Bach, Johann Sebastian: Dritter Teil der Klavierübung

  • Bach, Johann Sebastian: Dritter Teil der Klavierübung

    Nur wenige seiner Orgelwerke ließ Bach drucken: die „Sechs Choräle von verschiedener Art“ (sog. „Schübler-Choräle“, BWV 645-650, erschienen 1748/49), die „Canonischen Variationen über ein Weihnachtslied“ (Vom Himmel hoch, BWV 769, erschienen 1749), und eben den „Dritten Theil der Clavier-Übung“ (erschienen 1739).

    Hier der originale Titel des Drucks:


    Dritter Theil
    der
    Clavier Übung
    bestehend
    in
    verschiedenen Vorspielen
    über die
    Catechismus- und andere Gesaenge,
    vor die Orgel:
    Denen Liebhabern, und besonders denen Kennern
    von dergleichen Arbeit, zur Gemüths Ergezung
    verfertiget von
    Johann Sebastian Bach,
    Koenigl. Pohlnischen, und Churfürstl. Saechs.
    Hoff-Compositeur Capellmeister, und
    Directore Chori Musici in Leipzig.
    In Verlegung des Authoris

    Die Reihenfolge der einzelnen Sätze, wie sie im Druck erschienen sind, ist die folgende:

    Praeludium (Es-Dur, ¢, „pro Organo pleno“, BWV 552/1)

    Kyrie, Gott Vater in Ewigkeit (g-phrygisch, ¢, „Canto fermo in Soprano, a 2 Clav. e Pedale“, BWV 669)
    Christe, aller Welt Trost (g-phrygisch mit Schluss in C-Dur, ¢, „Canto fermo in Tenore, a 2 Clav. e Ped.“, BWV 670)
    Kyrie, Gott Heiliger Geist (g-phrygisch, ¢, „à 5 voci, Canto fermo in Basso, Cum Organo pleno”, BWV 671)

    Kyrie, Gott Vater in Ewigkeit (e-phrygisch, 3/4, G-Dur; „Alio modo. Manualiter“, BWV 672)
    Christe, aller Welt Trost (e-phrygisch, 6/8, „Manualiter“, BWV 673)
    Kyrie, Gott Heiliger Geist (e-phrygisch, 9/8, „manualiter“, BWV 674)

    Allein Gott in der Höh' sei Ehr' (F-Dur, 3/4, „Canto fermo in Alto. A 3 voci“, BWV 675)
    Allein Gott in der Höh' sei Ehr' (G-Dur, 6/8 „a 2 Clav. e Pedale“, BWV 676)
    Fughetta super: Allein Gott in der Höh' sei Ehr' (A-Dur, c, „Manualiter“, BWV 677)

    Dies sind die heil'gen zehn Gebot' (G-Dur, 6/4, „Canto fermo in Canone, a 2 Clav. e Pedale“, BWV 678)
    Fughetta super: Dies sind die heil'gen zehn Gebot' (G-Dur, 12/8, „Manualiter“, BWV 679

    Wir glauben all' an einen Gott (d-dorisch, 2/4, „In Organo pleno“, BWV 680)
    Fughetta super: Wir glauben all' an einen Gott (e-dorisch, „Manualiter“, BWV 681)

    Vater unser im Himmelreich (e-dorisch, 3/4, „a 2 Clav. e Pedale“, BWV 682)
    Vater unser im Himmelreich (d dorisch, 6/8 „Alio modo. Manualiter“, BWV 683)

    Christ, unser Herr, zum Jordan kam (c-dorisch mit Schluss in G-Dur, c, „a 2 Clav. E Pedale. Canto fermo in Pedale“, BWV 684)
    Christ unser Herr zum Jordan kam (d-dorisch mit Schluss in A-Dur, ¾, „Alio modo. Manualiter“, BWV 685)

    Aus tiefer Not schrei' ich zu dir (e-phrygisch, ¢, „a 6 voci. Pro Organo pleno (Manuale e Pedale doppio)“, BWV 686)
    Aus tiefer Not schrei' ich zu dir (fis-phrygisch, 2/4, „Alio modo. Manualiter“, BWV 687)

    Jesus Christus unser Heiland, der von uns den Gotteszorn wandt (d-Moll, „a 2 Clav. e Pedale. Canto fermo in Pedale“, BWV 688)
    Fuga super: Jesus Christus unser Heiland, der von uns den Gotteszorn wandt (e-Moll, „sub communione“, BWV 689)

    Duetto (e-Moll, 3/8, BWV 802)
    Duetto (F-Dur, 2/4, BWV 803)
    Duetto (G-Dur, 12/8, BWV 804)
    Duetto (a-Moll, c, BWV 805)

    Fuga (Es-Dur, ¢ - 6/4 – 12/8, „a 5 voci“, BWV 552/2)

    „Klavier“-Übung?

    War die diese Sammlung, die offensichtlich zumindest überwiegend für die Orgel bestimmt war, überhaupt eine „Klavier“-Übung? Ja. Zum einen war „Clavier“ ein Sammelbegriff für Tasteninstrumente aller Art und bezeichnete auch im engeren Sinne die Tastatur, wie man an den obigen Stückbezeichnungen sieht (à 2 Clav. e Pedale). Zum anderen waren von den 27 Stücken immerhin 15 manualiter ausführbar, d. h., sie konnten ohne weiteres auf einem Cembalo gespielt werden.

    Orgelmesse?

    Gelangt dieser Zyklus ganz oder in Teilen zur Aufführung, so wird gerne der Untertitel „Orgelmesse“ hinzugegeben; dieser findet sich auch bei manchen Einspielungen. Dies geht auf Albert Schweizer zurück und hat durchaus etwas für sich. Bach kannte Orgelmessen französischer Komponisten. Das einleitende Präludium und die abschließende Fuge können problemlos als Vor- und Nachspiel eines Gottesdienstes verwendet werden, Kyrie, Gloria und das Glaubenslied haben ihren natürlichen liturgischen Ort, die Fuge über „Jesus Christus, unser Heiland“ ist sogar explizit als Musik „sub communione“ gekennzeichnet.

    Dennoch geht diese Bezeichnung m. E. fehl. Zum einen fehlen typische Bestandteile des Gottesdienstes (wo ist bspw. das Sanctus?), zum anderen hat sich Bach eben nicht am liturgischen Formular von Leipzig orientiert, sondern am Großen und Kleinen Katechismus Dr. Martin Luthers. Dieser beschäftigt sich nach einer Einleitung mit folgenden Themen: (1) Die Zehn Gebote Gottes (2) Die Hauptartikel des Glaubens (3) Das Vaterunser (4) Die Taufe (5) Das Abendmahl (6) Beichte. Diesen sechs Themen können die Luther(!)-Lieder „Dies sind die heilgen Zehn Gebot“, „Wir glauben all an einen Gott“, „Vater unser im Himmelreich“, „Christ, unser Herr, zum Jordan kam“, „Jesus Christus, unser Heiland, der von uns den Gotteszorn wandt“ und „Aus tiefer Not“ völlig zwanglos zugeordnet werden. Als "Catechismus-Gesaenge" sind diese Choräle auch im Titel des Werks bezeichnet.

    Wenn überhaupt, so könnte man sagen, dass Bach einen musikalischen Katechismus komponierte – wobei dies wegen der anderen Stücke genauso irreführend wäre. Der Zyklus ist wohl eher nach abstrakt-musikalischen als nach konkret-liturgisch/theologischen Prinzipien geordnet, siehe dazu weiter unten.

    In jüngerer Zeit wurde in Frage gestellt, ob diese Musik tatsächlich für den gottesdienstlichen Einsatz vorgesehen war. Dagegen spricht nämlich alleine die zeitliche Ausdehnung manches Choralvorspiels. Aber auch die gewählten Tonarten lassen es wenig plausibel erscheinen, dass die Sätze zur Einleitung des Gemeindegesangs oder zur alternatim-Praxis dienen sollten. Denn dafür sind die sich ergebenden Tonumfänge schlicht zu hoch, erst recht auf einer im Chorton, d. h. ca. einen Ton höher gestimmten Orgel.

    Ordnungsprinzipien und Zahlensymbolik

    Mit dem Verweis auf Luthers Katechismus ist sogleich ein erster Hinweis auf die zugrunde liegenden Ordnungsprinzipien des Zyklus‘ gegeben. Die ersten neun Choralvorspiele stellen Material für eine „Missa brevis“ dar, die folgenden Bearbeitungen widmen sich den Katechismus-Liedern Luthers. Dabei ist jeder Choral doppelt bearbeitet (Ausnahme: „Allein Gott in der Höh sei Ehr“ dreimal), einmal in einem längeren, einmal in einem eher kurzen Vorspiel. Dafür sind die Bezeichnungen „große Bearbeitung“ und „kleine Bearbeitung“ üblich geworden. Diese sind auch auf Konzertplakaten zu finden. Denn nur selten wird der Zyklus komplett aufgeführt; die Standardversion ist wohl: Präludium Es-Dur – „große Bearbeitungen“ – Fuge Es-Dur. Dann wird normalerweise

    J. S. Bach: Dritter Teil der Klavierübung
    (große Bearbeitungen)

    plakatiert bzw. annonciert. Analog „kleine Bearbeitungen und Duette“ usw.

    Die "großen Bearbeitungen" sind stets mit einer Pedalstimme komponiert, die "kleinen Bearbeitungen" manualiter. Bei den drei Vorspielen zu "Allein Gott in der Höh sei Ehr'" ist die mittlere mit Pedal gesetzt, die erste und die dritte verzichten darauf.

    Eine weiterer Unterschied: Die "großen Bearbeitungen" führen fast alle den Cantus firmus vollständig durch, d. h. es erklingen alle Zeilen (Ausnahme: "Wir glauben all an einen Gott"); die "kleinen Bearbeitungen" verwenden normalerweise nur die erste Choralzeile (Ausnahmen: "Vater unser im Himmelreich" und "Aus tiefer Not", in beiden erklingt der vollständige Choral).

    Die Zahl drei beherrscht den Zyklus im Großen wie im Kleinen: Insgesamt sind es 27=3x3x3 Stücke. Es gibt 2x3 Kyrie-Bearbeitungen und 3 Gloria-Bearbeitungen, damit besteht für eine mögliche „Missa brevis“ eine Auswahl aus 3x3 Sätzen. Präludium und Fuge haben jeweils drei Themen und drei Vorzeichen.

    Sehr interessant, zur inneren Ordnung wie zur Zahlensymbolik und überhaupt zum ganzen Werk, fand ich diesen Aufsatz:
    http://www.sim.spk-berlin.de/uploads/03-for…-Jb_1994-11.pdf

    Darin findet sich bspw. die Feststellung, dass die Grundtöne der vier Duette den nacheinander stehenden Choralvorspielen „Kyrie, Gott Heiliger Geist“ (manualiter) sowie den Gloria-Bearbeitungen folgen. Desweiteren die Feststellung, dass der erste Teil der Klavierübung von den Partiten B-Dur und e-Moll gerahmt wird , d. h. von einer Tritonusbeziehung. Eine solche Beziehung findet sich auch im zweiten Teil der Klavierübung (Italienisches Konzert F-Dur/Ouvertüre h-Moll). Im dritten Teil findet sich eine solche Beziehung zwischen Präludium Es-Dur und dem Ende der Missa brevis (A-Dur) einerseits und zwischen dem letzten Duett (a-Moll) und der abschließenden Fuge Es-Dur andererseits.

    Die Tritonus-Beziehungen in Übersicht:

    KÜ I: E - B
    KÜ II: F – H
    KÜ III: Es – A

    Das Symmetriezentrum dieser drei Tritonusintervalle ist übrigens der Ton G, der Grundton der Goldbergvariationen, des vierten Teils der Klavierübung …

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Die einzelnen Stücke (I)

    Präludium Es-Dur

    Das Präludium und die Fuge werden bekanntlich gerne auch unabhängig vom Zyklus als Werkpaar aufgeführt. Es gibt auch nicht so viele Orgelwerke Bachs mit einer vergleichbaren Schlusswirkung, wie sie Hörgewohnheiten entgegen kommt, die durch Musik des 19. Jhds. geprägt sein mögen. Da ließen sich vielleicht nur die Passacaglia sowie Präludium und Fuge C-Dur (BWV 547) nennen, vielleicht noch Toccata und Fuge F-Dur.

    Das Präludium steht in einer Concerto-grosso-Form. Das Ritornell mit dem Hauptthema erscheint nacheinander in den Tonarten Es-Dur, B-Dur, As-Dur und wieder Es-Dur. Der Modulationsplan (Tonika – Dominante – Subdominante – Tonika) ist also derselbe wie in anderen späten Präludien Bachs, so c-Moll (BWV 546), C-Dur (BWV 547), e-Moll (BWV 548) und h-Moll (BWV 544), nur beim e-Moll-Werk gibt es einen weiteren Durchlauf in der Tonikaparallele.

    Die Couplets werden von zwei anderen Themen bestimmt. Eines, also das zweite Thema, erscheint sogleich nach dem ersten Ritornell mit in den Noten vorgeschriebenen Echo-Effekten („piano“ – „forte“). Das andere, also das dritte Thema, erscheint nach dem zweiten Ritornell und beginnt mit einer hinabschießenden Tonleiter.

    Seit jeher werden die drei Themen des Präludiums mit der Trinität identifiziert. Das Hauptthema steht dabei für Gott Vater. Es ist authentisch in seinem Tonumfang von es‘ bis es“ (f“) und klingt majestätisch mit der Anmutung einer französischen Ouvertüre und ihrem charakteristischen punktierten Rhythmus. Die auskomponierte fallende Quinte b (mit Mordent) – as – g – f- es des Themenbeginn taucht ähnlich auch in den beiden anderen Themen auf – Vertonung der Einheit der Trinität.

    Das zweite Thema ist plagal mit einem Umfang von g bis c“, d. h. es hat den Grundton es‘ genau in der Mitte. Im Gegensatz zum ersten Thema, das sich nach der fallenden Quinte mächtig in die Oktave erhebt, ist es eher abwärts orientiert – Gottes Sohn, der sich zu den Menschen hernieder neigt. Die nach dem Echo-Beginn stehende Sequenz stellt ebenfalls einen stufenweisen Abstieg dar. Danach gibt es überraschende Ausweichungen in Moll-Bezirke, die die Passion andeuten könnten. (Natürlich ist das alles hochspekulativ, aber es widerspricht nicht der Zuordnung der drei Themen zur Trinität.) Die Anfangsfigur von drei bzw. vier stufenweise absteigenden Tönen scheint von Initialmotiv des ersten Themas abgeleitet.

    Das dritte Thema stellt den Heiligen Geist dar, der von „oben“ kommt und „unten“ in Bewegung versetzt.


    Große Kyrie-Bearbeitungen

    - Kyrie, Gott Vater in Ewigkeit
    - Christe, aller Welt Trost
    - Kyrie, Gott heiliger Geist

    Schon vom optischen Eindruck des Notenbildes sehen alle drei „großen“ Kyrie-Bearbeitungen aus wie ein Satz aus der Zeit der klassischen Vokalpolyphonie. Stylo antico. Der Cantus firmus steht im ersten Kyrie in der Oberstimme, im zweiten im Tenor, und im dritten mächtig im Bass (Organo pleno, sicher mit starken Zungen im Pedal). Jedes Mal wird er klanglich hervorgehoben, sei es durch ein gesondertes Manual oder die Lage im Pedal. In jedem Stück wird der Cantus firmus zeilenweise durchgeführt, d. h. zwischen den einzelnen Zeilen gibt es Zwischenspiele der anderen Stimmen.

    In allen drei Bearbeitungen ist die Motivik der Begleitstimmen vom Kopfmotiv des jeweiligen Cantus firmus abgeleitet. In der ersten Bearbeitung sind es drei aufsteigende Töne, die nach einer Wechselnote noch eine weitere Stufe nach oben erklimmen. In der zweiten ist es g‘-f‘-b‘ gefolgt von einem weiteren Aufstieg zum es“. In der dritten wird das Anfangsmotiv d‘-es‘-f‘ sogleich mit seiner Umkehrung kombiniert. In der dritten Bearbeitung gibt es am Ende (Text „eleison“) eine stark chromatische Stelle, sehr ausdrucksvoll, sozusagen als Dornenkrone der drei „großen“ Kyrie-Bearbeitungen.


    Kleine Kyrie-Bearbeitungen

    - Kyrie, Gott Vater in Ewigkeit
    - Christe, aller Welt Trost
    - Kyrie, Gott heiliger Geist

    Die „kleinen“ Kyrie-Bearbeitungen stehen formal einer Choralfughette nahe. Bei der ersten Bearbeitung verwendete Bach nur das Kopfmotiv, die ersten drei Töne g‘-a‘-h‘, imitatorisch. Bei der zweiten ist es die ersten Choralzeile e‘-d‘-g‘-a‘-h‘-c“(-g‘-)c“. Die dritte bringt das Kopfmotiv des Chorals (h‘-c“-d“) in figurativer Umspielung: h‘-a‘-h‘-c“-h‘-c“-d“.


    Gloria-Bearbeitungen

    Dreimal ist der Choral "Allein Gott in der Höh sei Ehr" bearbeitet.

    Die erste Bearbeitung ist ein dreistimmiger manualiter-Satz. Der Cantus firmus liegt unverziert im Alt, die Ober- und die Unterstimme beziehen ihre Motivik aus einer figurativen Umspielung der ersten Choralzeile.

    Die zweite Bearbeitung ist die eigentliche „große“ unter den Gloria-Sätzen. Es ist ein konzertantes Trio im Stile der sechs Triosonaten. Der Cantus firmus erscheint immer wieder zeilenweise in den beiden Oberstimmen, d. h. die Oberstimmen wechseln zwischen konzertant-imitatorischem Spiel und dem Cantus firmus. Abermals ist die Motivik des konzertanten Spiels von der ersten Zeile der Choralmelodie abgeleitet.

    Bei der Fughette muss man sich ein wenig anstrengen, um die erste Choralzeile im Thema zu erkennen: a‘-cis“-a‘-fis‘-d“-e“-h‘-cis“-gis‘-a‘-h‘-cis“-d“-cis“ … man findet nach einigen Sechzehnteln auch noch h‘ und cis“, womit die Zeile komplett wäre. Ein solch duftiger Satz dürfte schwierig im Bachschen Orgeloeuvre zu finden sein, am ehesten noch in den Triosonaten (z. B. Es-Dur, 1. Satz). Einen späten Nachfolger könnte der Satz im Schumanns 5. Fuge über B-A-C-H (aus op. 60) gefunden haben.

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Die einzelnen Stücke (II)

    Dies sind die heilgen zehn Gebot

    Die große Bearbeitung ist fünfstimmig gesetzt. Zwei Oberstimmen konzertieren miteinander, mal imitatorisch, mal in Parallelen. Das Pedal liefert das Bassfundament und ergänzt die beiden oberen Stimmen zum Triosatz. Dazu treten zeilenweise zwei Mittelstimmen, die den Cantus firmus unverziert in Kanon der Oktave spielen; mal setzt zuerst die obere, mal zuerst die untere ein.

    Der Kanon ist bei Bach die musikalische Form für „Gebot, Gesetz“ schlechthin. In ähnlicher Weise ist dieselbe Choralmelodie im Eingangschor der Kantate Nr. 77 im Kanon zwischen Trompete und Bass gesetzt. Durch die kanonische Behandlung werden die fünf Choralzeilen übrigens zu zehn, entsprechend den zehn Geboten.

    Die Motivik der konzertierenden Oberstimmen ist sehr vielgestaltig und bietet z. B. die ruhige Viertelbewegung des Anfangs, die bald in Achtel übergeht und dann auch flüssige Sechzehntel. Spannend sind die Stellen, wo ein chromatisches Seufzermotiv erscheint – stellvertretend für das „Kyrieleis“ am Ende jeder Strophe? Für die Last, die die armen Sünderlein auf Erden mit der Einhaltung der zehn Gebote haben? Am Ende übernimmt die obere Kanonstimme gar diese Chromatik.

    Die kleine Bearbeitung ist eine Fughette über die stark figurierte erste Choralzeile. Deren Töne wurden zu folgendem Thema: g-g-g-g-g-g-g-g-h-g-g-d‘-g-g-f‘-g-g-a-h-c. Bis dahin ist dieses Thema zehn Viertel lang und hat einen Umfang von zehn Halbtönen … abermals sehr spekulativ.


    Wir glauben all an einen Gott

    Die große Bearbeitung ist die einzige unter den „großen“, die nicht den ganzen Cantus firmus durchführt – vielleicht wegen seiner Länge. Stattdessen komponierte Bach eine manualiter gehaltene Fuge über die erste Choralzeile, zu der ein ostinates Thema im Pedal tritt. Dieses erscheint übrigens streng systematisch mit folgenden Anfangstönen: d/a, f/c, g/d, also jeweils im Quintabstand. Ob die drei Paare den drei Artikeln des Glaubensbekenntnisses entsprechen mögen?

    Überraschend erscheint die letzte Choralzeile dann doch noch fast unverziert im Tenor: „ … / es steht alles in seiner Macht.“ Zusammenfassung des Credo?

    Die kleine Bearbeitung ist eine Fughette über die erste Choralzeile im Rhythmus und Charakter einer französischen Ouvertüre.


    Vater unser im Himmelreich

    Die große Bearbeitung ist eine der eigentümlichsten Kompositionen dieses Zyklus‘. Die Faktur ist schnell beschrieben: Abermals ist der Cantus firmus als Kanon der Oktave gesetzt. Rechte und linke Hand spielen jeweils zwei Stimmen, und zwar eine frei konzertierende und eine Kanonstimme. Dazu hat das Pedal die Bassstimme.

    Eigentümlich ist der häufig auftretende lombardische Rhythmus (kurz-lang, also das Gegenteil einer Punktierung). Eigentümlich sind auch die häufigen chromatischen Linien, die sowohl aufwärts wie abwärts erscheinen. Dadurch, dass die Kanonstimmen mit dem Cantus firmus gemeinsam in einer Hand mit einer konzertierenden Stimme liegen, sind sie klanglich nicht hervorgehoben, was das Durchhören dieses komplexen Satzes nicht unbedingt erleichtert. Eine Herausforderung für Spieler und Hörer.

    Die kleine Bearbeitung bringt ausnahmsweise nicht nur die erste Choralzeile, sondern den ganzen Cantus firmus. Man könnte von einer Choralbearbeitung mit obligatem Motiv (das mal ab-, mal aufsteigende Hexachord der Begleitstimmen) sprechen.


    Christ, unser Herr, zum Jordan kam

    Die große Bearbeitung ist ein vierstimmiger Satz. Die beiden einander imitierenden Oberstimmen werden von der rechten Hand gespielt, die linke Hand steuert den bewegten Bass bei, der Cantus firmus liegt als Tenor im Pedal.

    Philipp Spitta hat die bewegte Bassstimme als Bild der Jordanwellen gedeutet, Hermann Keller sah im Kopfmotiv g‘-c‘-c“-h‘ der Oberstimmen das Untertauchen und wieder Aufsteigen im Fluss. Fehlt nur noch die Taube …

    Die kleine Bearbeitung ist abermals eine dreistimmige Fughette über die erste Zeile des Chorals. Sie ist kontrapunktisch ziemlich vertrackt. Zum Thema tritt sogleich ein Kontrapunkt, der ebenfalls die erste Zeile in figurierter Form bringt. Insgesamt ist das Thema übrigens sechsmal zu hören, dreimal „recte“, jedesmal wird es in Umkehrung beantwortet. Auch das ein Bild für das dreimalige Unter- und wieder Auftauchen?


    Aus tiefer Not

    „Die große Bearbeitung von ‚Aus tiefer Not‘, der einzige reale sechsstimmige Orgelsatz Bachs, zeigt die Form der Orgelmotette in ihrer monumentalen, schlechthin unüberbietbaren Gestalt.“ (Hermann Keller)

    Vier Stimmen sind im Manual zu spielen, zwei im Pedal. Solche Sätze finden sich bereits in der „Tabulatura nova“ von Samuel Scheidt. Die obere Pedalstimme hat den Cantus firmus. Die nicht-Cantus-firmus-Stimmen imitieren jede Choralzeile vor, dabei ist die Halbe das Metrum. Der Cantus firmus selbst setzt dann in ganzen Noten ein. Stylus anticus in Reinform.

    Die kleine Bearbeitung ist vierstimmig. Zu den drei vorimitierenden Unterstimmen tritt jeweils eine Zeile des Cantus firmus im Diskant.


    Jesus Christus, unser Heiland, der von uns den Gotteszorn wandt

    Die große Bearbeitung ist ein Trio für zwei Manuale und Pedal. Die beiden Manualstimmen entsprechen dabei in ihrer virtuosen Bewegung mit großen Sprüngen und flüssigem Laufwerk, das Pedal steuert den Cantus firmus in langen Noten bei. – Wer deutet dieses Stück?

    Die kleine Bearbeitung ist durchaus ein Sonderfall einer Fuge. Sie beginnt mit einer regulären vierstimmigen Exposition (T-A-S-B), der sofort das Thema in Engführung zwischen A und S folgt. Im weiteren Verlauf erscheint das Thema nur noch sporadisch, zwischen diesen Einsätzen stehen imitatorische Zwischenspiele über immer neue Motive. – Der letzte Themeneinsatz erscheint in Vergrößerung.

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Die einzelnen Stücke (III)

    Duette

    Kurioserweise sind die vier Duette im Titel des Werkes nicht einmal genannt. Eine Frage ist, ob es sich bei den Duetten um Cembalo- oder Orgelmusik handelt. Für Letzteres spricht vor allem, dass ihr Tonumfang dem der damaligen Orgeln entspricht (C-c‘‘‘); in den anderen Teilen der Klavierübung ging Bach darüber hinaus.

    Alle vier Duette sind großangelegte zweistimmige Inventionen.

    Das erste Duett in e-Moll beginnt mit einer auf- und absteigenden Tonleiter in der Oberstimme. Reiche Chromatik schließt sich an, sowohl im „Passus duriusculus“ der Unterstimme (e-dis-d-cis-c-H) als auch in den Vorhaltsbildungen der Oberstimme. Mit diesem Material – Tonleiter, Passus duriusculus, chromatische Vorhaltsbildungen – bestreitet Bach den ganzen Satz.

    Man kann drei Großabschnitte ausmachen. Der erste beginnt wie oben beschrieben, dann geschieht dasselbe in h-Moll mit vertauschten Rollen: Tonleiter in der Unterstimme, Passus duriusculus in der Oberstimme, Vorhaltsbildungen im Bass. Einige Imitationen leiten zu einer erweiterten Reprise über, Tonleitermotiv in beiden Händen, dann Erweiterung des chromatischen Bausteins und Modulation nach G-Dur.

    Der zweite Großabschnitt ist ebenfalls 28 Takte lang und ähnlich aufgebaut wie der erste, nur dass Bach jetzt stärker moduliert und über h-Moll nach d-Moll gelangt.

    Im dritten Großabschnitt geht es mit umgekehrter Tonleiterbewegung los, gefolgt von der „recte“-Bewegung. Ansonsten ist der dritte Großabschnitt eine verkürzte Form des ersten.

    Man kann dieses Duett als Passionsmusik deuten. Dafür sprechen die Chromatik und der Passus duriusculus, wie er auch im „Crucifixus“ der h-Moll-Messe vorkommt, auch dort übrigens in e-Moll.

    Auch das zweite Duett in F-Dur ist dreiteilig angelegt. Der dritte Teil ist eine wörtliche Wiederholung des ersten, der Mittelteil ist fast genauso lang (75 Takte) wie der erste und dritte zusammen (37+37=74).

    Der erste Teil ist eine zweistimmige Fuge. Das Thema erklingt in der Oberstimme beginnend mit dem Grundton (= Dux) und geht über die Quinte (= 3. Ton) in die Oktave, der Comes beginnt auf der Quinte, geht über den oktavierten Grundton (= 3. Ton) in die oktavierte Quinte und moduliert dabei in die Dominante. Das sequenzierende Zwischenspiel ist ebenso von Akkordbrechungen geprägt wie der Themenkopf. – Die zweite Durchführung besteht alleine aus dem Comes in der Oberstimme, ein weiteres Zwischenspiel mit derselben Motivik wie beim ersten Mal führt zum letzten Erscheinen des Themas in der Dux-Form in der Unterstimme. Schlusskadenz.

    Nach dem leichten, heiteren ersten Teil ist der Mittelteil von Moll-Bezirken, Chromatik und übermäßigen Schritten geprägt. Strenge Kanonbildungen dominieren. Im Zentrum steht die Umkehrung des Fugenthemas in f-Moll.

    So mag man dieses zweite Duett als Bild des Weges von Jesus Christus ansehen. Er kam aus der Vollkommenheit, wurde Mensch (Umkehrung) und trug das Leid und die Sünde der Welt und ging zurück in die Vollkommenheit.

    Das dritte Duett in G-Dur bringt zunächst keinen kontrapunktischen Ausgleich zwischen Unter- und Oberstimmen durch Vertauschungen und/oder Imitationen. Hier haben die beiden Stimmen klar verschiedene Funktionen als Oberstimme und Bass. Erst im weiteren Verlauf übernimmt der Bass auch Motivik der Oberstimme. – Fast übergangslos beginnt der Mittelteil, in dem auch Moll-Bezirke angesteuert werden. Ebenso unmerklich wird eine verkürzte, aber kontrapunktisch verdichtete (nun also doch) Reprise. Sicher das gelösteste unter den vier Duetten.

    Nach dem heiteren G-Dur-Satz ist das vierte Duett in a-Moll wieder ernster und strenger. Vielleicht kann dieses Stück am besten als zweistimmige Fuge beschrieben werden. Dux in der Unterstimme, Comes in tonaler Beantwortung in der Oberstimme mit Modulation in die Dominante. Sogleich folgt ein Zwischenspiel, dessen Motivik von Sprüngen in verminderten Intervallen (Oberstimmen) nebst synkopierter Rhythmik (Unterstimme) geprägt ist. – Eine angedeutete Engführung entpuppt sich als zweite Durchführung, nun mit Dux in der Oberstimme und dem Comes in der Unterstimme. Wieder das Zwischenspiel, ebenfalls mit vertauschten Rollen. – Die dritte Durchführung besteht nur aus dem Comes in der Oberstimme, die vierte alleine aus dem Dux in der Unterstimme.

    Nach den Grundtönen e, f, g, a der vier Duette ist der Boden für den ersten Ton der abschließenden Fuge bereitet – ein b.


    Fuge Es-Dur

    Eine Tripelfuge. Im ersten Teil wird das erste Thema fünfstimmig durchführt. Dieses ist ebenfalls im „alten Stil“ rein vokal empfunden, b-g-c‘-b-es‘-d‘ (-es‘), Gott Vater spricht. Los geht es mit einer regelmäßigen Exposition (Mittelstimme = M-T-S-A-B). Noch während des Einsatz des Basses erscheint im Sopran das Thema des ersten Zwischenspiels, das ebenfalls in allen fünf Stimmen zu hören ist. – Die zweite Durchführung beginnt mit einer Engführung zwischen A und S, gefolgt vom Tenor. Die nächste Engführung hat die umgekehrte Reihenfolge, erst S, dann A. Ein Einsatz im B mit nachfolgender langer Kadenz beschließt den ersten Teil.

    Das zweite, achtelbewegte Thema ist der zweiten Person der Trinität zugeordnet. Auch hier eine regelmäßige Exposition (B-T-A-S), ein weiterer Einsatz im A und eine kleine Sequenz bringen den ersten Abschnitt dieses Teils zu Ende. Im zweiten Abschnitt wird das zweite Thema bereits mit dem ersten kombiniert.

    Das dritte Thema, welches dem Heiligen Geist zuzuordnen ist, kommt beschwingt daher. Schon nach seinem vierten Einsatz ist das erste Thema wieder zu hören, allerdings noch nicht in Kombination mit dem dritten. Solche ist dem weiteren Verlauf vorbehalten. Das zweite Thema tritt nicht mehr auf, es sei denn, man wolle die reiche Tonleitermotivik damit in Verbindung bringen. Großartig klingen die letzten beiden Erscheinen des ersten Themas im Pedal, jeweils von prächtiger Bewegung im Manual kontrapunktiert, das letzte Mal in tiefer Lage, ein beeindruckender Schluss der Fuge wie des ganzen Zyklus‘.

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Vielen Dank, liebe Mauerblume, für Deine Beschreibungen zu diesem komplexen "Zyklus" und insbesondere auch für den Hinweis auf Andreas Jacob. Grund genug mich wieder einmal intensiv mit dieser "Orgelmesse" auseinanderzusetzen (die letzte Betrachtung fand vor rund zwei Jahren statt). Im Nachgang zu Deinen Beschreibungen würde mich interessieren, welche Einspielungen Du bevorzugst, Koopman ja offenbar nicht (auch Bowyer nicht??). Insbesondere würde mich interessieren, was Du von Suzukis Lesart inklusive der vokalen Untermalung hälst. Die Einspielung ist Dir doch sicher bekannt?

    Frohe Grüße an Dich

  • Welche Vermutungen gibt es eigentlich dazu, wie die Duette da hineingeraten sind? Wie passen die in eine "Orgelmesse"

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Grund genug mich wieder einmal intensiv mit dieser "Orgelmesse" auseinanderzusetzen

    Welche Vermutungen gibt es eigentlich dazu, wie die Duette da hineingeraten sind? Wie passen die in eine "Orgelmesse"


    Es ist halt keine Orgelmesse ... ;) ... diesen Beinamen hat m. W. Albert Schweizer geprägt, aber er trifft die Sache halt nicht. (Wie oben gesagt: Wo ist bspw. das Sanctus? - Bach hat sich an Luthers Katechismus und den dazugehörigen Lutherliedern orientiert, nicht am Ablauf der Lutherischen Messe.)

    Wie sind die Duette hineingeraten? Hermann Keller vermutete, dass die Sammlung dadurch für "nur"-Cembalisten attraktiver gemacht werden sollte. Mag sein - aber die ordnenden Prinzipien des Zyklus sind andere. Einmal die Dreizahl - 3x3x3 Stücke. Dann die Tonarten - Es-Dur im Präludium/A-Dur am Ende der "Missa brevis", a-Moll am Ende der Duette/Es-Dur in der Fuge. Also Tritonusbeziehungen, genau wie in KÜ I und KÜ II.

    Im Nachgang zu Deinen Beschreibungen würde mich interessieren, welche Einspielungen Du bevorzugst, Koopman ja offenbar nicht (auch Bowyer nicht??).

    würde mich interessieren, was Du von Suzukis Lesart inklusive der vokalen Untermalung hälst. Die Einspielung ist Dir doch sicher bekannt?


    Ich mag die Aufnahmen von Koopman und Bowyer. Suzukis Einspielung kenne ich leider nicht. Ich höre meine Aufnahmen gerade durch und werde noch etwas dazu schreiben. Bin selber gespannt.

    Gruß
    MB

    :wink:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Die Duette sind doch vier. Egal, ob Orgelmesse oder nützliche Sammlung für alle möglichen liturgischen Gelegenheiten, die Duette wären eine reine Auffüllung, damit mehr manualiter-Stücke dabei sind, oder was? Oder soll man die auch als liturgische Begleitmusik spielen?

    Ich habe eine Aufnahmen, bei der alle manualiter-Stücke auf dem Cembalo gespielt werden (die Duette sind aber manchmal auch als Füller z.B. bei Clavierübung II dabei).

    Zwei Aufnahmen, die mir empfohlen wurden (ich kenne das alles noch nicht gut genug (außer P&F Es-Dur), um eine eigene Meinung zu haben), die jedenfalls großartige historische Orgeln haben, sind mit Felix Friedrich bzw. Edgar Krapp (letztere hat auch ein paar ganz interessanter Füller dabei)

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Welche Vermutungen gibt es eigentlich dazu, wie die Duette da hineingeraten sind?

    Zu den Duetten ab S. 52 - so jedenfalls eine Vermutung von Brückner, die in etwa auch im Einklang steht mit der Darstellung MB's, dass es sich um ein ordnendes Prinzip handele, "3X3X3 Stücke".

    http://www.cbrueckner.ch/pdf/KL24_JSBachClavieruebungIII.pdf

    "Dass Bachs Inspiration bei den vier Duetten (auch) aussermusikalisch bestimmt gewesen ist, ist eine Annahme, die sich aufgrund der Eigenheiten dieser Stücke und ihrer Positionierung innerhalb der Clavierübung III aufdrängt", so Brückner.

    Und weiter auf Seite 57 in vorstehendem Zusammenhang:

    "Versteht man die Duette als musikalische Gebete und unterlegt man ihnen zentrale Ideen des christlichen Glaubens, dann wirken die Duette bei der Gesamtaufführung der Clavierübung III an dem ihnen von Bach bestimmten Platz weder als störende Fremdkörper noch als ermüdende Verzögerung vor der Schlussfuge. Vielmehr runden die Duette den theologischen Gehalt des Gesamtwerkes in so überzeugender Weise ab, dass sie an ihrem Platz auch musikalisch voll zu befriedigen vermögen."

    Nebenbei zur Zahlensymbolik bei Johann Sebastian Bach: https://www.capriccio-kulturforum.de/index.php?thre…1828#post211828

    Auf Deine in der Entstehung begriffenen Einspielungsempfehlungen, lieber MB, bin ich übrigens sehr gespannt.

  • Gesamtaufführung ist aber doch eh Nonsens. In welchem Rahmen außer einem Orgelkonzert des 20./21. Jhds. sollte man eine komplette Aufführung mit allen Alternativsätzen sich vorstellen? Was der Autor des verlinkten Textes dazu am Anfang schreibt (ich habe das nicht alles komplett durchgelesen), scheint mir reine Spekulation. (Die angeführten "Parallelen", nämlich WTK, Orgelbüchlein oder andere Clavierübungsteile sprechen gerade GEGEN die Idee einer Gesamtaufführung.) Das ist auch völlig unabhängig von der Zahlensymbolik etc. Alles zu dieser Symbolik mag korrekt sein, aber das ist ja völlig unabhängig davon, dass es sich um eine symbolisch reichhaltige und systematisch kohärente Sammlung, kein Werk, das man in einem Rutsch aufgeführt hätte, handelt.

    Man hat bei eine Aufführung niemals eine Chance das Symbolikbrimborium mitzukriegen (ah, jetzt sind wir bei Stück 9 =3x3 etc, aha es sind insgesamt so viele Stück wie Bücher im NT...). Der Autor gibt selbst zu, dass man eines der Duette als Hörer im 6/8 notieren würde, während es natürlich der heilige 12/8 ist) Nur der Organist oder Orgelschüler, der die Sammlung wiederholt und intensiv studiert, wird diese Symmetrien erkennen können.

    Damit ist natürlich gar nichts gegen eine komplette Aufführung HEUTE gesagt. Dafür muss man aber keine unplausiblen Spekulationen anstellen, dass Bach so etwas intendiert hätte. (Ziemlich exakt der gleich Fall wie bei der "h-moll-Messe".)

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Gesamtaufführung ist aber doch eh Nonsens.


    Da stimme ich zu, ebenso wie der nachfolgenden Argumentation.

    Den Brückner-Artikel finde ich ziemlich verschwurbelt. Es ist nicht ohne Pikanterie, von "verschrobenen Bücherwurm, [ ... ] wie es seine Analytiker selber sind" (Nr. 140) zu schreiben, und dann einen Artikel von 61 Seiten über dieses Werk zu verfassen. Auch die häufige Verwendung von "man sollte" u. ä. riecht doch sehr nach erhobenem Zeigefinger.

    Belustigend auch einige dahingeworfene Feststellungen wie

    "2. Zweifellos hat Bach an einen gottesdienstlichen Gebrauch der einzelnen Choralvorspiele gedacht."
    (Dagegen sprechen die Tonarten der Choralvorspiele.)

    "21. ... Hingegen hat Bach nicht für Forscher komponiert."
    Für Forscher in unserem heutigen Sinne wohl nicht (gab es die damals?), aber sehr wohl auch für Musiktheoretiker - z. B. in seinen Kompositionen zur Aufnahme in die Mizlersche Societät.

    Gruß
    MB

    :wink:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Ich habe viereinhalb Einspielungen der CÜ III. Zwei davon gehen nach der "offiziellen Reihenfolge", nämlich Johansen in der Hänssler-Box und Felix Friedrich. Letzter spielt allerdings die manualiter-Stücke auf einer anderen Orgel, ist damit auch der verbreiteten Trennung in pedaliter/manualiter Stücke gefolgt; es gibt auch eine Auskopplung auf einer Einzel-CD.
    Dieser Aufteilung in "Große" pedaliter Choräle, von Präludium und Fuge eingerahmt auf einer CD und den manualiter-Werken auf der nächsten folgen Brosse (s.o., der die manualiter Stücke auf einem Cembalo spielt), Krapp (mit Füllern und an zwei unterschiedlichen Orgeln) und anscheinend Weinberger, von dem ich nur die CD mit den "großen" Stücken besitze.

    -> <- [Blockierte Grafik: http://ecx.images-amazon.com/images/I/51XwslK0AqL.jpg]

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    (B. Pascal)

  • Die Existenz der Duette hat vielleicht einen viel simpleren Hintergrund.

    In KÜ III herrschen bei den Choralbearbeitungen die drei-, vier- und fünfstimmigen Sätze vor. Beispiele:

    3stimmig: die drei Gloria-Bearbeitungen, großes "Jesus Christus, unser Heiland", ferner mehrere "kleine" Bearbeitungen
    4stimmig: die beiden ersten "großen" Kyrie-Bearbeitungen, große "Christ, unser Herr, zum Jordan kam", kleine "Aus tiefer Not", kleine "Jesus Christus, unser Heiland"
    5stimmig: Präludium Es-Dur, großes "Kyrie, Gott heiliger Geist", großes "Dies sind die heilgen zehn Gebot", großes "Vater unser", Fuge Es-Dur
    6stimmig: großes "Aus tiefer Not"

    Zweistimmige Sätze fehlen in auffälliger Weise - keine Bicinien, wie sie in Bachs Choralpartiten und andernorts zu finden sind. Mag sein, dass die Duette diese Lücke schlossen und gleichzeitig auf 27 auffüllten?
    Dass die Duette Cembalomusik seien, kann man mit Blick auf deren Tonumfang (C-c''') zumindest bezweifeln. Ferner kannte Bach aus Frankreich Beispiele für zweistimmige Orgelmusik-

    Gruß
    MB

    :wink:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Nun noch ein paar Worte zu Aufnahmen, die sich bei mir angesammelt haben. Die meisten kamen mit einer Gesamtaufnahme daher, aber der „dritte Teil der Klavierübung“ ist auch separat problemlos zu haben. Vorweg: Keine der Aufnahmen ist schlecht, alle sind mMn sogar gut anhörbar, so dass sich die Frage nach den zu bevorzugenden Einspielungen vielleicht tatsächlich auf die Geschmacksfrage reduziert.

    Helmut Walcha

    Silbermann-Orgel in Saint-Pierre-le-Jeune zu Strasbourg (III/40)
    September 1970

    "Silbermann-Orgel" steht im Beiheft. Yukon machte mich dankenswerterweise darauf aufmerksam, dass bestenfalls 16 der 40 Register auf Silbermann zurückgehen.
    "http://decouverte.orgue.free.fr/orgues/stpierlej.htm

    Wenn ich richtig informiert bin, so stammt diese „KÜ III“ aus Walchas zweiter Gesamtaufnahme der Orgelwerke Bachs. So erklang diese Musik also in den deutschen Wirtschaftswunderwohnzimmern.

    Das Präludium kommt mit nur sanften Punktierungen daher. Das Tempo ist eher ruhig, was man vor allem beim dritten Thema merkt, welches zwar mit kurzen Tönen, aber eben auch etwas buchstabiert erklingt. Ansonsten ist die Artikulation eher auf der legato-Seite. Mich wundert, dass das Hauptwerkplenum ziemlich aliquotig klingt (ist da wirklich eine Terz?) – Walcha hatte ich mit „geraderen“ Klängen im Ohr. Zwischen den Themengruppen wird fleißig das Manual gewechselt, das Hauptwerk ist dem ersten Thema vorbehalten. Die Pedalzungen sind gut in den Gesamtklang eingebettet. Für meine Ohren ist das eher korrekt als bewegend.

    Ähnliches gilt für die großen Kyries. Das erste erklingt mit sanften Prinzipalklängen in den Begleitstimmen und einer Aliquotmischung mit Quinte und Terz im cantus firmus. In der zweiten sind die Begleitstimmen ein gutes Stück aufgehellt, im Tenor darf eine Zunge ran. Für das dritte große Kyrie beschränkt Walcha sich im Pedal auf eine 8‘-Zunge (mit labialem 16‘-Beistand) und lässt die Posaune ruhen. – Ähnlich haben fast alle Organisten späterer Generationen diese drei Stücke registriert, ob HIP oder nicht; außer, dass die meisten im dritten die Posaune 16‘ hinzuziehen. Aufhorchen lässt das Zungenregister in der Zehn-Gebote-Fughetta. Endlich ein Hinhörer. Ähnliches gilt für die große „Vater unser“-Bearbeitung, die unter Verzicht auf Aliquoten „nur“ mit gedeckten Labialklängen erklingt. Überraschend verhalten. In der großen Bearbeitung von „Christ, unser Herr, zum Jordan kam“ zieht Walcha den Bourdon 16‘ des Hauptwerks für den Manualbass, den er in vollkommenem Legato spielt. Im zweiten Duett riskiert er gar – horribile dictu – einen Manualwechsel für den Mittelteil. Eigentümlich ist auch das Ziehen von Mixturen und Manualtrompete im ersten und dritten Teil der Tripelfuge – aber es funktioniert.

    Walcha spielt ziemlich gleichförmig. Das gilt sowohl für seine Artikulationen als auch für seine Tempi. Die Artikulationen sind weitaus eher auf der legato-Seite, es klingt meist nach fast dichtem non-Legato. Wenn Staccato, dann konsequent, z. B. im dritten Thema des Präludiums oder in der „Allein Gott in der Höh sei Ehr“-Fughetta. Grammatisch bedingte Artikulationen (besondere Harmonik, Synkopen, …) sucht man wohl vergeblich. Schön kammermusikalisch durchartikuliert fand ich die großen Bearbeitungen von „Allein Gott in der Höh sei Ehr“ und „Vater unser“ sowie – naklar – die vier Duette. Die Tempi werden anfangs gesetzt und dann kaum verändert durchgehalten. Dass bei Abschnittsgrenzen ritardiert wird, ist eher die Ausnahme, z. B. im Präludium und in der Fuge. Grundsätzlich sind die Tempi eher auf der schnellen Seite. Ich hab’s nochmal verglichen: Walcha ist bei den drei großen Kyries sogar schneller als Bowyer. Wow.

    Von daher erscheint Walchas Spiel geradezu objektiv, zumal auch die Registrierungen eher „Standard“ sind. Prima zum Kennenlernen, aber wenig aufregend. Kennt man die Stücke, so weiß man nach wenigen Sekunden, wie es bis zum Schluss weitergeht … Dass diese Spielweise im ordnungsliebenden Deutschland schulbildend wurde, kann ich gut nachvollziehen. Ein derart korrekter Johann Sebastian hätte sich wohl weder mit seinem Fagottisten auf der Straße duelliert noch seinen Urlaub eigenmächtig verlängert. So hat man’s gerne … Die biedere Gleichförmigkeit erklärt auch die meist zügigen Tempi, es wäre wohl sonst kaum auszuhalten. Obwohl Kevin Bowyer häufig ähnliche Spielzeiten hat, wirkt sein Spiel dank vielfältigerer Binnengestaltung schneller. - Positiv formuliert: Walcha erschafft die Ereignisdichte für den Hörer mittels zügiger Tempi alleine aus den strukturellen Basisparametern wie Tonhöhe und Länge sowie aus den strukturellen Gegebenheiten auf der Makroebene und enthält sich seines eigenen, potenziell bereichernden Kommentars. Völlig evident wird der Einfluss von Tempo und Artikulation auf das Erleben des Hörers dort, wo die Tempi zurückhaltend sind, etwa im Trio über „Jesus Christus, unser Heiland“ – da klingt’s dann recht mechanisch.


    Hans Fagius

    Wahlberg-Orgel der Fredrikskyrkan zu Karlskrona/Schweden (II/33)
    https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrichskirche_(Karlskrona)
    1989

       

    Klavierübung III auf einem eher kleineren Instrument – geht das? Ich meine: ja. Die Plenumsstücke klingen dank lebendiger Artikulation ziemlich durchsichtig. Die drei großen Kyrie-Bearbeitungen erklingen mit der Standard-Registrierung, die erste mit labialer Aliquotmischung für den c. f. und Prinzipal 8‘ für die Mittelstimmen, die zweite mit 8‘ und 4‘ in den Oberstimmen und einer Zunge für den c. f. – Manche Stücke werden mit sehr zurückhaltenden Klängen gespielt, manchmal mit nur einem einzigen Register pro Manual. Z. B. sind das G-Dur-Duett und die erste Bearbeitung von „Allein Gott in der Höh“ mit 4‘-Flöten zu hören, und das Trio über denselben Choral verzichtet auf jeden Glitzereffekt. Aber auch die großen Bearbeitungen von „Dies sind die heilgen zehn Gebot“ (mit geradezu überirdischer Ruhe) und „Vater unser im Himmelreich“ (rechts Gedackt 8‘ des HW, links Quintadena 8‘ des OW, Ped 16‘+8‘) klingen sehr zurückhaltend, kammermusikalisch-intim, sehr schön! Konsequenterweise verzichtet Fagius gelegentlich auch schon mal auf den 16‘ im Pedal, interessanterweise auch im sechsstimmigen „Aus tiefer Not“, was der Hörbarkeit des c. f. zugute kommt. Überhaupt finde ich gerade diesen komplexen Satz in dieser Aufnahme sehr gelungen.

    Die meist agile Spielweise zeigt Sätze wie die Gloria-Fughette, die Fughette über „Dies sind die heilgen zehn Gebot“ oder die großen Bearbeitungen von „Christ, unser Herr, zum Jordan kam“ und „Jesus Christus, unser Heiland“ von ihrer besten Seite. Auch die Duette gefielen mir sehr gut.

    Die sehr breit genommenen ersten Akkorde zu Beginn des Präludiums machen staunen, doch dann erklingt dieser einleitende Satz in schöner Balance zwischen (gerade noch) ouvertürenartiger Gravität und vorwärtsstrebendem Puls. Außer bei den Echostellen im zweiten Thema verzichtet Fagius auf Manualwechsel und Änderungen der Registrierung. Nicht nur im Präludium erlaubt er sich gelegentlich ein kleines agogisches Verzögern, um Akzente zu setzen und auch mal ein größeres vor formalen Einschnitten. Meist zügige Tempi, lebendige Artikulation, aber auch ruhigere Inseln, etwa die „kleine“ Bearbeitung von „Jesus Christus, unser Heiland“; das zurückhaltende Tempo steht diesem Satz m. E. sehr gut zu Gesicht. Die Es-Dur-Fuge beginnt mit ruhigem Puls, um im zweiten Teil mit kurz genommenen Achteln recht belebt zu werden. Im dritten Teil sind die Achtel schon wieder breiter. Den letzten Themeneinsätzen im Pedal mag es im Vergleich zu anderen Aufnahmen an überwältigender Gravität fehlen, aber das fügt sich hier stimmig ein.

    Insgesamt mMn eine sehr hörenswerte Einspielung. Fagius verzichtet auf jedes Blendwerk, agiert klanglich oft auf der kammermusikalischen Seite. Dezente Agogik und lebendige Artikulation machen mir das Hören zum Vergnügen.

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Simon Preston

    Wagner-Orgel der Nidaros Domkirke zu Trondheim (II/30)
    Januar 1999

    Noch ein eher kleines Instrument, aber mit einer ziemlich großen Palette an Farben und Klängen. Würde ich eher als Stärke der Aufnahme sehen.

    Die Rhythmik im Präludium fand ich seltsam. Wirkt stellenweise unpräzise und in den Punktierungen geradezu verwaschen, ist wohl einfach eine übersteigerte Mikroagogik, die mehr verunklart als hilft. Manche „1“ kommt einfach zu früh. Anstrengend, wie ich nach mehrfachem Hören meine.

    Die Choralvorspiele nehme ich eher auf der korrekten Seite wahr. Lediglich punktuell habe ich mal aufgehorcht. So etwa bei der putzigen Darstellung der Fughetta über „Allein Gott in der Höh sei Ehr“. Oder bei der ungewohnt schlanken Wiedergabe des sechsstimmigen Satzes von „Aus tiefer Not“. Auch die „große Bearbeitung“ von „Jesus Christus, unser Heiland“ klingt für meine Ohren enorm agil. Überraschend fand ich den Plenumsklang bei der „kleinen Bearbeitung“ desselben Chorals, ist dieser Satz doch explizit „sub communione“ bezeichnet. – Das schnelle Tempo des e-Moll-Duetts geht für meine Begriffe in Richtung von Oberflächlichkeit in Anbetracht der Chromatik und des Passionsgestus. Die abschließende Es-Dur-Fuge lässt bzgl. Klangpracht keine Wünsche offen – großes Plenum schon zu Beginn, zweites Thema auf dem zweiten Manual, mit dem dritten Thema geht es zurück aufs Hauptwerk. Dieses Schlussstück fand ich sehr gelungen.

    Es liegt wohl an der relativ gleichförmigen Artikulation und an der für meinen Geschmack zu geradlinigen Metrik (Ausnahme: Präludium Es-Dur), dass der Funke (für mich) nicht so recht überspringen will. Dennoch meine ich, dass man mit dieser Aufnahme ganz gut bedient ist. Gediegen, aber ohne Begeisterungsqualität.


    Kevin Bowyer

    Marcussen & Son-Orgel der Sct. Hans Kirke zu Odense/Dänemark (III/37)
    13.-18. März 1997

    Ein herrlich klingendes mittelgroßes Instrument mit kleinen Besonderheiten: Im Pedal ein (kräftiges) Fagott 16‘ anstelle einer Posaune, im Brustwerk ist Regal 16‘ die einzige Zunge. Ansonsten doppelte Mixtur im Hauptwerk, zwei Achtfüße (Gedackt/Quintatön) im Rückpositiv, Prinzipale in Pedal/Hauptwerk/Rückpositiv/Brustwerk auf Basis 16‘/8‘/4‘/2‘. Also eher klassisch disponiert.

    Rasch und bisweilen geradezu scharfkantig nimmt Bowyer das Präludium. Wow. Fand ich spannend. Der Klang ist mixturenlastig, geradlinig, brillant, ohne hervortretende Quinten oder Terzen. – In den großen Kyrie-Bearbeitungen dürfen zwei Soloregister des Rückpositivs glänzen (Sesquialter im ersten/Krummhorn im zweiten). Die belebten Tempi tragen dazu bei, dass man die kaum bekannten cantus firmi gerade noch als zusammenhängende Melodie wahrnehmen kann. – Flüssig und mit Grundregistern klingt die erste „Allein Gott in der Höh“-Bearbeitung interessant. – Die Gloria-Fughette klingt mit einer 4‘-Flöte wie ein Vogelkonzert. – Sehr ernsthaft fand ich die „Dies sind die heilgen zehn Gebot“-Fughette. – Überraschend das flotte, lebendige, artikulationsfreudige Spiel in der großen „Vater unser“-Bearbeitung. – Das erste Duett klingt bei Bowyer ziemlich durchgeknallt, aber gut durchgeknallt. Passionsmusik ist’s so jedenfalls nicht. Die abschließende Fuge bietet für mich einen schönen Kompromiss zwischen der Würde des „stilo antico“-Beginns und der Lebendigkeit, wie sie im zweiten und dritten Teil mMn nötig sind. Hier erscheint dies alles unter einem Bogen.

    Insgesamt eine sehr zügige, teilweise scharf durchartikulierte Darstellung des Zyklus, die ich sehr gerne höre.

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Ton Koopman

    Gottfried-Silbermann-Orgel im Dom St. Marien zu Freiberg (III/44)
    https://de.wikipedia.org/wiki/Freiberger_Dom

     

    Für den dritten Teil der Klavierübung wählte Ton Koopman die Gottfried-Silbermann-Orgel im Dom zu Freiberg. Ein großes barockes Instrument in einem Raum, der in dieser Aufnahme recht hallig wirkt. – Im Gegensatz zu seinen Aufnahmen der 18 Choräle („Leipziger“) und der 6 Choräle („Schübler“) bietet Koopman hier keine Chorsätze als Vorbereitung und Verständnishilfe für die Choralbearbeitungen. Schade, denn gerade die Melodien der Kyrie-Lieder sind heute eigentlich so gut wie unbekannt (EG 178.4).

    Verglichen mit Bowyer klingen die Ritornelle des Präludiums fast gravitätisch. Koopman ist tatsächlich einen Tick langsamer unterwegs; das passt gut zum Raum, wie ich meine. Auch dem dritten Thema tut das ruhigere Tempo mMn gut. Die großen Kyrie-Bearbeitungen kommen ruhig schreitend daher. Die Registrierungen sind „Standard“, der c. f. im ersten großen Kyrie mit labialen Aliquoten, im zweiten mit Zunge. In den „großen“ Kyrie-Bearbeitungen hat mich beim wiederholten Hören erstaunt, wie sorgfältig die Stimmführungen des stilo-antico-Satzes durchartikuliert sind – großer Reichtum wartet auf seine Hörer. Doch am Stück gehört ziehen sich die drei Sätze ziemlich lange hin, etwa sechzehneinhalb Minuten. – Das zweite „kleine“ Kyrie spielt Koopman nur mit 4‘. – Das erste Gloria nimmt Koopman als Trio, spielt den c. f. mit 4‘ im Pedal. Klingt mMn etwas bemüht, da gibt es lebendigere Wiedergaben, bei denen alle drei Stimmen auf einem einzigen Manual gespielt werden. – Das große Gloria (hier ist tatsächlich „à 2 Clav. e Pedale“ vorgeschrieben) ist erstaunlich ruhig artikuliert. Ob’s in der Gloria-Fughette wirklich ein (Nebenwerks-)Plenum sein muss? – Sehr beschaulich dann die große „Zehn Gebote“-Bearbeitung, offenbar nur mit 8‘-Flöte rechts und mit einer sanften Zunge für den kanonischen c. f. Sehr einfallsreich artikuliert und phrasiert, obendrein ungemein charmant fand ich die kleine Bearbeitung desselben Chorals. – Die große „Vater unser“-Bearbeitung erklingt mit Passionston, sie dauert fast doppelt so lange wie bei Bowyer. Schon arg lang, wie ich meine. – Ob mehr Transparenz bei der großen Bearbeitung von „Aus tiefer Not“ überhaupt geht? – Viel Leben und eine witzige Registrierung dann bei der großen „Jesus Christus, unser Heiland“-Bearbeitung.

    Eine für mich über weite Strecken überraschend ruhige Wiedergabe, sowohl bezüglich der Tempi als auch bezüglich der Artikulation. Hat man bspw. die Triosonaten mit Koopman im Ohr, fällt der Unterschied sofort auf. Ausnahme ist die große Bearbeitung von „Jesus Christus, unser Heiland“, doch sogar die vier Duette kommen vergleichsweise „zahm“ daher. Ihre punktuellen Schönheiten mag ich gerne loben, doch diese Aufnahme gefällt mir in kleinen Häppchen besser als am Stück.


    Gerhard Weinberger

    Christoph-Treutmann-Orgel im Kloster Grauhof (III/42) (Präludium, Fuge und „große“ Bearbeitungen)
    Gottfried-Silbermann-Orgel der Dorfkirche Ponitz (II/27) („kleine“ Bearbeitungen und Duette)

    Weinberger hat den „Dritten Teil“ in der Weise auf zwei CDs verteilt, dass auf der einen CD das Präludium Es-Dur, die „großen Bearbeitungen“ sowie die Fuge Es-Dur platziert wurden und auf der anderen CD die „kleinen Bearbeitungen“ und die Duette. Das ist unüblich auf dem CD-Markt, aber üblich in der Konzertpraxis – meist wird der „Dritte Teil der Klavierübung“ so aufgeführt wie auf der ersten CD, d. h. unvollständig.

    Mit der Gesamtaufnahme Weinbergers hatte ich von Anfang an Probleme und habe das höchste Lob für diese Gesamtaufnahme nie so richtig verstanden („Jahrespreis der deutschen Schallplattenkritik“).

    Das Präludium erscheint formal klar gegliedert, die Scharnierstellen sind bestens nachvollziehbar. Weinberger gelingt eine mMn schöne Balance zwischen Würde und Gravität dieses Portals (besonders im ersten Thema) und einem Impetus, der das Stück über seine ganze Dauer trägt. Lackmustest dafür ist neben dem ersten Thema das dritte, das hier bei aller schnellen Bewegung nicht verhuscht klingt. Die Artikulation – und da gibt es viel zu tun – ist prima auf die sonstigen Gegebenheiten abgestimmt, zusammen mit Instrument, Raum und Aufnahmetechnik ist sie im herrlichen Vierklang vereint.

    Weinberger denkt die drei großen Kyrie-Bearbeitungen ganz vom Vokalsatz her und unterstützt aktives Mithören durch Rubati und/oder Atempausen vor formalen Einschnitten, z. B. Neueinsetzen des Hauptthemas in den nicht-cantus-firmus-Stimmen. Die Einschnitte gehen mir allerdings bisweilen zu weit, zu viel Zeigefinger stört den Fluss. Alle drei Sätze nimmt er mit ruhigem Puls. – Auch im „Allein Gott in der Höh“-Trio gibt es diese (mich) störenden Minizäsuren. – Insgesamt sind die Tempi der „großen“ Bearbeitungen eher bedächtig, Aushören ist angesagt. Das „Vater unser“ ist für meine Ohren an der Grenze zum Zerfallen. – Schön flüssig und dezent durchartikuliert dann „Christ unser Herr zum Jordan kam“, dito „Jesus Christus, unser Heiland“. – Der sechsstimmige Satz über „Aus tiefer Not“ ist mMn prima durchzuhören.

    Die Tripelfuge beginnt gleich mit großem Plenum einschl. 32‘ im Pedal. Wie im Präludium finde ich die Tempi prima getroffen.

    Die „kleinen“ Bearbeitungen erklingen auf der zweimanualigen Silbermann-Orgel in Ponitz. Die Aufnahmetechnik ist hier dichter dran. Die Tugenden (und Untugenden) sind ähnlich wie auf der ersten CD: gute Artikulation, aber manchmal etwas zu künstliche Kunstpausen. Das hilft dem formalen Nachvollzug, bremst jedoch den Fluss. Die Fughette über „Allein Gott in der Höh‘ sei Ehr“ fand ich in der fast schon exotischen Registrierung mit 4‘-Flöte/Tremulant und bedächtigem Tempo deutlich überzeugender als mit dem Nebenwerksplenum bei Koopman. – Die Duette haben mir kaum je so viel Vergnügen bereitet wie hier, hier scheint mir Weinberger ganz zu sich zu kommen.

    Licht und Schatten. Zwei interessante Instrumente mit vielen interessanten Farben im Grundregisterbereich, ausgezeichnete Aufnahmetechnik. Ausgezeichnete Artikulation für mein Empfingen. Doch die zeitliche Gliederung mit Rubati und kleinen Zäsuren vor thematischen Neueinsätzen ist mir zuviel des Guten – bei aller Freude am aktiven Mitvollzug der formalen Aspekte ging mir das insgesamt zu sehr auf Kosten des Flusses.

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Matteo Messori

    Christoph-Treutmann-Orgel im Kloster Grauhof (III/42, 1737)
    Johann-Scheibe-Orgel in der Ev. Kirche zu Zschortau (I/Ped/13, 1746)
    Heinrich-Gottfried-Trost-Orgel zu Waltershausen (III/47, 1724-30)

     

    (Links die CD-Version, rechts die SACD-Ausgabe)

    Hier sind’s gleich drei Orgeln aus Sachsen, die alle um die Entstehungszeit des Zyklus‘ gebaut wurden. Eine Systematik, wann welches Instrument verwendet wurde, kann ich nicht erkennen. Der kleinsten Orgel gehören die drei Kyrie- und die zwei Gloria-Bearbeitungen, die manualiter ausgeführt werden können, dazu die kleinen Bearbeitungen zu „Wir glauben all“ und zu „Aus tiefer Not“. Auf der Orgel zu Waltershausen erklingen das Trio über „Allein Gott in der Höh sei Ehr“ sowie die große Bearbeitung von „Wir glauben all“, dazu die kleinen Bearbeitungen von „Vater unser“ und „Jesus Christus, unser Heiland“ sowie das dritte Duett. Alles andere, einschl. Präludium und Fuge, spielt Messori auf der Treutmann-Orgel, die ja schon bei der Weinberger-Aufnahme zum Einsatz kam. – Irritieren mag der Akustikwechsel von den großen Instrumenten zum kleinen, aber fällt wenig ins Gewicht.

    Das Präludium nimmt Messori ohne Verzögerung der initialen Akkorde, mit klarem punktiertem Rhythmus, finde ich sehr schön. Weniger gefiel mir das Extra-Ritardando zwischen den Formabschnitten, für meinen Geschmack ist das etwas zu breit. Das Präludium dauert in dieser Einspielung über zehneinhalb Minuten und wirkt sehr majestätisch.

    Überhaupt sind die Tempi meist auf der (sehr) entspannten Seite. Beispiele in der Reihenfolge Bowyer/Koopman/Messori:

    Präludium: 8:38/9:25/10:38
    3 „große“ Kyrie (Summe): 14:07/16:29/15:01
    Allein Gott in der Höh (groß): 4:43/5:20/5:39
    Vater unser (groß): 5:44/9:24/7:57
    Aus tiefer Not (groß): 5:37/5:40/7:40
    Jesus Christus unser Heiland (klein): 3:49/4:48/6:29
    Fuge: 6:51/6:29/8:20

    Das soll nicht heißen, dass die Aufnahme langweilig wäre – ganz im Gegenteil. Dafür sorgen bereits die wunderbaren Orgelklänge. Alleine das Glockenspiel in der großen Bearbeitung von „Dies sind die heilgen zehn Gebot“ und die vollbechrige Zunge in der kleinen Bearbeitung desselben Chorals sind die Aufnahme m. E. fast schon wert. Die ruhigen Tempi machen das Werk sehr gut zugänglich. Mein Paradebeispiel dafür ist die große „Vater unser“-Bearbeitung, die in anderen Aufnahmen seltsam wirken kann – hier klingt das Stück für meine Ohren so, als könne es gar nicht anders sein. Auch die große Bearbeitung von „Christ, unser Herr, zum Jordan kam“ wird nicht zum Nähmaschinenstück degradiert, das reiche Konzertieren der beiden Oberstimmen kommt prima zur Geltung.

    Bei den Duetten ist Messori einer der wenigen Organisten, die sie auf zwei Manualen darstellen; das dritte (mit der „Oberstimme plus Bass“-Struktur) sogar mit 16‘ für die linke Hand. Die Registrierungen sind in allen Stücken durchweg sehr farbig, „gerade“ Plenumsklänge gibt es eigentlich nicht, jede Registerwahl klingt sehr spezifisch und individuell. Artikulation und Rubato sind häufig discretissime angewendet – gerade in den „stilo antico“-Sätzen mMn mit Gewinn, aber auch sonst bleiben die Stücke wunderbar im Fluss. Diese Kombination, gestalterische Diskretion bei Artikulation und Rubato einerseits und sehr spezifische Registrierungen andererseits, finde ich sehr anziehend.

    Die Fuge. Großes Plenum, sehr dicht, 16‘-Basis im Manual, 32‘ im Pedal. Was für ein Schlussstein des Zyklus‘. Eher ruhig im Tempo. Das zweite Thema dann auf einem Nebenmanual, flüssig, aber nicht schnell. Mit dem dritten Thema geht’s zurück aufs Hauptwerk come prima. Dass Messori die ersten drei Achtel dieses Themas legato nimmt (portato ist hier wohl der Standard), passt hervorragend ins Bild.

    Eine sehr hörenswerte Aufnahme, wie ich meine, und für kleines Geld zu haben.

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Habe gerade im hinteren Bereich meines CD-Schranks gestöbert und bin dabei auf Ellenbergers BACH_hétérodoxe gestoßen:

    Das Hauptthema steht dabei für Gott Vater. Es ist authentisch in seinem Tonumfang von es‘ bis es“ (f“) und klingt majestätisch mit der Anmutung einer französischen Ouvertüre und ihrem charakteristischen punktierten Rhythmus.

    Ja sehr schön und wenn man Ellenberger musikalisch vernimmt, könnte es wohl tatsächlich so sein - straff punktierte Rhythmen, prachtvolle, fünfstimmige Harmonik, majestätischer Gesamteindruck oder wie es im Beiheft der CD heißt:


    Zitat von Volker Ellenberger/JPC

    Hommage à Lully "Ouvertüre Royale"


    Und dass Ellenberger meint mit seiner Ouvertüre-Royal-These à la Lully Recht zu haben, soll wohl seine Einspielung beweisen, :/ :/ :/ . Man höre sich den nachfolgenden Anfang des Es-Dur-Präludiums an (Track 1):

    ... und Hommage à Purcell - :| - den Bezug zu A. Schweitzer konnte ich bislang noch nicht für mich nachweisen (da muss ich wohl einmal in die Tiefe gehen). Ich muss vielleicht noch hinzufügen, dass die Scheibe als Geschenk anlässlich irgendeines Geburtstages bei mir eingetrudelt ist.

  • À propos Es-Dur Präludium & Fuge, freundlicherweise hat ein Forianer vor einiger Zeit bei YT einen Interpretationsvergleich von Jürgen Uhde aus 1989 (Radioproduktion für den SDR) eingestellt. Die Sendung kann man hier nachhören:

    klick

    Zu hören sind in Musikbeispielen Interpreten wie Helmut Walcha, Lionel Rogg, Viktor Lukas, Gennadi Nikolajewitsch Roschdestwenski (Orchesterfassung - Schönberg).


    Vielen Dank

  • Die Zahl drei beherrscht den Zyklus im Großen wie im Kleinen: Insgesamt sind es 27=3x3x3 Stücke. Es gibt 2x3 Kyrie-Bearbeitungen und 3 Gloria-Bearbeitungen, damit besteht für eine mögliche „Missa brevis“ eine Auswahl aus 3x3 Sätzen. Präludium und Fuge haben jeweils drei Themen und drei Vorzeichen.

    Hier noch ein paar Dreier:

    552 / 2 / 1 - 36 Takte = QS 9 = 3 x 3
    552 / 2 / 2 - 45 Takte = QS 9 = 3 x 3
    552 / 2 / 3 - 36 Takte = QS 9 = 3 x 3
    552 / 2 / 1+2+3 - 117 Takte = QS 9 = 3 x 3

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