Sergei Prokofjew - zu wenig geschätzt?
Anlaß für die Themenfrage bietet eine Diskussion, die eigentlich Schostakowitsch betrifft, genauer: dessen 5. Symphonie, komponiert 1936/37 mitten in der Zeit des Stalinismus Schostakowitsch: 5. Sinfonie in d-moll op. 47. Bei Schostakowitschs Werken wird ja gern und heftig - im Forum an mehreren Stellen nachzulesen - dessen Haltung zur Sowjetunion, so wie sie sich in den 1930ern/40ern unter Stalin entwickelt hat, thematisiert, mit kontroversen Akzenten.
Merkwürdigerweise lese ich über solche Beziehungen Musik-Politik viel weniger bei Sergei Prokofjew, obwohl dieser ebenso Anlaß bieten könnte wie Schostakowitsch. Im Unterschied zu diesem war jener 1918 nach der Oktoberrevolution aus Rußland emigriert, zunächst in die USA; ab 1920 lebte er dann meistens in Frankreich. Doch Mitte in den 1930er, eben zu der Zeit, als die Schostakowitsch-Stalin-Geschichte begann, mit den für Schostakowitsch so lebensbedrohlich werdenden Zuständen, war es Prokofjew, der freiwillig in die UdSSR zurückkehrte, um dort bis zu seinem Lebensende - bekanntlich starb er dort am selben Tag und Ort wie Stalin am 5. März 1953 in Mokau.
Ein Prokofjew-Kenner bin ich nicht. Daher nur ein paar Daten zum Komponisten als Grundlage für weitere Überlegungen. Es gibt anscheinend drei Phasen in dessen werk, a) eine russische Phase bis zur Emigration 1918, b) eine Phase des Exils, c) eine Phase ab ca. 1936 bis zum Lebensende in Moskau.
Gelesen habe ich mehrfach, daß sich mit dem Übergang von Phase b zu Phase c auch eine Änderung in der Tonsprache Prokofjews zeigt: weg von einer wilden, dissonanten Musik hin zu einer eher harmonisch ausgerichteten, allgemeinverständlicheren Musik. Ähnliches läßt sich wohl bei Schostakowitsch beobachten, etwa beim Übergang von der 4. zur 5. Symphonie.
Falls man dies so sieht (möglicherweise lehne ich mich mit dieser Parallelisierung zu weit hinaus?), ergibt sich ein auffälliger Unterschied: Prokofjew begab sich freiwillig in den Herrschaftsbereich Stalins; in Europa oder Amerika hätte er auch ganz andere Möglichkeiten gehabt, jedenfalls wäre das für ihn einfacher gewesen als etwa für Schostakowitsch eine Emigration in den Westen.
Schwierigkeiten bekam auch Prokofjew in der UdSSR, mußte sich dort dem Vorwurf des "Formalismus" aussetzen, was unter Stalin bekanntlich gefährlich war!
Soweit in aller Kürze. Der Thread versteht sich als allgemeiner Thread zum Komponisten Prokofjew und zu seinem Werk, das mit dem Schostakowitschs verglichen werden kann - aber auch in sich, wie ich meine, hinreichend umfassend und wertvoll ist, um als eigenes Thema diskutiert zu werden.
Etwas Persönliches noch: Ich mag Prokofjews eigenartige und merkwürdige Art plötzlicher harmonischer Rückungen, die dem Hörer oft ganz feine, doch auffällige und schnelle Perspektivenwechsel bieten, etwa in der Symphonie classique (1916/17) und im Ballett Romeo und Julia (1935/36). Da gibt es Stellen, die mir ganz unverwechselbar und charakteristisch erscheinen. Außerdem schätze ich die letzten Symphonien (Nr. 6 und 7) in ihren düsteren Art.
Die Oper Die Liebe zu den drei Orangen (1919) habe ich vor Jahren in einer schönen Aufführung in Stuttgart erlebt. Prokofjews Kammermusik kenne ich so gut wie gar nicht, da lasse ich mich gern auf Empfehlungen ein.