Bach, Johann Sebastian: Dritter Teil der Klavierübung
Nur wenige seiner Orgelwerke ließ Bach drucken: die „Sechs Choräle von verschiedener Art“ (sog. „Schübler-Choräle“, BWV 645-650, erschienen 1748/49), die „Canonischen Variationen über ein Weihnachtslied“ (Vom Himmel hoch, BWV 769, erschienen 1749), und eben den „Dritten Theil der Clavier-Übung“ (erschienen 1739).
Hier der originale Titel des Drucks:
Dritter Theil
der
Clavier Übung
bestehend
in
verschiedenen Vorspielen
über die
Catechismus- und andere Gesaenge,
vor die Orgel:
Denen Liebhabern, und besonders denen Kennern
von dergleichen Arbeit, zur Gemüths Ergezung
verfertiget von
Johann Sebastian Bach,
Koenigl. Pohlnischen, und Churfürstl. Saechs.
Hoff-Compositeur Capellmeister, und
Directore Chori Musici in Leipzig.
In Verlegung des Authoris
Die Reihenfolge der einzelnen Sätze, wie sie im Druck erschienen sind, ist die folgende:
Praeludium (Es-Dur, ¢, „pro Organo pleno“, BWV 552/1)
Kyrie, Gott Vater in Ewigkeit (g-phrygisch, ¢, „Canto fermo in Soprano, a 2 Clav. e Pedale“, BWV 669)
Christe, aller Welt Trost (g-phrygisch mit Schluss in C-Dur, ¢, „Canto fermo in Tenore, a 2 Clav. e Ped.“, BWV 670)
Kyrie, Gott Heiliger Geist (g-phrygisch, ¢, „à 5 voci, Canto fermo in Basso, Cum Organo pleno”, BWV 671)
Kyrie, Gott Vater in Ewigkeit (e-phrygisch, 3/4, G-Dur; „Alio modo. Manualiter“, BWV 672)
Christe, aller Welt Trost (e-phrygisch, 6/8, „Manualiter“, BWV 673)
Kyrie, Gott Heiliger Geist (e-phrygisch, 9/8, „manualiter“, BWV 674)
Allein Gott in der Höh' sei Ehr' (F-Dur, 3/4, „Canto fermo in Alto. A 3 voci“, BWV 675)
Allein Gott in der Höh' sei Ehr' (G-Dur, 6/8 „a 2 Clav. e Pedale“, BWV 676)
Fughetta super: Allein Gott in der Höh' sei Ehr' (A-Dur, c, „Manualiter“, BWV 677)
Dies sind die heil'gen zehn Gebot' (G-Dur, 6/4, „Canto fermo in Canone, a 2 Clav. e Pedale“, BWV 678)
Fughetta super: Dies sind die heil'gen zehn Gebot' (G-Dur, 12/8, „Manualiter“, BWV 679
Wir glauben all' an einen Gott (d-dorisch, 2/4, „In Organo pleno“, BWV 680)
Fughetta super: Wir glauben all' an einen Gott (e-dorisch, „Manualiter“, BWV 681)
Vater unser im Himmelreich (e-dorisch, 3/4, „a 2 Clav. e Pedale“, BWV 682)
Vater unser im Himmelreich (d dorisch, 6/8 „Alio modo. Manualiter“, BWV 683)
Christ, unser Herr, zum Jordan kam (c-dorisch mit Schluss in G-Dur, c, „a 2 Clav. E Pedale. Canto fermo in Pedale“, BWV 684)
Christ unser Herr zum Jordan kam (d-dorisch mit Schluss in A-Dur, ¾, „Alio modo. Manualiter“, BWV 685)
Aus tiefer Not schrei' ich zu dir (e-phrygisch, ¢, „a 6 voci. Pro Organo pleno (Manuale e Pedale doppio)“, BWV 686)
Aus tiefer Not schrei' ich zu dir (fis-phrygisch, 2/4, „Alio modo. Manualiter“, BWV 687)
Jesus Christus unser Heiland, der von uns den Gotteszorn wandt (d-Moll, „a 2 Clav. e Pedale. Canto fermo in Pedale“, BWV 688)
Fuga super: Jesus Christus unser Heiland, der von uns den Gotteszorn wandt (e-Moll, „sub communione“, BWV 689)
Duetto (e-Moll, 3/8, BWV 802)
Duetto (F-Dur, 2/4, BWV 803)
Duetto (G-Dur, 12/8, BWV 804)
Duetto (a-Moll, c, BWV 805)
Fuga (Es-Dur, ¢ - 6/4 – 12/8, „a 5 voci“, BWV 552/2)
„Klavier“-Übung?
War die diese Sammlung, die offensichtlich zumindest überwiegend für die Orgel bestimmt war, überhaupt eine „Klavier“-Übung? Ja. Zum einen war „Clavier“ ein Sammelbegriff für Tasteninstrumente aller Art und bezeichnete auch im engeren Sinne die Tastatur, wie man an den obigen Stückbezeichnungen sieht (à 2 Clav. e Pedale). Zum anderen waren von den 27 Stücken immerhin 15 manualiter ausführbar, d. h., sie konnten ohne weiteres auf einem Cembalo gespielt werden.
Orgelmesse?
Gelangt dieser Zyklus ganz oder in Teilen zur Aufführung, so wird gerne der Untertitel „Orgelmesse“ hinzugegeben; dieser findet sich auch bei manchen Einspielungen. Dies geht auf Albert Schweizer zurück und hat durchaus etwas für sich. Bach kannte Orgelmessen französischer Komponisten. Das einleitende Präludium und die abschließende Fuge können problemlos als Vor- und Nachspiel eines Gottesdienstes verwendet werden, Kyrie, Gloria und das Glaubenslied haben ihren natürlichen liturgischen Ort, die Fuge über „Jesus Christus, unser Heiland“ ist sogar explizit als Musik „sub communione“ gekennzeichnet.
Dennoch geht diese Bezeichnung m. E. fehl. Zum einen fehlen typische Bestandteile des Gottesdienstes (wo ist bspw. das Sanctus?), zum anderen hat sich Bach eben nicht am liturgischen Formular von Leipzig orientiert, sondern am Großen und Kleinen Katechismus Dr. Martin Luthers. Dieser beschäftigt sich nach einer Einleitung mit folgenden Themen: (1) Die Zehn Gebote Gottes (2) Die Hauptartikel des Glaubens (3) Das Vaterunser (4) Die Taufe (5) Das Abendmahl (6) Beichte. Diesen sechs Themen können die Luther(!)-Lieder „Dies sind die heilgen Zehn Gebot“, „Wir glauben all an einen Gott“, „Vater unser im Himmelreich“, „Christ, unser Herr, zum Jordan kam“, „Jesus Christus, unser Heiland, der von uns den Gotteszorn wandt“ und „Aus tiefer Not“ völlig zwanglos zugeordnet werden. Als "Catechismus-Gesaenge" sind diese Choräle auch im Titel des Werks bezeichnet.
Wenn überhaupt, so könnte man sagen, dass Bach einen musikalischen Katechismus komponierte – wobei dies wegen der anderen Stücke genauso irreführend wäre. Der Zyklus ist wohl eher nach abstrakt-musikalischen als nach konkret-liturgisch/theologischen Prinzipien geordnet, siehe dazu weiter unten.
In jüngerer Zeit wurde in Frage gestellt, ob diese Musik tatsächlich für den gottesdienstlichen Einsatz vorgesehen war. Dagegen spricht nämlich alleine die zeitliche Ausdehnung manches Choralvorspiels. Aber auch die gewählten Tonarten lassen es wenig plausibel erscheinen, dass die Sätze zur Einleitung des Gemeindegesangs oder zur alternatim-Praxis dienen sollten. Denn dafür sind die sich ergebenden Tonumfänge schlicht zu hoch, erst recht auf einer im Chorton, d. h. ca. einen Ton höher gestimmten Orgel.
Ordnungsprinzipien und Zahlensymbolik
Mit dem Verweis auf Luthers Katechismus ist sogleich ein erster Hinweis auf die zugrunde liegenden Ordnungsprinzipien des Zyklus‘ gegeben. Die ersten neun Choralvorspiele stellen Material für eine „Missa brevis“ dar, die folgenden Bearbeitungen widmen sich den Katechismus-Liedern Luthers. Dabei ist jeder Choral doppelt bearbeitet (Ausnahme: „Allein Gott in der Höh sei Ehr“ dreimal), einmal in einem längeren, einmal in einem eher kurzen Vorspiel. Dafür sind die Bezeichnungen „große Bearbeitung“ und „kleine Bearbeitung“ üblich geworden. Diese sind auch auf Konzertplakaten zu finden. Denn nur selten wird der Zyklus komplett aufgeführt; die Standardversion ist wohl: Präludium Es-Dur – „große Bearbeitungen“ – Fuge Es-Dur. Dann wird normalerweise
J. S. Bach: Dritter Teil der Klavierübung
(große Bearbeitungen)
plakatiert bzw. annonciert. Analog „kleine Bearbeitungen und Duette“ usw.
Die "großen Bearbeitungen" sind stets mit einer Pedalstimme komponiert, die "kleinen Bearbeitungen" manualiter. Bei den drei Vorspielen zu "Allein Gott in der Höh sei Ehr'" ist die mittlere mit Pedal gesetzt, die erste und die dritte verzichten darauf.
Eine weiterer Unterschied: Die "großen Bearbeitungen" führen fast alle den Cantus firmus vollständig durch, d. h. es erklingen alle Zeilen (Ausnahme: "Wir glauben all an einen Gott"); die "kleinen Bearbeitungen" verwenden normalerweise nur die erste Choralzeile (Ausnahmen: "Vater unser im Himmelreich" und "Aus tiefer Not", in beiden erklingt der vollständige Choral).
Die Zahl drei beherrscht den Zyklus im Großen wie im Kleinen: Insgesamt sind es 27=3x3x3 Stücke. Es gibt 2x3 Kyrie-Bearbeitungen und 3 Gloria-Bearbeitungen, damit besteht für eine mögliche „Missa brevis“ eine Auswahl aus 3x3 Sätzen. Präludium und Fuge haben jeweils drei Themen und drei Vorzeichen.
Sehr interessant, zur inneren Ordnung wie zur Zahlensymbolik und überhaupt zum ganzen Werk, fand ich diesen Aufsatz:
http://www.sim.spk-berlin.de/uploads/03-for…-Jb_1994-11.pdf
Darin findet sich bspw. die Feststellung, dass die Grundtöne der vier Duette den nacheinander stehenden Choralvorspielen „Kyrie, Gott Heiliger Geist“ (manualiter) sowie den Gloria-Bearbeitungen folgen. Desweiteren die Feststellung, dass der erste Teil der Klavierübung von den Partiten B-Dur und e-Moll gerahmt wird , d. h. von einer Tritonusbeziehung. Eine solche Beziehung findet sich auch im zweiten Teil der Klavierübung (Italienisches Konzert F-Dur/Ouvertüre h-Moll). Im dritten Teil findet sich eine solche Beziehung zwischen Präludium Es-Dur und dem Ende der Missa brevis (A-Dur) einerseits und zwischen dem letzten Duett (a-Moll) und der abschließenden Fuge Es-Dur andererseits.
Die Tritonus-Beziehungen in Übersicht:
KÜ I: E - B
KÜ II: F – H
KÜ III: Es – A
Das Symmetriezentrum dieser drei Tritonusintervalle ist übrigens der Ton G, der Grundton der Goldbergvariationen, des vierten Teils der Klavierübung …