FACCIO: "Amleto" (Bregenz, Festspielhaus, Première 20. 7. 2016)

  • FACCIO: "Amleto" (Bregenz, Festspielhaus, Première 20. 7. 2016)

    Liebe Capricciosi!

    Gestern hatte im Bregenzer Festspielhaus Franco Faccios nahezu vergessene Oper "Amleto" auf ein Libretto von Arrigo Boito Première. Vom 23jährigen Librettisten und 25jährigen Komponisten seinerzeit als Speerspitze des "Melodramma nuovo" gegen Verdis altbackene Jahrmarktlangobarden und Humtata-Huren geplant, wurden das Werk und sein Schöpfer zwar bei der Uraufführung 1865 in Genua umjubelt, fiel aber bei der zweiten Aufführungsserie 1871 an der Scala nicht zuletzt aufgrund eines völlig indisponierten Tenors in der Titelrolle kolossal durch und war von da an bis 2014 nicht mehr auf den Opernbühnen zu sehen und zu hören. Franco Faccio stellte nach diesem Misserfolg das Komponieren völlig ein und arbeitete fortan nur noch als Dirigent - was uns da alles entgangen sein könnte! Nach der Erstellung einer kritischen Edition durch Anthony Barrese und der modernen Erstaufführung in Albuquerque hat nun die Bregenzer Intendantin Elisabeth Sobotka den Mut und die verantwortungsvolle Voraussicht bewiesen, den "Amleto", mit dem sie sich schon in ihrer Diplomarbeit (Wien 1990) beschäftigt hatte, auch in Europa wieder bekanntzumachen. Ich habe die TV-Übertragung gesehen (ein Besuch einer realen Aufführung folgt in Kürze) und würde nicht zögern, diese Produktion als Wiederentdeckung des Jahres zu bezeichnen!

    Arrigo Boito kondensiert Shakespeares Dänentragödie geschickt, wie wir es von ihm gewohnt sind, in ein spannungsreiches, stringentes, psychologisch raffiniertes vieraktiges Drama. Schon in diesem Jugendwerk offenbart sich Boitos ganze Meisterschaft beim Einrichten von Theaterstücken für die Erfordernisse des Musikdramas - das ist mindestens genauso gut wie die späteren Libretti für Verdi! Ebenso spannungsgeladen ist Faccios Musik, intensiv, düster und dramatisch, aber auch reich an Melodien. Das Spätwerk Verdis wird hier um 15 bis 20 Jahre vorweggenommen (man kann sich fragen, ob Verdi nicht mit seinen letzten Opern auch auf solche neueren Entwicklungen in Italien reagiert, statt zu agieren), mit der italienischen Tradition wird aber nicht gebrochen, sie vielmehr um durchaus delikate Anklänge an Meyerbeer und Wagner angereichert. Die Nummernoper ist bisweilen noch zu spüren, aber die Tableaus überwiegen. Im direkten Vergleich zum oftmals spröden und sparsam instrumentierten Verdi wirkt Faccios Musik dunkler, sinfonischer, romantischer, und mit mehr Sensibilität für Orchesterfarben. Wie Verdi ist er aber in der Lage, auch rauschende Chorsätze, schwungvolle Trinklieder (Brindisi des Claudius) und ausgelassene Tanzrhythmen zu komponieren. Ein Höhepunkt ist vielleicht die Theaterszene, wo Schichten aus klassizistischer Schauspielmusik (in der Wirkung etwa der Commedia-Musik in Leoncavallos "Pagliacci" vergleichbar), kommentierendem Chor, dramatisch ausbrechendem Königspaar und dem triumphierenden Hamlet übereinander getürmt werden. Kurzum: Ich halte dieses Werk für Verdis späten Opern (ab "Don Carlos") absolut ebenbürtig; Verdis jahrzehntelange Erfahrung kompensiert Faccio mit jugendlichem Sturm und Drang mehr als ausreichend. Es ist auch spannend zu sehen, dass mehr als ein Weg in den Verismo führt, und dass es neben Verdi in den 1860er Jahren auch noch andere hervorragende Opernkomponisten in Italien gab.

    Besonders erfreulich an dieser Wiederentdeckung ist aber, dass in Bregenz ein hochkarätiges Ensemble agiert, das gute Chancen hat, mit der hoffentlich erfolgenden Veröffentlichung des Mitschnitts gleichzeitig eine maßstabsetzende Referenz vorzulegen. Noch erfreulicher, dass es hauptsächlich sehr junge Sängerinnen und Sänger sind, die hier auch die Möglichkeit haben, internationale Bekanntheit zu erlangen - an vorderster Front der Sänger des Amleto, Pavel Černoch, der mit weiß geschminktem Gesicht singt und spielt wie der Teufel. Die oftmals hohe Lage der langen und mörderisch schwierigen Titelpartie bewältigt er ebenso mühelos wie die dramatischen Attacken und wirbelt dabei auch noch über die Bühne. Mit seinem virilen Timbre und seiner leidenschaftlichen Darstellung zeichnet er einen vitalen und ungestümen Rächer, einen Getriebenen ohne die weichliche Weinerlichkeit, die der Rolle in Sprechtheateraufführungen oft zu Unrecht anhaftet. Das ist ganz große Klasse, wie man sie heute nicht von vielen Tenören geboten bekommt, und man versteht den Eklat von Mailand 1871 etwas besser, da diese Oper ohne exzellenten Tenor sicherlich nur der halbe Spaß ist. Die junge rumänische Sopranistin Iulia Maria Dan singt die Ofelia mit bemerkenswerter Tiefe und charaktervollem Spinto, der sie für zahlreiche Verdi-Heroinen (z.B. die Amelia und Desdemona) ebenso wie für die großen Sopranrollen des Verismo (Mimi, Butterfly, Giorgetta, Santuzza, Mefistofele-Margherita...) prädestiniert. Besonders anrührend ihre Todesszene in grün bestrahlter, an Waterhouse und Millais gemahnende Uferlandschaft, ein Musterbeispiel an musikalischer semplicità. Dem bösen König Claudio leiht Claudio Sgura seinen prachtvollen schwarzen Bassbariton und seine Bühnenpräsenz. Die mir aus Graz bestens bekannte Dshamilja Kaiser fügt ihrer langen Liste von Erfolgen mit ihrer intensiven Darstellung der unglücklichen Königin Gertrude, die von Boito und Faccio mit einer Reue-Arie aufgewertet wird, einen weiteren Triumph hinzu. Zuletzt hatte ich ihren berückenden Mezzo ja im Frühjahr als Katerina in Martinus "Greek Passion" erlebt. Auch die Comprimarii sind erstklassig: Gianluca Buratto als Geist des Vaters verfügt über einen echten Basso profondo, der bis in die tiefsten Tiefen durchschlagskräftig bleibt, Paul Schweinester bietet als Ofelias Bruder Laerte einen hell timbrierten, aparten lyrischen Tenor und überzeugende Fechtkunst.

    Die Inszenierung von Olivier Tambosi geht über die angemessene Bebilderung der Handlung wenig hinaus, wie das bei einer Wiederentdeckung meiner Meinung nach auch angebracht ist. Die Kostüme (Gesine Völlm) sind - wohl inspiriert vom "Stück im Stück" - deutlich an die Commedia dell'arte angelehnt und ebenso auch manche Elemente der Inszenierung, wie Hamlets Pagliacci-artiges Aufziehen des Vorhangs vor dem zweiten Akt. Natürlich wird auf Schädel nicht verzichtet.

    Die Liveübertragung der Première ist in der ORF-TVthek noch 5 Tage nachzuhören und nachzusehen. Das lohnt sich unbedingt, nehmt euch am Wochenende drei Stunden Zeit und genießt das! Weitere Aufführungen in Bregenz: leider - und unverständlicherweise - nur noch 25. 7. und 28. 7. Dann müssen wir hoffen, dass viele Opernhäuser inspiriert werden, dieses beeindruckende und wohl nur aufgrund widriger Umstände vergessene Werk nachzuspielen. Es wäre ihm wirklich vergönnt, dem Status einer Rarität entrissen zu werden!

    Liebe Grüße,
    Areios

    "Wenn [...] mehrere abweichende Forschungsmeinungen angegeben werden, müssen Sie Stellung nehmen, warum Sie A und nicht B folgen („Reichlich spekulativ die Behauptung von Mumpitz, Dinosaurier im alten Rom, S. 11, dass der Brand Roms 64 n. Chr. durch den hyperventilierenden Hausdrachen des Kaisers ausgelöst worden sei. Dieser war – wie der Grabstein AE 2024,234 zeigt – schon im Jahr zuvor verschieden.“)."
    Andreas Hartmann, Tutorium Quercopolitanum, S. 163.

  • Funfact: Der Trauermarsch für Ofelia ("Marcia funebre") hat als einziges Stück der Oper eine ununterbrochene Aufführungstradition - als fixer musikalischer Bestandteil der Osterprozession auf Korfu! Mich hingegen erinnert dieser Marsch motivisch an das trauermarschartige "Agnus Dei" aus Franz von Suppés Requiem (auch so ein vernachlässigtes Werk aus der Mitte des 19. Jh.), ich weiß nicht, ob es da eine Verbindung geben kann oder ob sich einfach beide Komponisten an der Trauermarsch-Tradition bedienen.

    "Wenn [...] mehrere abweichende Forschungsmeinungen angegeben werden, müssen Sie Stellung nehmen, warum Sie A und nicht B folgen („Reichlich spekulativ die Behauptung von Mumpitz, Dinosaurier im alten Rom, S. 11, dass der Brand Roms 64 n. Chr. durch den hyperventilierenden Hausdrachen des Kaisers ausgelöst worden sei. Dieser war – wie der Grabstein AE 2024,234 zeigt – schon im Jahr zuvor verschieden.“)."
    Andreas Hartmann, Tutorium Quercopolitanum, S. 163.

  • "Wenn [...] mehrere abweichende Forschungsmeinungen angegeben werden, müssen Sie Stellung nehmen, warum Sie A und nicht B folgen („Reichlich spekulativ die Behauptung von Mumpitz, Dinosaurier im alten Rom, S. 11, dass der Brand Roms 64 n. Chr. durch den hyperventilierenden Hausdrachen des Kaisers ausgelöst worden sei. Dieser war – wie der Grabstein AE 2024,234 zeigt – schon im Jahr zuvor verschieden.“)."
    Andreas Hartmann, Tutorium Quercopolitanum, S. 163.

  • 3. (und leider letzte) Aufführung, 28. 7. 2016

    Liebe Capricciosi!

    Wenn man eine Produktion live hört und sieht, nachdem man schon die Fernsehübertragung der Première genossen hat, erhebt sich natürlich die Frage, wie sich das Live-Erlebnis zur Konserve verhält. Wie wirkt sich die originale Akustik gegenüber der Tonabnahme aus? Wie viel wurde bei der Tonabmischung noch getrickst? Wie wirkt die Inszenierung auf der großen Bühne, im Vergleich zu den Close-ups der Kamera?

    Im Falle von Franco Faccios "Amleto" in Bregenz war das Live-Erlebnis jedenfalls noch ungleich beeindruckender als die Übertragung. Zu meinem Lob der Sängerleistungen oben habe ich nur wenig hinzuzufügen: etwa dass mir Claudio Sguras grandioser und nobler Bassbariton live noch einmal besser gefallen hat, dass Dshamilja Kaisers glorreiche Acuti in den Ensembles live erst so richtig zur Geltung kamen und die Gertrude wirklich eine Glanzrolle für jede Weltklasse-Mezzosopranistin ist (die in den Ensembles oftmals wie ein Solosopran gesetzt ist), und dass ich die Liste von hervorragenden Sängerleistungen unbedingt noch um Sébastien Soulès' tiefschwarzen Bassbariton in der kleinen Nebenrolle des Orazio ergänzen muss.

    Sehr profitiert hat vom Live-Erlebnis aber mein Überblick über die Inszenierung und das Bühnenbild, auch wenn ich angesichts meines Platzes - ich saß am Rang in der fünften Reihe - die Close-ups von Pavel Černochs jokerhaft fingiertem Wahnsinnsgrinsen, die in der Übertragung so gut herausgekommen ist, etwas vermisste. Die Doppelung des roten Bühnenvorhangs im Bühnenhintergrund etwa, um den dann am Ende, wo in guter alter Shakespeare'scher Manier alle Protagonisten tot am Boden liegen, ein Jahrmarktsbühnen-Glühbirnenkranz als Abglanz der Jenseitshoffnung erstrahlt; der allgegenwärtige Granitblock als Symbol der Schuld, der in der Fernsehübertragung allzu oft aus dem Bild verschwunden war; der Einsatz der Drehbühne und vieles mehr konnte ich erst gestern wirklich erfassen, und ich muss doch sagen: Das ist eine sehr gut gemachte Inszenierung mit vielen suggestiven Bildern, die geradezu ideal ist, ein solches Werk erstmals zur Diskussion zu stellen. In den "Vorarlberger Nachrichten" konnte man lesen, dass es schon einige Anfragen von deutschen und italienischen Häusern gebe, die die Produktion übernehmen wollen - das wundert mich nicht. Wenn ich Intendant wäre, würde ich mich spätestens nach dem Live-Eindruck gestern auch darum bemühen (und dabei gleich auch noch um Pavel Černoch und Dshamilja Kaiser).

    Das Festspielhaus war, soweit ich sehen konnte, bis auf den letzten Platz ausverkauft, und das Publikum voll dabei. Frenetischer Szenenapplaus insbesondere für Dshamilja Kaiser nach der Arie der Gertrude im dritten Akt, aber auch für Pavel Černoch und Iulia Maria Dan nach dem "Essere o non essere"-Monolog und nach dem Duett im zweiten Akt. Nach dem Schlussapplaus hörte ich eine Besucherin hinter mir zu ihrem Begleiter sagen: "DIE Oper ist jetzt aus der Versenkung draußen!" Es ist zu hoffen, dass sie Recht behält.

    Da auch noch weitere Capricciosi anwesend waren, mit denen sich in der Pause ein nettes, aber leider nur kurzes Treffen ergab, hoffe ich doch darauf, dass hier jetzt die Diskussion um Franco Faccios "Amleto" noch ein bisschen in Gang kommt... ;)

    Liebe Grüße,
    Areios

    "Wenn [...] mehrere abweichende Forschungsmeinungen angegeben werden, müssen Sie Stellung nehmen, warum Sie A und nicht B folgen („Reichlich spekulativ die Behauptung von Mumpitz, Dinosaurier im alten Rom, S. 11, dass der Brand Roms 64 n. Chr. durch den hyperventilierenden Hausdrachen des Kaisers ausgelöst worden sei. Dieser war – wie der Grabstein AE 2024,234 zeigt – schon im Jahr zuvor verschieden.“)."
    Andreas Hartmann, Tutorium Quercopolitanum, S. 163.

  • Ich war ja, wie Areios angedeutet hat, auch in der - leider - letzten Aufführung am Donnerstag. Im Online-Merker habe ich meine Eindrücke zu dieser Vorstellung veröffentlicht und hänge gerne den entsprechenden Link an (als Autor gebe ich mir das Recht dazu :D )

    http://der-neue-merker.eu/bregenz-festsp…zte-Vorstellung

    Es war eine wirklich sehens- und hörenswerte Aufführung und es ist bedauerlich, dass aus heutiger Sicht diese Produktion entsorgt wir. Publizierte Anfragen aus verschiedenen Häusern stehen angeblich im Raum.

    Grüße vom Bodensee
    Michael

  • Liebe Capricciosi,

    jetzt gibt es auch den Mitschnitt auf Blu-Ray bzw. DVD:

    Eine unbedingte Empfehlung!

    Liebe Grüße,
    Areios

    "Wenn [...] mehrere abweichende Forschungsmeinungen angegeben werden, müssen Sie Stellung nehmen, warum Sie A und nicht B folgen („Reichlich spekulativ die Behauptung von Mumpitz, Dinosaurier im alten Rom, S. 11, dass der Brand Roms 64 n. Chr. durch den hyperventilierenden Hausdrachen des Kaisers ausgelöst worden sei. Dieser war – wie der Grabstein AE 2024,234 zeigt – schon im Jahr zuvor verschieden.“)."
    Andreas Hartmann, Tutorium Quercopolitanum, S. 163.

  • Liebe Capricciosi,

    und jetzt auch den Mitschnitt als CD:


    Liebe Grüße,
    Areios

    "Wenn [...] mehrere abweichende Forschungsmeinungen angegeben werden, müssen Sie Stellung nehmen, warum Sie A und nicht B folgen („Reichlich spekulativ die Behauptung von Mumpitz, Dinosaurier im alten Rom, S. 11, dass der Brand Roms 64 n. Chr. durch den hyperventilierenden Hausdrachen des Kaisers ausgelöst worden sei. Dieser war – wie der Grabstein AE 2024,234 zeigt – schon im Jahr zuvor verschieden.“)."
    Andreas Hartmann, Tutorium Quercopolitanum, S. 163.

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