Interpretation und Instrumentalästhetik

  • ein großes Wort gelassen hingeschrieben...

    Ich habe neulich über Carlos Kleiber gelesen, dass er der Meinung war, manche Werke seien so groß und für den Interpreten so unerreichbar, dass sie besser unaufgeführt bleiben sollten. Ich kann ihn ein bisschen verstehen...

    Christian

  • Ich habe neulich über Carlos Kleiber gelesen, dass er der Meinung war, manche Werke seien so groß und für den Interpreten so unerreichbar, dass sie besser unaufgeführt bleiben sollten. Ich kann ihn ein bisschen verstehen...


    Das gilt aber nur, wenn man die erstrebte Perfektion als Maßstab nimmt.
    Doch sollte / könnte der Maßstab nicht auch sein, das Herz / die Seele zu erfreuen oder zu bewegen?
    Das kann auch funktionieren, wenn ein Stück Konserve mäßiger Qualität ist und noch dazu vielleicht als "Begleitmusik" bei eintönigen Verrichtungen
    Aber das Streben nach möglichst gut / perfekt ist natürlich sehr lobenswert und ja auch hörbar (und zwar gerade dann, wenn keine Anstrengung hörbar ist)
    - ist aber wohl auch OT
    jedenfalls habe ich diese Tage wieder den Sitkovetsky in der Streichorchester + Cembalo-Fassung versucht kritisch anzuhören, aber - für mich "passt" da einfach alles, auch wenn die Transkription nicht der original barocken Vorgehensweise entsprechen mag. Und es hat ja offensichtlich auch den Musikern von Violons du Roy gefallen, sonst hätten sie ihrem Chef ja nicht vorgeschlagen, das Stück zu spielen, woraufhin er zu Feder und Notenpapier griff und selber... (und das sicher auch ganz super, denn ich bin überzeugt, es gibt nicht nur "die" Lösung, und glaube, dass auch Bach die Dinge nicht so streng sieht)


    :wink1:

    amamusica

    Ein Blümchen an einem wilden Wegrain, die Schale einer kleinen Muschel am Strand, die Feder eines Vogels -
    all das verkündet dir, daß der Schöpfer ein Künstler ist. (Tertullian)

    ...und immer wieder schaffen es die Menschen auch, Künstler zu sein.
    Nicht zuletzt mit so mancher Musik. Die muß gar nicht immer "große Kunst" sein, um das Herz zu berühren...


  • Das gilt aber nur, wenn man die erstrebte Perfektion als Maßstab nimmt.
    Doch sollte / könnte der Maßstab nicht auch sein, das Herz / die Seele zu erfreuen oder zu bewegen?

    Der Maßstab ist weniger die Utopie einer "erstrebten Perfektion" als die ganz real vorliegende Partitur: Es kann einen fertig machen, wenn man, je länger und je intensiver man sich darum bemüht, ihr gerecht zu werden, umso mehr feststellt, dass das letzten Endes ganz einfach unmöglich ist. Niemand kann so gut spielen wie Bach, Mozart oder Schubert komponiert haben. Zum Glück zieht nicht jeder Carlos Kleibers konsequente Schlussfolgerung, sich deshalb besser zu Hause aufs Sofa zu legen...

    jedenfalls habe ich diese Tage wieder den Sitkovetsky in der Streichorchester + Cembalo-Fassung versucht kritisch anzuhören, aber - für mich "passt" da einfach alles, auch wenn die Transkription nicht der original barocken Vorgehensweise entsprechen mag. Und es hat ja offensichtlich auch den Musikern von Violons du Roy gefallen, sonst hätten sie ihrem Chef ja nicht vorgeschlagen, das Stück zu spielen, woraufhin er zu Feder und Notenpapier griff und selber... (und das sicher auch ganz super, denn ich bin überzeugt, es gibt nicht nur "die" Lösung, und glaube, dass auch Bach die Dinge nicht so streng sieht)

    Das glaube ich allerdings auch. Aber selbst wenn nicht: Die Musiker von Violons Du Roy spielen ja nicht für Bach sondern für ihr Publikum.

    Christian

  • Der Maßstab ist weniger die Utopie einer "erstrebten Perfektion" als die ganz real vorliegende Partitur: Es kann einen fertig machen, wenn man, je länger und je intensiver man sich darum bemüht, ihr gerecht zu werden, umso mehr feststellt, dass das letzten Endes ganz einfach unmöglich ist. Niemand kann so gut spielen wie Bach, Mozart oder Schubert komponiert haben. Zum Glück zieht nicht jeder Carlos Kleibers konsequente Schlussfolgerung, sich deshalb besser zu Hause aufs Sofa zu legen...

    Vielen Dank, Christian, dass ist eine gute Erklärung für mich. Denn das Problem, mich mit einer ganz real vorliegenden Partitur "herumzuschlagen" ;) um ihr gerecht zu werden, habe ich als zuhörender Laie ja nicht. "Niemand kann so gut spielen wie Bach, Mozart oder Schubert komponiert haben" - super ausgedrückt! (Dass es so ist, kann ich zwar nicht beurteilen, aber so wird es sein, wenn Du es sagst, als Fachmann) - jedenfalls sind zum Glück auch die "unperfekten" Ergebnisse schon sehr überzeugend und bewegend :rolleyes:
    Habe aber auch einen Beruf, wo ich eigentlich immer sehr gute Ergebnisse liefern sollte, und schaffe das leider nie, oft nur sehr so lala, und das ist für mich auch alles andere als erbaulich, "es kann einen fertig machen" kenne ich daher also gut, weil ich genau weiß, wie es hätte sein sollen, aber so wurde es leider nicht. :versteck1:


    Das glaube ich allerdings auch. Aber selbst wenn nicht: Die Musiker von Violons Du Roy spielen ja nicht für Bach sondern für ihr Publikum.

    Habe einmal die Klagen gelesen von Bach über die ihm (teilweise) zur Verfügung stehenden Musiker und Sänger - glaube, da gab es beim Musizieren so einige Diskrepanz zu dem, was Bach sich im Kopf vorgestellt hatte. Insofern glaube ich schon, dass auch ein Vorspiel für den gestrengen Bach ok enden würde ;) Nur jammerschade, dass man nicht mehr mit den Komponisten intensiv diskutieren kann über mögliche Umsetzungswege der Partitur, das wären sicher tolle Diskussionen

    Aber wahrscheinlich hat auch Bach selber über sich geklagt, dass er das, was er niedergeschrieben hat, er eigentlich noch viel besser hätte komponieren wollen ;)

    :wink1:

    amamusica

    Ein Blümchen an einem wilden Wegrain, die Schale einer kleinen Muschel am Strand, die Feder eines Vogels -
    all das verkündet dir, daß der Schöpfer ein Künstler ist. (Tertullian)

    ...und immer wieder schaffen es die Menschen auch, Künstler zu sein.
    Nicht zuletzt mit so mancher Musik. Die muß gar nicht immer "große Kunst" sein, um das Herz zu berühren...


  • Manchmal komme ich mir inzwischen beinahe blöd vor, wenn ich argumentiere wie ich es tue.

    Zum Schreiben habe ich gerade wirklich wenig Zeit, zum Lesen etwas mehr, habe also den Thread-Verlauf verfolgt.
    Mit viel Nachdenken und Potenzial zum Widerspruch.
    amamusica führt hier ihren Beruf an- Ähnliches zu tun, lag auch mir schon nahe.
    Was ich hier nun, knapp, auch angehe.

    Christian schrieb oben so überzeugend, dass ihm sein Instrument nie genüge, einem Werk zur Gänze zu dienen.
    Das kenne ich auch. Genauso wie amamusicas Gefühl, nie so gut zu sein wie man gern wollte.
    Im vergangenen Nachtdienst mit "meinen" Demenzkranken hatte ich vielerlei Gelegenheit, auf dieses Thema angemessen reagieren zu müssen.
    Ist das, was ich zur Verfügung habe, wirklich das Mittel der Wahl, jemand anderem zu begegnen?
    Mir steht mein halbwegs funktionierender Verstand zur Verfügung, alle Orientierung. Wie eben die Perfektion eines Steinway.

    Da begegnet mir dann aber ein alter Herr, der hier und jetzt lebt, das auch weiß, aber seine eigene Welt ihn beherrscht: sein Tag/Nachtrhythmus ist vertauscht.
    Der Versuch, ihn von meiner "flutschenden" Mechanik zu überzeugen, das zu tun, worum ich ihn bitte, "funktioniert" nicht- was eh ein unsäglicher Begriff ist im Zwischenmenschlichen- für ihn morgens schlafen zu gehen, wird nie gelingen, er macht die Nacht durch und hält alle anderen für die Narren.

    Wenn ich mich allerdings auf ihn einlasse, seinen Rhythmus akzeptiere, seine Gedankengänge und Mittel, diese auszudrücken, haben wir miteinander keinerlei Schwierigkeiten.
    Und wenn das jetzt auch sehr abstrahiert formuliert ist: mit meinem Steinway komme ich nicht an seine Welt heran, ich bin gezwungen, das Instrument zu lernen, das er spielt, denkt und fühlt.
    Genauso geht es mir fast immer beim Hören der Goldberg- Variationen: auf dem Steinway bin ich Christians Meinung: das genügt nicht.
    Auf dem Cembalo, mit seinen zwei Manualen, die gewünscht sind, fehlt nichts.
    Nicht meine Mittel zählen, ob sie nun besser oder "perfekter" sind, sondern die des Gegenübers: hier eben Bach, seine Komposition, seine innere Klangvorstellung.

    In meiner Arbeit bin ich täglich neu dazu geradezu gezwungen, flexibel zu reagieren auf immer neue Gegebenheiten von Lebensäußerungen der Menschen mir gegenüber. Anzunehmen, dass allein mein "perfektes", intaktes Mittel der passende Zugang sei, ist irreführend, kontraproduktiv und kommt meinem Gegenüber in keiner Weise nahe.

    Daraus könnte resultieren, dass ich meinem Gegenüber diene, indem ich seinen Wünschen entgegenkomme.
    Mit seinen Mitteln, die SEINER Vorstellung von Reichtum und Schönheit entsprechen.

    Was mich das kostet, ist oft die Einsicht, wie eitel ich bin und stolz, alles zu können und zu wissen- um tagtäglich zu erleben, wie wertlos all das ist. Wirklich sinnvoll und dem Verständnis dienend ist es, aus diesen unterschiedlichen Herangehensweisen eine gemeinsame Sprache zu entwickeln. All mein mechanisch perfekt repetierendes "Getriebe" erreicht weder meinen Patienten, noch dessen Sprache mich wenn ich ihm derart begegne, von deren Reichtum ich aber doch täglich lerne.

    Bitte entschuldigt, wenn ich hier so vieles durcheinander wirble, Zwischenmenschliches, Kommunikation, Musik- für mich ist das alles eines.
    Herzliche Grüße,
    Mike

    "Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst." Voltaire

  • Hallo Mike

    Und was sagt uns das jetzt? Ausser dass Du meinst genau zu wissen was Bach gefühlt hat und was seine Klangvorstellungen waren? Der Unterschied zu Deinem Patienten ist eben der, das Bach sich nicht mehr artikulieren kann. Er hat uns nur seine Partitur hinterlassen, anhand derer Interpreten veruchen sich dem Werk anzunähern. Und der Zuhörer entscheidet darüber ob er das für gelungen hält oder nicht. Da ist das Instrument nach meinem Dafürhalten gar nicht so wichtig. Die eine Gruppe der Zuhörer reflektiert die Musik sehr intensiv und sorgfältig, möglicherweise unter Zuhilfenahme der Noten. Andere lassen die Musik einfach auf sich wirken, und denken nicht groß darüber nach. Eben jeder auf seine Weise. Aber niemand weis was Bach wirklich wollte, weil er es uns nicht mehr mitteilen kann. Wir müssen also spekulieren, was er wohl gemeint haben könnte. Das kann man natürlich auch sehr sorgfältig mit musikologischem Sachverstand machen, und gelangt so zu einer Lösung, die man selber für richtig oder zutreffend hält. Aber das was die Interpreten uns liefern sind immer nur Angebote und Deutungen aus unterschiedlichen Blickwinkeln und mit unterschiedlichem Werkzeug.
    Nach Deiner Logik dürften Werke ausschliesslich mit dem Instrumentarium ihrer Erschaffungszeit aufgeführt werden. Wir müssten also bewusst auf Weiterentwicklungen von Instrumenten und den sich daraus ergebenden Vorteilen verzichten. Das erschiene mir indes absurd. Und die Tatsache, dass die ganz überwiegende Anzahl von Interpreten offenbar dem modernen Flügel bei den Goldbergvariationen den Vorzug geben, zeigt mir, dass sie dies als adäquates Werkzeug betrachten, um die Komposition bestmöglich zu präsentieren.
    Ich halte ein Postulat von entweder / oder für wenig hilfreich, und es würde die musikalische Landschaft öder machen.

    Eusebius

    "Sie haben mich gerade beleidigt. Nehmen Sie das eventuell zurück?" "Nein" "Na gut, dann ist der Fall für mich erledigt" (Groucho Marx)

  • Nicht meine Mittel zählen, ob sie nun besser oder "perfekter" sind, sondern die des Gegenübers: hier eben Bach, seine Komposition, seine innere Klangvorstellung.

    Und genau hier passt Dein Bild für mich nicht mehr: Für einen Interpreten geht es (zumindest nach meiner Vorstellung) nie allein um ein "Gegenüber" sondern immer auch um seine eigene Idee eines Werkes, die zwar auf der Partitur (dem "Gegenüber") basiert, aber bei weitem nicht allein darauf und nicht einmal notwendigerweise an erster Stelle. Das sollte bei der Betreuung von Demenz-Kranken möglichst anders sein... Und vor allem: Ein Werk wie die Goldberg-Variationen ist nie und nimmer mit einer einzigen Sicht, einer einzigen "inneren Klangvorstellung" zu fassen. Es ist wie gesagt besser komponiert, in der Summe seiner möglichen Aussagen größer als jede einzelne Interpretation, einschließlich einer, die sich auf Bachs mutmaßlichen Willen beruft. Um einem solchen Werk gerecht zu werden, gibt es daher meines Erachtens letzten Endes nur zwei Möglichkeiten: es (im Sinne von Carlos Kleiber) unaufgeführt zu lassen, oder es immer wieder, auf immer neue Art und mit immer neuen Mitteln aufzuführen. Interpretation hat gegenüber Komposition künstlerisch gesehen einen großen Nachteil: Sie muss sich festlegen. Ein Komponist kann viel mehr offen lassen, kann dadurch seine künstlerischen Aussagen universeller, zeitloser ausdrücken. Ich glaube, dass das der Grund dafür ist, dass Interpretationen in der Wahrnehmung viel schneller altern als Kompositionen. Wer aus - meines Erachtens falsch verstandener - "Werktreue" allein die Wiederherstellung einer vermeintlichen Ideal-Aufführung im Sinne des Komponisten anstrebt, tut dem Werk keinen Gefallen, weil er dessen Universalität und Zeitlosigkeit auf ein historisches Guckkasten-Format reduziert. Damit meine ich natürlich nicht, dass nicht auch mit historischen Instrumenten eine zeitgemäße Interpretation der Goldberg-Variationen möglich wäre, aber sie kann, wie jede andere Interpretation, immer nur ein Baustein sein, der einen Teil des Werkes darstellt. Die Diskussion "Was ist das Werk?" hatten wir an anderer Stelle schon einmal, und mir ist bei aller Problematik immer noch die Definition am liebsten, wonach das Werk die Summe seiner Interpretationsmöglichkeiten darstellt. Ein Werk, welches nur auf eine einzige (historische) Art überzeugen könnte, wäre so gesehen ziemlich arm. Und das sind die Goldberg-Variationen mit Sicherheit nicht.

    Christian

  • ist das, was ich zur Verfügung habe, wirklich das Mittel der Wahl, jemand anderem zu begegnen?

    nur kl. Verständnisfrage.
    geht das von dir ausgeführte etwa in die Richtung des folgenden, m.E. sehr wichtigen Gedankens von ralphb ?

    Unbestritten, dass das Klavier in vieler Hinsicht wesentliche Möglichkeiten hinzugewonnen hat, die Christian ja z. T. auch bereits erwähnt hat. Doch gerade weil diese Möglichkeiten so wesentlich sind (z. B. dynamisch), glaube ich mittlerweile besonders intensiv zu erleben, dass die jeweilige Musik mit diesen Möglichkeiten gar nicht gerechnet hat, also gar nicht dafür komponiert ist. Die Möglichkeiten, die allerdings verloren gegangen sind – auch, wenn es kein Nullsummenspiel ist und es rein quantitativ viel weniger sein mögen –, sind unglaublich wichtig, denn gerade wenn es nicht viele sind, muss man damit rechnen, dass der Komponist sie besonders intensiv und differenziert einkalkuliert hat.

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    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Aber niemand weis was Bach wirklich wollte, weil er es uns nicht mehr mitteilen kann. Wir müssen also spekulieren, was er wohl gemeint haben könnte. Das kann man natürlich auch sehr sorgfältig mit musikologischem Sachverstand machen, und gelangt so zu einer Lösung, die man selber für richtig oder zutreffend hält. Aber das was die Interpreten uns liefern sind immer nur Angebote und Deutungen aus unterschiedlichen Blickwinkeln und mit unterschiedlichem Werkzeug.

    Ich würde der HIP-Bewegung schon zugestehen, daß sie dem Grundimpuls nach nicht von einer Konstruktion von "historisch korrekt" ausgeht, sondern von reellen Erfahrungen mit den "alten" Instrumenten und vermeintlichen oder wirklichen Spielweisen, die der zur Sprache stehenden Musik adäquater schienen als das, was sich über die Traditionen des 19. Jh. entwickelt hatte. Selbstverständlich gibt es auch dazu widersprüchliche ebenso reelle Erfahrungen. In der (Selbst-)erklärung dieser Erfahrungen da sehe ich auch noch Defizite, die Farbigkeit des ungleicheren Register etc. will mich nicht so recht überzeugen. Wichtig und weiterführend finde ich den oben zitierten Gedanken von ralphb, daß vielleicht ein Verfügen über Möglichkeiten, mit denen die "alte" Komposition nicht oder jedenfalls nicht so rechnen konnte, ein besonderes Problem bedeutet und nicht umstandslos als Gewinn verbucht werden kann.

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    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Wichtig und weiterführend finde ich den oben zitierten Gedanken von ralphb, daß vielleicht ein Verfügen über Möglichkeiten, mit denen die "alte" Komposition nicht oder jedenfalls nicht so rechnen konnte, ein besonderes Problem bedeutet und nicht umstandslos als Gewinn verbucht werden kann.

    Erweiterte instrumentale Möglichkeiten sind meines Erachtens per se weder "umstandsloser Gewinn" noch "besonderes Problem" sondern eben das: erweiterte Möglichkeiten. Ob sie einen künstlerischen Nutzen bringen, entscheidet sich in der konkreten Realisierung, nicht in der ideologischen Vorabfestlegung. Ralph hat ja das Beispiel Froberger gebracht: Mit dessen Musik wüsste ich persönlich auf meinem Steinway auch nicht viel anzufangen, aber Grigory Sokolov hat vor Jahren eine ganze Konzerthälfte Froberger - für mich überwältigend gut - gespielt. Er konnte die erweiterten Möglichkeiten nutzen, ich kann es in dem Fall nicht. Also ist es richtig, dass er die Musik spielt und ich es bleiben lasse :) .

    Christian

  • Hallo Eusebius, lieber Christian,
    war mir klar, dass meine Antwort ebensolche Antworten zeitigen würde.

    Zunächst, lieber Eusebius: wenn ich mich richtiger ausgedrückt hätte, würdest Du sehen, dass ich eben genau das Gegenteil meine von Deinem "Vorwurf", ich wüsste, was Bach sagt- oder einer meiner Bewohner. Das ständig und stets zu hinterfragen ist so wichtig, wie mich ständig und stets zu hinterfragen. Gegenfrage: weißt Du es?
    Du hast, mit Verlaub, meine obige Antwort völlig missverstanden. In gutem Willem.

    Lieber Christian, erkläre Du mir bitte die "Idee" der Goldbergs.
    Ich finde ja noch immer, sie ist so gut komponiert, dass eine Realisation möglich ist.
    Ähnlich desen, was ich ausdrücken wollte oben, aber nicht zu sagen bereit war, also Interpretationsspielraum ließ.

    Wieder unzulänglich: ich lasse mich auf die Sprache meines Gegenüber ein, erforsche dessen Welt- und werde sie doch immer mit meiner ins Verhältnis setzen.
    Mitunter zu meinen Ungunsten!
    Damit meine ich auch nicht, dass nur eine "historische" Lesart überzeugen könne, sondern eher, dass sie es nicht kann.
    Ich propagiere gewiss nicht Armut, sondern Zweifel und Fragen: den Reichtum, alle Möglichkeiten auszuschöpfen um sagen zu können: Bachs Mittel, das Cembalo, kann's besser. Und manchmal: "Ich kann es nicht!" Trotz aller Versuche, Vergangenes ud Gegenwärtiges in Einklang zu bringen. Manchmal darf ich bereit sein, andere Mittel als nützlicher zu erkennen als die, die mir gegeben sind.
    Und so stimme ich Dir zu: allein den Vorstellungen des Komponisten zu genügen, genügt oft nicht. Siehe Gardiners Beethoven.
    Der Spagat ist es, das eine und das andere zu wollen und zu können.
    Hantai, mit seiner ersten Aufnahme:
    EQDA
    ist ja genau das gelungen: ein moderner Mensch spielt Musik, die zwar alt ist, aber auch heute etwas zu sagen hat. Er tut es auf einem alten Instrument, das auch heute noch etwas zu sagen hat. Der Interpret lebt jetzt! Das Instrument seit hunderten von Jahren und nicht von ungefähr.

    Eine für mich überzeugende "Interpretation" der Goldbergs, die man, so finde ich, gar nicht "interpretieren" muss, sondern einfach spielen, ist die, die heutige Hörerfahrungen berücksichtigt ohne die Vorstellungen Bachs zu leugnen.
    Ein Steinway kann nicht in Bachs Vorstellung gelegen haben, den gabs nicht zu seiner Zeit.
    Heute existiert er, also nutze man ihn.
    Eingedenk aber dessen, dass er nicht per se perfekt "der Übersetzer" ist für Musik, die für andere Instrumente gedacht ist.

    Nochmals: ich maße mir nicht an zu wissen, was Bach wollte, ich weiß nur, was er zur Verfügung hatte und dass innerhalb diesen Rahmens alles auszudrücken möglich ist.

    Das Wichtigste wohl: ich "liebe" kein Instrument. Sehr wohl aber die Komposition und bin mit mancher Wahl des Instruments im Zusammenhang glücklich oder auch nicht. So auch nicht mit der zweiten Aufnahme Hantais:

    Und nochmals: ich wollte keine Diskussion über die Instrumentenwahl: jeder soll tun, was in seinen Möglichkeiten steht.
    Tja, auch in denen, die Bach kannte, wünschte und selbst traktierte. Wer möchte wohl die Künste Bachs oder Goldbergs auf dem Cembalo infrage stellen?! Beide könnten mit dem heutigen Steinway so ihre liebe Not haben, aber genau darum geht es mir hier ja eben nicht.

    Herzliche Grüße,
    Mike

    "Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst." Voltaire

  • Lieber Christian, erkläre Du mir bitte die "Idee" der Goldbergs.

    "Die" Idee gibt es gar nicht, sondern eine gute Interpretation schafft es immer nur, eine von vielen möglichen "Ideen" zu realisieren. Insofern könnte ich Dir höchsten meine "Idee" erklären - indem ich sie Dir vorspielte.

    Ich finde ja noch immer, sie ist so gut komponiert, dass eine Realisation möglich ist.

    Und ich finde, dass sie so gut komponiert sind, dass viele Realisationen möglich sind. Gerade das macht ihre Größe aus. Und deshalb interessieren sich die Leute auch noch nach Jahrhunderten immer wieder neu für sie.

    Eine für mich überzeugende "Interpretation" der Goldbergs, die man, so finde ich, gar nicht "interpretieren" muss, sondern einfach spielen, ist die, die heutige Hörerfahrungen berücksichtigt ohne die Vorstellungen Bachs zu leugnen.

    Die Vorstellung, man könne eine Partitur "einfach spielen", ist falsch. Es gibt kein einziges Zeichen einer Partitur, welches ohne Deutung (also ein-deutig) realisiert werden könnte, von Phrasierungen, Dynamik, Artikulation, Charakterisierung usw. (also all dem, was nicht in der Partitur steht) ganz zu schweigen.

    Nochmals: ich maße mir nicht an zu wissen, was Bach wollte, ich weiß nur, was er zur Verfügung hatte und dass innerhalb diesen Rahmens alles auszudrücken möglich ist.

    Woher weißt Du, dass innerhalb dieses Rahmens "alles auszudrücken möglich ist"? Ich weiß das nicht. Ich glaube es auch nicht. Dafür bin ich außerhalb dieses Rahmens schon zu oft überrascht und überzeugt worden. Ich hoffe, dass beides auch in Zukunft noch geschieht.

    Christian

  • Nicht meine Mittel zählen, ob sie nun besser oder "perfekter" sind, sondern die des Gegenübers: hier eben Bach, seine Komposition, seine innere Klangvorstellung.

    Gut möglich dass ich Dich misverstanden habe. Deine letzten Einlassungen legen das auch nahe. Aber die zitierte Äusserung erschien mir unmissverständlich. Die legt zumindest nahe, dass Du Bachs innere Klangvorstellung zu kennen meinst, und sie deswegen mit den Mitteln seiner Zeit realisiert haben möchtest.

    Eusebius

    "Sie haben mich gerade beleidigt. Nehmen Sie das eventuell zurück?" "Nein" "Na gut, dann ist der Fall für mich erledigt" (Groucho Marx)

  • Stichwort Nullsummenspiel:

    ich wüßt ja gern, wie es eigentlich genau mit dem Abklingverhalten bei Cembalo/Hammerklavier/mod. Flügel bestellt ist, ganz physikalisch-akustisch betrachtet.
    Daß ein Cembaloton "eher weg" sein kann wie der Ton auf einem mod. Flügel dürfte wohl so sein. Aber wie stehts z.B. mit der Steilheit bzw. Evolution der Abklingkurve?
    Hat jemand infos dazu?

    ---
    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

    • Ich habe bei Barockmusik dieses "Problem" des richtigen Instruments nie verstanden. Die Komponisten selbst gaben doch transkribiert wie verrückt. In diesem Sinne war das Beispiel BWV 1006 sehr aufschlussreich. Was müsste man erst bei Händel sagen! Ich muss allerdings zugeben, dass der Klang des Cembalos für mich eine perkussive Qualität hat, die der moderne Flügel nicht hat (mechanisch ist es freilich genau umgekehrt). Händel oder Rameau machen mir am Klavier keinen Spaß, bei Bach oder Scarlatti sieht es hingegen anders aus.

    Im Zweifelsfall immer Haydn.

  • bei Bach oder Scarlatti sieht es hingegen anders aus.

    Einige der Sonaten von Domenico Scarlatti eignen sich tatsächlich nicht für einen modernen Flügel, da dort Klangeffekte (z.B. Gitarren) enthalten sind, die nur auf einem Cembalo entsprechend zur Geltung zu bringen sind. Aber die meisten Sonaten klingen für mich auf einem Flügel einfach besser. Aber das müssen wir jetzt nicht vertiefen, war nur so eine sponate Regung ..

    Eusebius

    "Sie haben mich gerade beleidigt. Nehmen Sie das eventuell zurück?" "Nein" "Na gut, dann ist der Fall für mich erledigt" (Groucho Marx)

  • Ich habe bei Barockmusik dieses "Problem" des richtigen Instruments nie verstanden. Die Komponisten selbst gaben doch transkribiert wie verrückt. In diesem Sinne war das Beispiel BWV 1006 sehr aufschlussreich. Was müsste man erst bei Händel sagen! Ich muss allerdings zugeben, dass der Klang des Cembalos für mich eine perkussive Qualität hat, die der moderne Flügel nicht hat (mechanisch ist es freilich genau umgekehrt).

    Als ob es "den Klang des Cembalos" gäbe. ;)

    Meint Ihr ein flämisches Cembalo oder ein englisches oder vielleicht gar ein italienisches? Darf es auch ein Spinett oder ein Virginal sein oder wäre das verboten - etwa für Bachs Italienisches Konzert?

    Und soll das Cembalo eher aus dem späten 15. oder aus dem frühen 18. Jahrhundert stammen?

    Oder gilt sogar Wanda Landowskas Pleyel-Pseudocembalo als Cembalo?

    Gruß
    MB

    :wink1:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Als ob es "den Klang des Cembalos" gäbe. ;)
    Meint Ihr ein flämisches Cembalo oder ein englisches oder vielleicht gar ein italienisches?

    aber man darf schon sagen, daß Hunde bellen und Katzen miauen, obwohl es doch "Das Bellen" und "Das Miauen" gar nicht gibt? ;)

    ---
    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • aber man darf schon sagen, daß Hunde bellen und Katzen miauen, obwohl es doch "Das Bellen" und "Das Miauen" gar nicht gibt?

    "Dürfen" sowieso. - Zum Aspekt "etwas Sinnvolles sagen": Der Satz "Das Cembalo klingt" ist ja ebenso sinnvoll wie "der Hund bellt". ;)

    Gruß
    MB

    :wink1:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Zum Thema Transkription:

    Die Kunst der Transkription

    Zitat von Yukon

    Zum Thema "Goldbergvariationen" habe ich die Einspielung Wilhelm Kempffs hoch gelobt unter Hinweis darauf, dass sich Kempff souverän über Albert Schweitzers Auffassung Bach sei mehr Organist als Klavierist, seine Musik eher architektonisch als sentimantal, hinweggesetzt habe, dadurch eine höchst lyrische Einspielung zustande gebracht hat. Wenn ich voraussetze, dass Schweitzers Auffassung richtig sei, dass zudem Bach weniger in Tönen als vielmehr in "architektonischen Zusammenhängen" musikalisch gedacht hat, dass ferner seine Beziehung zur Instrumentierung eher indiffernet gewesen ist, seine Notentexte deshalb eher, sagen wir mal neutral, d.h. auch wenig sentimental (wobei ich den Begriff sentimental in der Musik keineswegs geringschätze) sind, so könnte man doch daraus schlußfolgern, das gerade diese Herangehensweise an die Musik Werke hervorzurufen vermag, die für eine Transkription ganz besonders geeignet sind. Mir persönlich ist jedenfalls kein anderer Komponist bekannt dessen Werke so häufig Anlaß zu qualitätsvollen Bearbeitungen gegeben haben (qualitätsvoll in dem Sinn, dass die Bearbeitung eben nicht wie eine solche klingt, der "Geist" des Werkes vielmehr unangetastet bleibt).


    Vor diesem Hintergrund könnte ich mir z.B. nicht vorstellen, dass ein Werk Chopins sinnvoll transkripierbar wäre, weil hier die Verzahnung zwischen Komposition bzw. Notentext und Instrument viel zu eng wäre.

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