß da irgendetwas fehlen würde. Und: was für ein Vokal-Feuerwerk! Welch eine rhythmische Verve in einer Musik, die ich mir bisher ohne Perkussionsinstrumente, wenigstens aber Klavier und/oder Gitarre gar nicht vorstellen konnte! Dabei benutzen sie nicht einmal, wie andere Pop-Vokalensembles, das Mikrofon als perkussives "Effektgerät", sondern bleiben immer beim Gesang im engeren Sinne. Unnachahmlich, wie sie mit diesen Mitteln, ohne Klavierbegleitung, Baden Powells "Berimbau" bringen - ein Stück, in dem die Nachahmung des Klangs dieses Perkussionsinstrumentes Programm ist. Ganz anders die rhythmische Prägnanz in Jobims "Aguas do Março", wo sie - diesmal allerdings klavierbegleitet - eine Art Bossanova-Fugato singen. Und dann bringen sie noch einen eigenen Samba-Popsong, in dem sie über ihre Beatles-Begeisterung aus den 60ern erzählen, im Refrain das Lalala-Thema aus "Hey Jude" einbauen - und dieses vom Publikum singen lassen.

    Das Trio Esperança lebt in Paris und ist wohl in Frankreich immer mal wieder hie und da zu hören. Wer auch nur ein wenig Interesse an der Musica Popular Brasileira und die Gelegenheit zu einem Konzertbesuch hat, sollte das nicht versäumen! In Vienne waren 8.000 Besucher total begeistert!


    Gilberto Gil

    Nach fünfjährigem Engagement als brasilianischer Kulturminister meldet sich der ehemalige Exilant wieder auf der Bühne zurück. Gilberto Gil war in den späten sechzigern Mitbegründer einer neuen Stilrichtung der MPB, des Tropicalismo (der aber auch und insbesondere eine politisch-kulturelle Bewegung war; und insofern auch Grund für Gils Exil unter der damaligen Militärregierung). Im Tropicalismo ging es unter anderem darum, die in der brasilianischen Folklore gründende MPB um andere Elemente zu erweitern; bei Gilberto Gil waren das immer auch besonders afrikanische Elemente sowie solche der seinerzeit aktuellen Pop- und Rockmusik.

    Die Band kommt in Rock-Besetzung auf die Bühne: Gitarre, Keyboard, Bass und Schlagzeug sowie Gilberto selbst singend und Gitarre spielend. Sohn Bem Gil am Keyboard greift ab und zu auch mal zur Gitarre. Und wie x-beliebiger Pop-Rock klingt das ganze auch, mit ein paar Weltmusik-Anlehnungen in Afrika und Jamaika, irgendwelche etwas bessere Dudelmusik von der Stange. Erst als er nach einer halben Stunde auf seine Anfänge zurückgeht und seinen allerersten Song ("Louvação") sowie einen alten Titel von Dorival Caymmi spielt, kommt ein wenig Stimmung auf. Da es bald danach aber wieder so langweilig wie zu Beginn wird, ziehe ich mich, ziemlich enttäuscht, auch aus diesem Set vorzeitig zurück.


    Will Bernard Trio

    Im Club de Minuit wird es anschließend nochmal richtig laut: Will Bernard (Gitarre), Wil Blades (Hammond B3) und Simon Lott (Schlagzeug) spielen Funk, ein wenig im Stile der Slickaphonics (kennt die noch einer?), keine Möglichkeit zum off-beat auslassend, aber dennoch die gerade Straße des 4/4-Takt nie verlassend. Die Hammondorgel scheint aktuell eine Renaissance zu erleben; innerhalb der einen Woche in Vienne habe ich fünf B3-Spieler gehört. Für Funk scheint sie auf den ersten Blick wenig geeignet zu sein; aber Wil Blades kann wirklich umgehen mit dem Instrument und nutzt es nicht nur für ein paar Effekte. Darüberhinaus spielt er auch ein bauchbares Basspedal (wenn auch nur einfüßig). Als Star und Publikumsliebling der Band erweist sich allerdings Schlagzeuger Simon Lott, der die Stöcke grundsätzlich wie Besenstiele in der Faust hält und sein Instrument prügelt, wie ich das selten erlebt habe - "Darf man das? Wenn man es kann!" Es macht wirklich Spaß, ihm beim Spielen zuzuhören, vor allem, wenn er - bei aller Prügelei - gerne mal Töne oder ganze Takte ausläßt, um an einer möglichst unerwarteten Stelle wieder einzusetzen; seine Mitmusiker grinsen sich dann jedesmal einen :) Nach einer knappen Stunde ist Schluß, drei Zugaben erklatscht sich das Publikum noch, dann ist aber auch genug. Mehr von dieser mitreißenden, aber letztlich doch auch sehr eintönigen Musik könnte man wohl nur tanzenderweise ertragen. So war es ein spaßiger Abschluß dieses Festivaltages.

    Bernd

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  • 4. Juli 2009 - Nuît du Blues


    Jean-Jacques Milteau "Soul Conversation"

    Im erneut ausverkauften antiken Theater begann die Bluesnacht mit dem Pariser Mundharmonikavirtuose Jean-Jacques Milteau, der sich für sein aktuelles Projekt die beiden amerikanischen Soulsänger Ron Smyth und Michael Robinson in seine Band (mit Manu Galvin, Gitarre, Gesang; Gilles Michel, Bass; Eric Lafont, Schlagzeug) geholt hat. Das Ergebnis war ein Streifzug durch die soul- und bluesnahe Popmusik der letzten 40 Jahre, der auch einem wie mir gefallen konnte, der dem Pop nur noch selten was abgewinnen kann. Ich hätte nicht gedacht, daß mir sogar mal eine Michael-Jackson-Nummer gefallen würde. Dazischen ein paar schöne, zurückgelehnte Gitarrensoli und ab und zu das wirklich hochvirtuose Harmonica-Spiel des Bandleaders. In einer wunderschön souligen Version von "Long time gone" stellten die beiden Sänger gemeinsam mit Manu Galvin locker den dreistimmigen Gesang von Crosby, Stills & Nash in den Schatten. Am Ende dann endlich nochmal ein "richtiger" Blues mit einem langen Harmonica-Solo von JJ Milteau, teilweise unbegleitet - und dann löste er sich auch vom Mikro und kam ganz nach vorne an die Rampe. Klingt gut in so einem alten römischen Theater, wenn das Publikum still ist; und es war mucksmäuschenstill! Als zweite Zugabe gab's dann noch meine Signatur, zum Mitsingen!


    Joe Louis Walker "Witness to the blues"

    Nun sollte es allerdings richtig mit Blues weitergehen. Was Joe Louis Walker und seine Band dann allerdings auf die Bühne brachten, war nach meiner Einschätzung doch eher eine Peinlichkeit. Bassist und Schlagzeuger hätte ich ohne langes Üben sofort ersetzen können (ich würde sowas aber nicht mal auf der eigenen Terrasse vor Freunden vorführen), der Keyboarder ließ ab und zu eine Hammond dröhnen, was in Ordnung war, denn das hielt ihn vom Klavier weg, und das Gitarrenspiel des Bandleaders und seines zweiten Gitarristen war auch kein Anlaß zur Freude. So nach einer knappen Stunde hatte Joe Louis Walker sich dann soweit warm gespielt, daß er so ab dem 7. oder 8. Chorus auch mal ein anständiges Bluessolo auf der Gitarre zustande bekam. Ich bin wirklich von den Laienmusikern, mit denen zusammen ich gelegentlich Blues spiele, ganz erheblich Besseres gewohnt! Auch das endlose Mundharmonika-Solo, daß er am Ende spielte, wozu er dann die Bühne verließ und sich einmal quer durchs Publikum wühlte (mit Funk-Mikro) war angesichts von JJ Milteau zuvor ziemlich peinlich. Ich habe bis zum Ende durchgehalten, weil es ja noch die Aussicht auf was Besseres gab; aber leider machte


    Lucky Peterson

    gleich vom ersten Stück an einen solchen Höllenlärm, daß ich das Theater meiner Gesundheit zuliebe stante pede verlassen habe.


    Da es inzwischen aber schon ziemlich spät geworden war, habe ich vom Murat Öztürk Quartett im Club de minuit leider nur noch zwei Stücke mitbekommen. Der in Frankreich lebende türkische Pianist spielt in einer ungewöhnlichen Besetzung: neben Bassist und Schlagzeuger ist als vierter Musiker ein Sound Designer am Werk, der in Echtzeit Teile der live gespielten Musik sampelt und, teilweise elektronisch verändert, wieder zur live gespielten Musik hinzufügt. Die Solonummer des Bassisten Gautier Laurent wurde auf diese Weise zu einer Klang-Collage, in der der Musiker quasi zu dem von ihm selbst erspielten Hintergrund Solo spielen konnte. Ob das mehr ist als nur ein kurzlebiger Gag, mag ich anhand von nur zwei Nummern nicht beurteilen. Zunächst einmal hat mir das aber gut gefallen.

    Bernd

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  • Hallo Bernd,

    Toll, vielen Dank für die sehr gelungenen Konzertbeschreibungen! Ach, wirklich schon zu lange her, dass ich auf einem Jazzfestival war. Hank Jones habe ich vor vielen Jahren mit einer Triobesetzung gesehen und war auch absolut begeistert. Sein Spiel ist eine meiner ersten Jazzerfahrungen, weil meine Eltern die wunderbare Platte "Somethin' else" von Cannonball Adderly im Schrank hatten.

    Gruß, Frank

    Gruß, Frank

    Eigentlich bin ich ganz anders, aber ich komme so selten dazu.

  • Lieber Bernd,

    ich habe deine sehr gelungenen Konzertberichte auch gerne gelesen, insbesondere da ich beim Martial-Solal-Block nur zu gerne dabei gewesen wäre. Solal ist für mich einer der gößten Jazzpianisten überhaupt und das nicht nur aufgrund seiner kaum zu übertreffenden Technik. Gerade das Aufeinandertreffen von seiner modernen und Hank Jones "klassischem" Spielansatz hätte mich natürlich auch besonders interessiert. Solal hat eine große Fähigkeit, mit ganz unterschiedlichen Musikern zu spielen und aus ihnen das Beste herauszulocken. Er bleibt dabei immer sich selbst treu, spielt dabei totz seiner geradezu wahnwitzigen Technik aber andere nie an die Wand. Als Bassist hätte mich auch François Moutin Bassspiel :juhu: dabei schon nach Wien locken können, hätte es meine berufliche Verpflichtung gerade irgendwie erlaubt.

    Anne Paceo und Triphase habe ich leider noch nicht live gehört, aber die CD finde ich auch schon recht überzeugend. Insofern war hier dein Bericht für mich auch besonders hilfreich. Sie werde ich wohl auch weiter im Auge behalten.

    Roy Hargrove schätze ich eigentlich sehr. Wenn sein eigenes Spiel dich nicht ganz überzeugen konnte, war er wohl wirklich nicht in so guter Tagesform, denn er ist ein erstklassiger Trompeter, aber seine Big-Band Arrangements überzeugen mich auch sehr. Außerdem extrem mutig, heute eine Big Band zu unterhalten. Ich mag auch seine RH Factor Projekte. Mit dem meisten Hip Hop kann man mich auch jagen, aber was er macht, gehört wirklich zum Gelungensten bei den heute schon vielen Verbindungsversuchen von Jazz und Hip Hop/Rap.

    Ich teile auch voll deine Einschätzung zu Roberta Gambarini im Vergleich zu diesem modischen Popjazz-Gesäusel. Sie singt in einer ganz anderen Liga. Ihre eigenen CDs sind auch durchgehend gut bis sehr gut. Ich hörte sie mal live in Milano mit italienischen Musikern. Das war noch besser als auf ihren CDs.

    Wenn in Wien David Sanborns Spiel etwas steretyp ausfiel, war er vielleicht auch nicht so gut drauf. Denn er kann wirklich auch anders. Er hat ja nicht nur diesen unsäglichen Fahrstuhlmusikfusion verbrochen, dazwischen auch 2-3 eigene Cds gemacht, die ganz o.k., aber nicht wirklich wichtig sind, sondern er hat auch immer mal wieder z.B. in den späten Bands von Gil Evans gespielt. Dort hat er mir sehr gut gefallen. Dass er wirklich ernst zu nehmen ist, hat er aber auch bei Anthony Braxton gezeigt und das war wirklich Hardcore-Avantgarde - auch wenn Braxton selbst den Avantgarde-Begriff ablehnt.

    Gil Evans -Epigone Laurent Cugny fand ich hingegen auch immer etwas langweilig, nicht schlecht, was ich kenne, auch nicht zusammenhanglos, aber eben deutlich epigonal am älteren Gil Evans orientiert, ohne dessen Spannung und Klangfarbenreichtum erreichen zu können. Das französische Orchestre National de Jazz gehört eigentlich für mich zu den spannensten Big Bands der Gegenwart, aber die Aufnahmen mit Cugny als Leiter waren vergleichsweise deutlich schwächer, trotz erstklassiger Besetzungen und guter Soli.

    Steffano DiBattista höre dir mal live, in kleiner Besetzung mit eigener Band an, am besten bei einem Clubkonzert, solltest du irgendwann die Gelegenheit bekommen. DiBattista ist ein irreguter Saxophonist, der live seine Bands ungeheuer mitreist, auch live in kleinen Besetzungen häufig sehr frei und expressiv spielt, Standards und schöne eigene Stücke dann häufig nur als Startbahn zum Abheben nutzend. Ich habe ihn so in Italien und Berlin mehrmals erlebt. Es waren immer unvergessliche Sternstunden. Einmal in Berlin im A-Trane, mit seinem damaligen sehr guten italienisch-belgischen Quartett mit dem hervorragenden belgischen Pianisten Eric Legnini, stiegen dann, nach dem ersten Set noch Wynton Marsalis und einige seiner Musiker ein, die gerade in der Stadt waren. Da auch zahlreiche Berliner Musiker da waren, unter anderem Schlagzeuger Jerry Granelli, von denen viele auch noch einstiegen, entwickelte sich der Abend dann zu Riesen Jam-Session bis in die frühen Morgenstunden. Interessant war, wie Wynton Marsalis, sichtlich auch von DiBattista sehr beeindruckt, sich auf dessen modernere Spielhaltung einzustellen vermochte. Sympatisch auch, wie diese beiden Ausnahmemusiker Jüngere aus der Berliner Szene ermutigten und ihnen Raum ließen, sich auch solistisch zu versuchen - ganz im Kontrast zum großkotzigen und maßlos überschätzten Till Brönner, der es am Abend vorher, nach einem Workshop von Marsalis an der UdK auf einer anschließenden Session sich in völliger Selbstüberschätzung auf eine Trumpet-Battle mit Marsalis angelassen hatte, andere Berliner Bläser dafür regelrecht rausgedrängt hatte und dann von Wynton regelrecht abgeduscht wurde, bis er plötzlich verschwand. Wir waren alle gespannt, ob Till Brönner auch noch zur Revanche aufkreuzen würde, ließ er aber lieber bleiben. :D

    Die Blue Note -CDs DiBattistas sind etwas gefällig, harmlos, einiges auf europäischen Labeln aber sehr gut.

    Was du über Murat Öztürk schreibst, klingt für mich auch vielversprechend. Ich habe schon Gutes über ihn gehört, ihn aber leider noch nicht selbst hören können. Werde ich nach Möglichkeit nachholen.

    :wink: Matthias

  • Danke für die Resonanz, Frank und Matthias. Ein Bericht kommt aber noch - ich hoffe, ich schaffe es in den nächsten Tagen.

    Matthias, hat es einen Grund, warum Du die französische Stadt "Vienne" "Wien" nennst? Oder hast Du Dich geographisch verlaufen? :D

    Roy Hargrove schätze ich - nach dem, was ich vorher von ihm kannte, auch. Er hatte wohl einfach nicht seinen besten Tag. Daß David Sanborn mit Braxton zusammengespielt hat, war mir nicht bekannt; da hätte ich ihn wohl kaum gesucht! Stefano di Battista habe ich zum ersten Mal gehört, mein dort lebender Freund hat ihn schon mehrfach in einem Club in Bourgoin-Jallieu gehört und und ihn in ganz ähnlichen Tönen gelobt wie Du. Sein Aha-Erlebnis des diesjährigen Festivals war der armenische Pianist Tigran Hamasyan, von dem er annimmt (er hat Kontakt zum veranstaltenden Verein), daß er im nächsten Jahr im Théatre antique zu hören sein wird. Bei youtube kursieren ein paar Mitschnitte von Tigran, z.T. auch mit den Moutin-Brüdern. Der wäre für mich ein Grund mehr, auch nächstes Jahr nach Vienne zu fahren. Martial Solals Klavierspiel ist in der Tat außergewöhnlich, allerdings macht er es dem Hörer nicht immer leicht - kein Spiel zum Nebenbei-Hören. Die Kombination mit Hank Jones war einfach umwerfend! Das hat selbst eine Freundin regelrecht vom Hocker gerissen, die mit Jazz eher wenig anfangen kann und nur ihrem Mann zuliebe dabei war (sie hatte ihm drei Tage in Vienne zum runden Geburtstag geschenkt).

    Beste Grüße,

    Bernd

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  • Matthias, hat es einen Grund, warum Du die französische Stadt "Vienne" "Wien" nennst? Oder hast Du Dich geographisch verlaufen?

    ?( :hide: :mlol:

    Nicht alle Martial Solal -Aufnahmen fordern vom Hörer viel. Es gibt einige, auf denen er überwiegend Standards spielt, die durchaus leichter hörbar sind, bei denen man erst beim genaueren Zuhören merkt, was er da alles Ungewöhnliches macht.

    Von Tigran Hamasyan habe ich kürzlich bei einem Freund einen privaten Live-Mitschnitt eines Clubkonzerts gehört, - mit den Mouton-Brüdern. Ganz große Klasse! Von ihm erwarte ich mir auch noch so Einiges.

    :wink: Matthias

  • Jazz à Vienne 2010

    Nun hatte ich doch noch vergessen, über meinen letzten Konzerttag vom Festival 2009 zu berichten! Der Vollständigkeit halber sei also noch erwähnt, daß am 5. Juli Stanley Clarke, Marcus Miller und Victor Wooten als SMV einen auf Supergroup machten. Dabei kam eine Menge Show, aber leider recht wenig gute Musik heraus. Peinlich, wie Stanley Clarke den Kontrabaß wie ein Berserker beackerte und am Ende Pete Townsends "Windmühlenflügel" nachäffte (er hätte das Instrument eigentlich noch in die überdimensionierte Verstärkeranlage donnern sollen). Wunderschön allerdings Marcus Millers Ausflug auf der Baßklarinette! Zuvor hatte der argentinisch-neumexikanische blinde Sänger und Gitarrist Raùl Midon mit Liedern in bester amerikanischer Singer-Songwriter-Manier das Publikum für sich gewonnen, wozu er ausgezeichnete Instrumentalsolos auf der Gitarre, mit Chat-Gesang - und mit der Mund-Trompete (gekonnt und absolut verblüffend!) beisteuerte. Erwähnte ich schon, daß der Mann alleine auftrat? Auf jeden Fall ein weiterer Höhepunkt des Festivals!

    Fazit für mich: jede Menge guter und erstklassiger Jazz, bei den Hauptkonzerten auch vieles, daß allenfalls so gerade noch unter Jazz laufen kann, aber das meist in solcher Qualität, daß ich es sogar bei Popmusik aushalte - Ausnahmen bestätigen die Regel!

    Vorgestern wurde der Termin für die 30. Ausgabe des Festivals bekanntgegeben: 25.06. bis 09.07.2010. Der Weihnachts-Vorverkauf zu reduzierten Preisen ist eröffnet, und ich muß mir jetzt bald überlegen, ob ich es auch im nächsten Jahr wieder hinkriege (hoffentlich klappt's!). Ein paar Bilder gibt's auf der Websiteseit kurzem auch; das Programm wird wahrscheinlich erst im Laufe des Frühjahrs bekannt gegeben werden.

    Bernd

    Fluctuat nec mergitur

  • Jazz à Vienne 2010

    Zur Information:

    Das Programm zum 30. Jubiläum ist online. Soweit ich die Künstler kenne, reißt es mich nicht sooo sehr vom Hocker - was auch ganz gut ist, da ich dieses Jahr nicht werde hinfahren können :( Imerhin: Wayne Shorter und Brad Mehldau an einem Abend, das wär' schon was gewesen...

    Bernd

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