Wo in der Kette: Sprechtheater – Sprechtheater mit Schauspielmusik – "Posse" mit Musik/Couplets – Oper (oder auch Operette/Musical) mit gesprochenen Dialogen – Oper mit secco-Rezitativen – "voll durchkomponierte" Oper hört das Sprechtheater auf und fängt die reinrassige Oper an? Jede Grenzziehung wäre hier doch rein willkürlich!
Grenzziehungen sind in ästhetischen Fragen immer etwas riskant, und ganz sauber und für jeden Fall gültig wird man sie kaum hinbekommen. Immerhin wäre ein Kriterium, mit dem sich schon mal arbeiten lässt: Oper (oder besser: Musiktheater im weitesten Sinne) beginnt da, wo die entscheidenden Handlungsvorgänge bzw. Drehpunkte musikalisch gestaltet werden. Das trifft für das Schauspiel mit Musik nämlich nicht zu, weshalb die "Dreigroschenoper" ungeachtet des Titels keine Oper ist, die "Entführung aus dem Serail" aber sehr wohl. Daraus ergibt sich übrigens auch, dass die Vorgänge und Drehpunkte so angelegt sein müssen, dass eine Gestaltung mit musikalischen Mitteln möglich ist. Und daraus folgen dann die strukturellen Unterschiede zwischen einem Schauspieltext und einem Opern- oder Operettenlibretto.
ZitatAlle Beteiligten singen sequentiell: kein Unterschied zum Sprechtheater. Beispiel: Duett Nr. 4 aus dem Barbier (All'idea di quel metallo…)
Ich glaube allerdings, dass es ein ganz erheblicher Unterschied ist, ob ein Dialog oder Monolog gesprochen oder gesungen wird. Schon allein deshalb, weil es nicht wenige Dinge gibt, die man zwar sprechen aber nicht singen bzw. zwar singen aber nicht sprechen kann. Von gewissen Ausdrucksbereichen, die nur der Musik bzw. nur dem gesprochenen Text zugänglich sind, ganz abgesehen.
ZitatMan kann jedes Schauspiel zur Oper vertonen, aber nicht jedes Opernlibretto als Schauspiel aufführen.
Das stimmt natürlich nicht. Ein Schauspieltext kann aus ausgesprochen ausführlichen Argumentationen und juristischen Darlegungen bestehen, die sich einer Vertonung entziehen. Ganz abgesehen davon, dass ein Schauspieltext sehr unvollständig sein muss, wenn er der Musik noch Raum lassen soll, wo sie sich entfalten kann. Aus eben diesem Grunde muss er so umgearbeitet werden, dass er als Libretto funktionieren kann. Kürzungen reichen manchmal - aber keineswegs immer - aus. Meist sind gründlichere Umarbeitungen erforderlich. Am Beispiel des "Rigoletto" kann man das sehr schön sehen. Am Beispiel des "Figaro" übrigens auch, denn selbstverständlich ist die große Rede des Figaro, die seinerzeit der Stein des Anstoßes war, nicht aus politischen Gründen nicht in der Oper vorhanden, sondern weil sie einfach nicht vertont werden kann. Zwei weitere schöne Beispiele sind die beiden Opern Alban Bergs. Vor allem am "Wozzeck" ist es hochinteressant, die scheinbar kleinen, in Wahrheit aber entscheidenden Einschnitte in die und Veränderungen an der Textstruktur der einzelnen Szenen zu studieren, die im Prozess der Umarbeitung des Textes in ein Libretto vorgenommen wurden.
Übrigens wüsste ich gern ein Opernlibretto, das als Schauspiel aufgeführt werden kann. Mir ist im Moment keins erinnerlich.