Empirisch-kapriziöse Intonationsstudie - Diskussionsthread

  • Zu Tristan.

    a: Schon die intiale Sexte geht gar nicht ... ... sowohl der hartverm. E7 als auch seine Auflösung sind grauslich ... 2 oder 3 auf einer Skala von 0 bis 10.

    b: Ähnlich wie a, E7 hartv./aufgelöst sind grauslich. Noch schlimmer. 1 oder 2 von 10.

    c: Erträglich, aber weit gespannt in T. 3. ais-h klingt seltsam. 6 oder 7 von 10.

    d: Klingt ziemlich "normal". Tristanakkord etwas "gequetscht". 9 oder 10 von 10. Gleichstufig?

    e: Irgendetwas stimmt mit dem finalen E7 nicht. Das d stört mich. Aber besser als c, 7 oder 8 von 10.

    Also von schlecht bis gut: b - a - c - e - d.

    Interessant fand ich, dass der Tristanakkord mir in allen Stimmungen erträglich war. Das hört man sich bei diesem Dissonanzgrad wohl zurecht. Erst beim konsonanzenreicheren E7 trennen sich die Bewertungen ...

    Gruß
    MB

    :wink:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Nur den Akkord isoliert gehört, kann ich a-b-c auch kaum auseinander halten. Mal kommt mir der eine oder andere Ton verschoben vor, aber beim nächsten Mal ist es dann schon wieder anders. Auch e wüßte ich kaum davon zu unterscheiden, kann man aber nur schwer vergleichen, weil er durch d abgetrennt ist, der ja doch sehr anders klingt und mir (vll dadurch) am besten gefällt. Der Melodieton scheint sich hier in meinen Ohren am besten abzuheben, was ich positiv finde. Ein ranking macht bei so wenig Unterschied wenig Sinn. (Auflösung kann ich gerade nicht aufrufen?)

  • Auflösung kann ich gerade nicht aufrufen?

    die ist bei mir auch noch nie gegangen. Ich würde aber auf jeden Fall das Gesamtbeispiel hören, da die Unterschiede demEindruck mehrere nach wesentlich deutlicher bei der Auflösung sind als bein berühmten Akkord.

    ---
    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Senf: d-b-a-c-e (von "gefällt mir gut" nach "eher nich so"). Ich fürchte, ich orientiere mich an der Stimmung mir bekannter Aufnahmen und kann Abweichungen davon in diesem Beispiel wenig abgewinnen...

  • Ok, die Auswertung der zweiten Runde ergibt folgendes Ranking: d - c - e - a - b. d führt dabei relativ deutlich, aber das Ergebnis ist bei nur sechs Teilnehmern natürlich nicht allzu repräsentativ. Interessant finde ich aber die jeweiligen Begründungsversuche.


    a (alt)b (alt)cde
    EinTon21543
    philmus23451
    Areios54123
    zabki1,51,5354
    Mauerblümchen21354
    El Duderino34251
    Summe15,514,5182616

    Historische Temperierungen (mitteltönig oder wohntemperierte Stimmungen des 18. Jahrhunderts) habe ich nicht verwendet, da ich sie im Zusammenhang mit dem Tristanakkord für anachronistisch hielt.
    Version d unterscheidet sich, wie auch allen auffiel, insofern stark von den anderen vier, als es sich hierbei um die gleichstufig temperierte Stimmung handelt. Ihr habt sie folglich auch meist als vertraut, normal usw. beschrieben.
    Die anderen vier Versionen sind rein intoniert. Die Unterschiede kommen durch den Einbezug der Naturseptime zustande.

    Version a verwendet nur reine Intervalle ohne Naturseptimen. Interessanterweise scheint der Dominantseptakkord mit reiner Terz und "diatonischer" Septime (Produkt aus zwei reinen Quarten, d.h. Frequenzverhältnis 16/9 [vorher wg. Rechenfehler: 9/5, also r. Quinte + r. Mollterz]) im Vergleich nicht besonders zu gefallen (zabki, Mauerblümchen).
    Der Tristan-Akkord in reiner Stimmung ist eigentlich ziemlich interessant. Der Akkord ist ja wenn man so will ein Zwitter aus übermäßigem Sextakkord (häufig ja mit Terz und Quarte) und übermäßigem Sekundakkord (Umkehrung des verminderten Sextakkords), also zwei charakteristischen Akkorden auf der sechsten Tonleiterstufe. Das charakteristische Intervall der übermäßigen Sexte f-dis1 unterscheidet sich signifikant von ihrem enharmonischen Pendant, der kleinen Septime f-es1: es ist viel enger und kommt damit der Naturseptime sehr nahe.
    Deshalb hatte der Musikwissenschaftler Martin Vogel, Verfechter der reinen Stimmung und des Dur-Moll-Dualismus (Moll=Untertonreihe), den Tristan-Akkord als "Unter-Septakkord" aufgefasst – also als Spiegelung des Dominantseptakkords!
    Wenn man das f enharmonisch zu eis verwechselt und in Terzen schichtet, erhält man den von philmus angesprochenen halbverminderten Septakkord: eis-gis-h-dis. Von dis nach unten gelesen (nach dem Dualismus nach Hugo Riemann liest man Moll von oben nach unten), hat man die Intervalle: gr. Terz – kl. Terz – kl. Terz, also genau wie der Dur-Dominantseptakkord von unten nach oben.

    Martin Vogel vertritt nun die verwegene Ansicht, man müsse alle Dominantseptakkorde und das Moll-Pendant, den halbverminderten Septakkord als dessen Spiegelung, mit Naturseptime intonieren, da man damit das einfachste Zahlenverhältnis und damit den geringsten Schwebungsgrad erhält.

    Nun zum Vergleich:

    reine übermäßige Sexte = gr. Ganzton 9/8 + r. Terz 5/4 + r. Terz 5/4 = 9/8 * 5/4 * 5/4 = 225/128 = 976.54 Cent
    Naturseptime = 7/4 = erweitert: 224/128 = 968.83 Cent

    Der Unterschied beträgt also nur knapp 8 Cent!
    8 Cent sind nicht viel, aber man kann sie hören. Ich meine, sie ändern die Qualität des Akkords schon signifikant. Zum Vergleich: die gleichstufige Terz unterscheidet sich von der reinen um knapp 14 Cent, was man sehr deutlich hört. Die gleichstufige Quinte unterscheidet sich von der reinen um nur 2 Cent, was man fast nicht wahrnimmt.

    Version b ist also identisch mit a, nur, dass der Tristanakkord mit Naturseptime intoniert ist. Damit ist also der Basston auch ein klein wenig höher als das f in der Melodie kurz zuvor.
    Den Qualitäts-Unterschied hat Areios so wahrgenommen, dass Version a expressiver als b ist. Ich denke auch, dass die reine übermäßige Sexte sehr viel Spannkraft hat (ihrer intervallischen Funktion entsprechend), während der Naturseptimen-Akkord von Version b in sich ruhender, isolierter klingt.

    Bei Version c ist außer dem Tristanakkord auch der Auflösungsakkord mit Naturseptime intoniert, bei Version d ist der Tristanakkord wie a mit reiner übermäßiger Sexte, der Auflösungsakkord aber mit Naturseptime intoniert.
    Hier finde ich die Frage nach der "Natur" der Septime sehr interessant: Ursprünglich ist die Septime ja (auch im – anachronistisch gesprochen – Dominantseptakkord) eine Synkopendissonanz, also ein überhängender Ton vom vorherigen Klang, der quer steht und in den eigentlichen Akkordton aufgelöst werden muss. Nach diesem Konzept macht m. E. die dem Zahlenverhältnis nach dissonantere Septime 16/9 mehr Sinn. Man stelle sich bspw. vor, davor klingt F-Dur und das F hängt eben über. Ich sehe keinen Grund, es – in dem Moment, wo es zur Sept-Dissonanz wird – der Vertikale nach anzupassen, denn es ist ja ein harmoniefremder Ton.
    Im Laufe der Zeit emanzipiert sich aber die Septime im Dominantseptakkord und wird zu einer "wesentlichen" Dissonanz (Kirnberger), die also zum Akkord dazu gehört.
    Bei Wagner ist nun, wenn man so will, das dritte Stadium erreicht, und der E7 Dominantseptakkord klingt gar nicht mehr auflösungsbedürftig – das ist ja das so oft diskutierte Phänomen bei dieser Anfangsphrase. Der Septakkord hat sich als (Auflösung!-)Klang hier anscheinend vollständig emanzipiert. Deshalb finde ich die Theorie von Martin Vogel nicht uninteressant, dass bei dieser Art von Harmonik die Naturseptime in das Tonsystem Einzug erhält. Seltsam ist vielleicht wiederum, dass der melodische Schritt dis-d dann kein chromatischer Schritt mehr ist, sondern größer. Es stellt sich also hier aus meiner Sicht die Frage, wie sich das mit der Melodik vereinbaren lässt... der Klang an sich ist aber sehr reizvoll, in sich ruhend, vielleicht seinem Affekt entsprechend?

    Ich persönlich kann man Areios' Beurteilung ganz gut anschließen: d empfinde ich als ziemlich grau und inkonkret, den Tristanakkord rein intoniert als sehr expressiv, zum Affekt genau passend. Mit Naturseptime, finde ich, verliert er an Expressivität und ruht mehr in sich, was für mich nicht zum Kontext passt.

    Spannend auch der initiale melodische Sextsprung: sagt Mauerblümchen als reine kleine Sexte überhaupt nicht zu, auch ich empfinde ihn als zu groß. Damit wären wir wieder beim Thema der ersten Runde: melodische Intonation also pythagoreisch?

    Edit: bei a und b hatte sich ein dämlicher Rechenfehler eingeschlichen, die Septime am Schluss war 9/5 statt 16/9. Wäre eine dritte Option (laut M. Vogel sogar besser), war aber nicht geplant... :S Sollte jetzt weniger "grauslich" (Mauerblümchen) klingen. Wertung kann natürlich nachträglich korrigiert werden.

  • Oha, also ich bin offenbar regelmäßig der Advokat der reinen Stimmung... interessant! 8o Vielleicht liegts ja an jahrelanger Chorerfahrung und häufigem Hören von A-Cappella-Musik. ?(

    "Wenn [...] mehrere abweichende Forschungsmeinungen angegeben werden, müssen Sie Stellung nehmen, warum Sie A und nicht B folgen („Reichlich spekulativ die Behauptung von Mumpitz, Dinosaurier im alten Rom, S. 11, dass der Brand Roms 64 n. Chr. durch den hyperventilierenden Hausdrachen des Kaisers ausgelöst worden sei. Dieser war – wie der Grabstein AE 2024,234 zeigt – schon im Jahr zuvor verschieden.“)."
    Andreas Hartmann, Tutorium Quercopolitanum, S. 163.

  • Auf welchen Grundton ist denn die reine Stimmung bezogen? Auf a??

    Ja, natürlich auf a. Bei der ganzen Rechnerei hatte sich aber bei a (und b entsprechend kopiert) bei einem Ton ein Fehler eingeschlossen, also hier am besten die Auflösung wie ich sie eigentlich haben wollte nochmal nachwerten.. (s. o.)

  • [...] Der hier befindliche Satz wurde versplittert [...]

    Ist nur meine Meinung, aber ich wollte diese mal kundtun.
    Im späteren Leben dann noch viel Spaß mit diesem Unsinn.

    du hast leider die Gelegenheit nicht genutzt, durch eine genaue Analyse der Beispiele allen hier zu zeigen, was 'ne Harke ist.

    ---
    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • du hast leider die Gelegenheit nicht genutzt, durch eine genaue Analyse der Beispiele allen hier zu zeigen, was 'ne Harke ist.

    Was für eine Analyse?
    Ich sitze ständig in einem völlig verstimmten Gebilde, welches sich Orchester oder Quartett nennt.
    Und da zieht dann auch immer jemand sein Stimmgerät heraus oder behauptet, ein anderer wäre ein MÜ anders etc.
    Was für ne Harke soll ich bei diesen Gehirnakrobatischen Äußerungen zeigen?

    Wir hatten hier letztens mal einen sehr bekannten Pianisten, der den Flügel auf einen ganz bestimmte Art und Weise gestimmt haben wollte.
    Irgendsowas mit großen Quinten.
    Oder Terzen.
    Oder engen Terzen.
    Oder sonstwas.
    Alle haben sich ins Hemd geschissen, wie DAS dann wohl klingen würde und ob die Intonation mit dem Orchester klappt.

    Also wirklich:
    Schlussendlich hat der Flügel genau so beschissen geklungen wie immer.
    Der Solist hat langweilig gespielt und niemanden ist die besondere Stimmung des Flügels-welche durchgeführt wurde- auch nur im geringsten aufgefallen.

    Daher belustigen oder entfremden mich solche Diskussionen.
    Und etwas beweisen muß ich gar nicht.

    Ich zeige lieber auf der Bühne als aktiver Musiker, was eine Harke ist.
    Auch und vor allem im Bereich Intonation.
    Und da muß es schnell gehen, sehr schnell!
    Da sind keine Diskussionen über Mikrotonabstände gefragt, da muß ich mit der Intonation des Fagotts, der Klarinette, des Kontrabasses etc. klar kommen.
    Und zwar schnell.

    Und das sind größere Tonabstände als ein MÜ.
    Oder ein Viertelton.......

    Auch im Streichquartett.

    Daher habe ich für alle Probleme, welche sich im Bereich Stimmung von Akkorden und der Intonation ergeben, immer ein Paar Ohren
    dabei. :ironie1:

    Und auf die kann ich mich verlassen sowie gegebenenfalls irgendwelche Sonderwünsche bedienen, da ich flexibel bin.

    Erklären und ausrechnen muß das Resultat dann für mich nur der Komponist, denn ich spiele das nur.
    Davon abgesehen sind heutige Komponisten vor allem groß darin im Ausrechnen und erklären.

    Ich spiele dann blos und erkläre gar nichts.
    Oft erkärt mir der jeweilige Komponist auch nichts, denn ich soll ja IHN verstehen.
    Bisher hat sich in Jahrzehnten nie jemand beschwert, alle waren zufrieden und ich eine gute Nutte.

    Daher habe ich so unangebracht böse reagiert.
    Ich mußte mich letztens mal wieder mit einem col. tratto herumschlagen, welches im Fortissimo gespielt werden sollte.
    Das geht gar nicht, aber es steht da in den Noten.
    In einem solchen Augenblick wird für mich der Komponist zum Idioten.
    Und es gibt viele solcher Augenblicke.

    Und trotzdem spiele ich dann dieses Zeug.
    Dort zeige ich dann, was ne Harke ist, in dem ich völlig bescheuerte Vortragsbezeichnungen irgendwie adäquat umsetze, welche dem Komponisten selber nicht klar sind.

    Insoferne meine Antwort, auch an EinTon:

    :jaja1: :jaja1:

    Ich bleibe mal auf meiner Insel und Ihr auf eurer, denn hier prallen zwei Welten aufeinander, welche nicht miteinander kompatibel sind.

    Ich bin kein Analytiker und Gehirnakrobat sondern verbringe die meiste Zeit meines Lebens damit, Werke von
    Gehirnakrobaten und Analysten zu spielen.
    Das macht Spaß, solange es in einem gewissen Rahmen bleibt.

    Und meine spielerische Trickkiste ist mindestens so groß wie die Gehirnakrobatische Trickkiste des jeweiligen "Komponisten" .

    Insoferne bin ich hier der falsche, dem man eine genaue Analyse zutraut, denn das kann ich nicht.
    Ich spiele hier blos.

    Gruß,
    Michael

  • Hallo, Ralph, ich würde gerne noch etwas zum Tristanakkord nachfragen:

    Du schreibst oben

    Die anderen vier Versionen sind rein intoniert. Die Unterschiede kommen durch den Einbezug der Naturseptime zustande.

    Noch weiter oben erklärst Du die reine Stimmung wie folgt:

    Bei der reinen Stimmung in C-Dur nimmt man die Töne F-C-G-D wie bei der pythagoreischen durch Quintverhältnisse. Die verbleibenden drei Töne a, h und e nimmt man jedoch als reine Terzen (5/4) über entsprechend f, g, und c.
    Deshalb klingt die Melodie, wenn man sie nur mit diesen Dreiklängen harmonisiert, sehr angenehm, da schwebungsfrei:

    Das bezieht sich aber nur auf die siebentönige, diatonische Skala. Wie sieht denn eine "reine Stimmung" bezogen auf die chromatische Tonleiter aus? (Auch Wikipedia & Co. geben da keine brauchbaren Infos her....)

    zwischen nichtton und weißem rauschen

  • Lieber EinTon,

    tut mir Leid, dass die Antwort auf sich warten lassen musste, ich war zu dem Zeitpunkt im Urlaub.
    Am besten, du orientierst dich am Euler'schen Tonnetz:

    https://de.wikipedia.org/wiki/Eulersches_Tonnetz

    Du hast also etwa in C-Dur die vier Quinten f-c-g-d und darüber bzw. darunter die Terzen. Die Töne cis, gis, dis, ais sind nochmal reine Terzen zu den entsprechenden Unterterzen.

    ,,fis,,cis,,gis,,dis,,ais,,eis
    ,d,a,e,h,fis,cis
    bfcgda
    'ges'des'as'es'b'f

    Der Vorteil an dieser Darstellung: Alle auf gleiche Weise zurückgelegten Wege (z. B.: zwei runter, eins nach rechts) führen zum selben Frequenzverhältnis.

    D. h. die chromatische Skala ist z. B.:

    c,,cis
    ,cis
    ,d -> d
    d
    'es,ef,fisg,,gis,ab,hc
    25/24
    135/128
    16/15
    16/15
    27/25 [81/80 * 16/15]
    16/15
    25/2416/15135/12816/1525/2416/1516/15135/12816/15


    (Die Frequenzen bezeichnen immer den Schritt zum jeweils nächsten Ton.)

    Bei der reinen diatonischen Skala hat man ja schon das Problem mit der doppelten zweiten Stufe, also in C-Dur ,d als reine Terz in B-Dur bzw. reine Mollterz in d-Moll und das um ein syntonisches Komma (81/80, Unterschied von der über vier reine Quinten erreichten pythagoreischen und der reinen Terz) höhere d als Quinte über G oder reine Mollterz von h-Moll.

    Hier gibt es nun noch viel mehr doppelt belegte Töne, wie man leicht am Tonnetz erkennen kann. Geht man vom normalen diatonischen Ganztonschritt c-d als 9/8 aus und unterteilt diesen in zwei Halbtonschritte, so müsste der chromatische 135/128 sein: Als Differenz von 9/8 und dem diatonischen Halbtonschritt 16/15 (der immer gleich ist, Differenz von reiner Quarte und reiner Großterz 4/3 : 5/4 = 16/15).
    Da aber das cis in C-Dur meistens ein Leitton zu d-Moll ist, und d-Moll, wie aus dem Tonnetz zu erkennen, das tiefe ,d haben muss (wenn man nicht das 'f verwenden will, was in unsrer ersten Runde (Version #4 alle meine Entchen) sehr schlecht ankam, da es ja keine reine Quarte zum Grundton c gibt), wird man wohl eher von 25/24 ausgehen. Dann muss man aber, wenn man zum 'es weiterschreitet, das syntonische Komma noch mitnehmen, also ist der Halbton 27/25. Oder man macht zwei Schritte ,d -> d -> 'es, wenn es die Musik anbietet. Rein intonierende Ensembles (z. B. gute Chöre oder Blockflötenconsorts usw.) wechseln bei langen Tönen in einem solchen Fall durchaus bewusst die Tonhöhe, auch wenn nur ein Ton "d" notiert ist. Natürlich bei entsprechendem Repertoire.

    Dasselbe Problem hat man wieder bei ,,fis vs. ,fis, wobei hier in C-Dur das ,,fis wohl eine geringe Rolle spielt: auf g-Moll bezogen, würde man eher das b zu b' angleichen.
    Also es wird schnell klar, warum Vicentino zur Hochblüte der reinen Stimmung (16. Jh.) glaubte, dass ein Tasteninstrument 36 Töne pro Oktave besitzen müsse.
    Meine "chromatische Skala" ist längst nicht vollständig, man muss eben je nach harmonischem Kontext entscheiden. Außerdem gibt es natürlich in C-Dur auch Töne wie des (aus dem Phrygischen, neapolitanischer Ton) und as (vom gleichnamigen Moll entlehnt).
    Klar wird auch, dass eine chromatische Skala immer auch aus diatonischen Schritten besteht. Eine "chromatische" Skala im wahrsten Sinne wäre ziemlich absurd und müsste eigentlich lauten: c-cis-cisis-cisisis usw.
    Also lauter Schritte 25/24x = 2/1... Man hätte also 17 und nicht 12 chromatische Schritte, um ungefähr eine Oktave zu füllen.

    Exkurs:

    Übrigens, ein solches Instrument mit 36 Tasten wird gerade in Basel nachgebaut: http://www.projektstudio31.com

    Hier kann man schon mal einen Klangeindruck gewinnen, wie Froberger auf einem 24-tönigen Instrument klingen kann: https://www.youtube.com/watch?v=dFb1fECwk2o
    Bei der Meditation faite sur ma mort future hat man nämlich das Problem, dass der erste Formteil mit einem Fis-Dur-Dreiklang schließt. Zwar verkörpert der Klang semantisch den Tod (hab dazu was geschrieben, wer's lesen will, Musik&Ästhetik im Oktober...), aber als Klang sollte er vielleicht doch nicht so schrecklich klingen, wie der mitteltönige Akkord auf 12 Tasten: fis-b-cis. Gleichstufig klingt auf dem Cembalo nicht und wäre genauso wie die Temperierungssysteme des 18. Jahrhunderts anachronistisch. Der Musikwissenschaftler Martin Kirnbauer ist außerdem zu dem Ergebnis gekommen, dass zu Frobergers Zeiten die enharmonischen Instrumente mit mehr als 12 Tasten pro Oktave recht verbreitet waren, auch bzw. gerade an den (vielen) Orten, wo Froberger sich aufgehalten hat.

    Übrigens: Zur von Michael bezweifelten Relevanz der Stimmung für die Musik folgt bald noch ein extra Thread. Kommt natürlich auf das Repertoire an. Am eigenen Leib erfahren hab ich das auch erst, als ich zum ersten Mal ernsthaft Musik aus dem 17. Jahrhundert gespielt habe... Bei der Art, wie Musik für romantisches Orchester geschrieben ist, sind solche Feinabstimmungen zu einem Großteil gar nicht möglich (was natürlich kein Freibrief ist, aber das war sicher auch nicht gemeint). Die Komponisten gingen auch nicht davon aus. Die neue Musiktheorie des mittleren 19. Jahrhunderts (etwa bei Carl Friedrich Weitzmann) basiert eindeutig auf gleichstufiger Stimmung (und unterscheidet sich deshalb von derjenigen früherer Generationen auch sehr stark).

  • Hallo, ralph,

    erst einmal vielen Dank Dir für Deine ausführliche Antwort und die damit verbundene Mühe!

    Konkret wollte ich eigentlich wissen, welche "reine Stimmung" Du Dir für Deine Tristan-Beispiele ausgewählt hattest.

    Ich selber habe hier einen Software-Synthesizer (Native Instruments FM8), bei dem man auch nicht-temperierte Stimmungen einstellen kann.
    Bei der Stimmung "Pure" (bezogen auf den Grundton C) sind hier die Kreuz- bzw. B-Töne wie folgt gestimmt:

    Cis als reine große Terz (5/4) über dem A
    Es als reine kleine Terz (6/5) über dem C
    Fis als reine kleine Terz unter dem A.
    Gis als reine große Terz über dem E.
    B als reine kleine Terz über dem G.

    Die Abweichungen von der temperierten Skala kann man in folgendem Screenshot sehen:

    [Blockierte Grafik: http://www.einton.info/reinestimmung.png]


    Mit dieser Stimmung klingen (auf die Schnelle getestet) die Akkorde der kleinen Kadenz und zudem Es-Dur, A-Dur, E-Dur, C-Moll, G-Moll, A-Moll, E-Moll sowie Fis- und Cis-Moll rein. (dh, reine Quinten, reine kleine und große Terzen).

    Für das Tristan hast Du aber - wenn ich Dich recht verstehe - wohl andere Stimmungen benutzt, die an die beiden Hauptakkorde (Tristan und D7) angepasst waren. (abgesehen vom natürlich anderen Grundton)...

    Gruß,

    Normann

    zwischen nichtton und weißem rauschen

  • Übrigens: Zur von Michael bezweifelten Relevanz der Stimmung für die Musik folgt bald noch ein extra Thread. Kommt natürlich auf das Repertoire an. Am eigenen Leib erfahren hab ich das auch erst, als ich zum ersten Mal ernsthaft Musik aus dem 17. Jahrhundert gespielt habe... Bei der Art, wie Musik für romantisches Orchester geschrieben ist, sind solche Feinabstimmungen zu einem Großteil gar nicht möglich (was natürlich kein Freibrief ist, aber das war sicher auch nicht gemeint).

    FonoForum steht hier ja nicht bei allen so hoch im Kurs, doch in Ausgabe 5/2009 ließ Harnoncourt etwas zu seiner zweiten Aufnahme der Haydnschen "Jahreszeiten" wissen. Dass er seinen Concentus musicus dazu anhielt, auf die Tonartencharakteristik zu achten. Dass er Tonarten in der Nähe von F-Dur mit kleineren, also reineren großen Terzen spielen ließ, aber bei Tonarten mit mehreren Kreuzen oder Been schon die Grundakkorde an der Grenze zur Dissonanz verortete.

    Man könnte die Aufnahme mal daraufhin abhören.

    Jedenfalls scheint es auch bei orchestralem Spiel zunächst mal nicht unmöglich zu sein, Intervalle zu adjustieren.

    Gruß
    MB

    :wink:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Ralph sprach aber von romantischen Orchestern, nicht von Haydn...

    Hm. Wo genau ist der Unterschied zwischen einem romantischen Orchester und dem Orchester der Jahreszeiten?

    Und was genau wäre der Unterschied zwischen einer frühromantischen Ouvertüre und der Ouvertüre der "Schöpfung"?

    Gruß
    MB

    :wink:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Konkret wollte ich eigentlich wissen, welche "reine Stimmung" Du Dir für Deine Tristan-Beispiele ausgewählt hattest.

    Eigentlich dieselbe wie du, also sodass alle Terzen und Quinten in den Akkorden rein sind.
    Nur: Beim Dominantseptakkord in Moll geht das nicht. Ich hatte (nach dem Tonnetz oben) zunächst das d statt des ,d genommen. Es hat das einfachere Zahlenverhältnis (9/5) und gibt eine reine Mollterz h-d. Aber es klingt unstimmig, wie ihr teilweise auch angemerkt habt. Vielleicht, weil es zwar 9/5 ist (gegenüber 16/9), aber eben zur Terz (/5) steht. Man müsste noch in einer weiteren Runde überprüfen, wie der Septakkord mit supponierter Terz (so von Rameau erklärt und im französischen Barock sehr beliebt – für die moderne Harmonielehre Gewöhnten: ein Nonakkord mit übermäßiger Quinte, also C-E-Gis-H-D, wobei Rameaus Erklärung der Entstehung und Verwendung im Barock näher kommt) am besten klingt... also mit 9/5 oder 16/9...
    Jedenfalls, 16/9 ist wohl die gängige Auffassung und klingt wohl für die meisten stimmiger. Macht übrigens auch satztechnisch Sinn, da das d ja (ursprünglich) immer eine vorbereitete Synkopendissonanz ist, also vom vorausgehenden d-Moll-Klang herstammt, der natürlich das tiefere ,d benutzt (für die reine Quinte zu ,a). Allerdings ist das Intervall zwischen Quinte und Septime im Septakkord dann keine reine Mollterz.

    Ansonsten hab ich bloß für einige Versionen, wie schon beschrieben, die Naturseptimen eingebaut – also für den Basston im Tristanakkord (als Unternaturseptime zu dis) bzw. für die Septime im Auflösungsakkord.

    FonoForum steht hier ja nicht bei allen so hoch im Kurs, doch in Ausgabe 5/2009 ließ Harnoncourt etwas zu seiner zweiten Aufnahme der Haydnschen "Jahreszeiten" wissen. Dass er seinen Concentus musicus dazu anhielt, auf die Tonartencharakteristik zu achten. Dass er Tonarten in der Nähe von F-Dur mit kleineren, also reineren großen Terzen spielen ließ, aber bei Tonarten mit mehreren Kreuzen oder Been schon die Grundakkorde an der Grenze zur Dissonanz verortete.

    Logisch: bei den Jahreszeiten ist ja auch ein entsprechend gestimmtes Tasteninstrument dabei. Aber in der historischen Aufführungspraxis intoniert sowieso so gut wie niemand gleichstufig. (Ist irgendwo auch eine Art bewusstes Distinktionsmerkmal...)

    Jedenfalls scheint es auch bei orchestralem Spiel zunächst mal nicht unmöglich zu sein, Intervalle zu adjustieren.

    Nein, sicher nicht. Hängt aber natürlich auch von der Einstudierzeit ab. Wenn man, wie die meisten Sinfonieorchester heute, in wenigen kurzen Proben eine Mahlersinfonie auf die Beine stellen muss, bleibt halt nicht viel Zeit für solchen Luxus, außer an exponierten Stellen. Die Berliner Philharmoniker spielen einen diatonischen Holzbläserchoral bei Wagner natürlich nicht irgendwie, sondern möglichst rein.

    Hm. Wo genau ist der Unterschied zwischen einem romantischen Orchester und dem Orchester der Jahreszeiten?

    Und was genau wäre der Unterschied zwischen einer frühromantischen Ouvertüre und der Ouvertüre der "Schöpfung"?

    Ich würde mal sagen, der Unterschied ist auf keinen Fall ein prinzipieller. Aber je komplizierter der Notentext, je mehr typisch romantischer "Orchesterrausch", sag ich mal, desto mehr geraten solche Feinheiten auch in den Hintergrund. Ist übrigens eine ganz alte Strategie, schon im 16. und 17. Jahrhundert ist in Traktaten der Trick beschrieben, falsche (Leit-)töne (z. B. ais in h-Moll, das mitteltönig als b gestimmt ist) ornamental zu umspielen (also mit Trillern), um die falsche Intonation zu verstecken.
    Wenn nun bei Strauss etwa der ganze Streichersatz trillert, werden Feinjustierungen also wohl einigermaßen sinnlos. Es gibt aber natürlich einiges dazwischen. Aber auch wenn z. B. bei Wagner manchmal in jedem dritten Takt enharmonisch verwechselt wird, stellt sich die Frage, inwieweit das noch mit reiner Stimmung vereinbar ist.
    Der Prozess von mitteltönigen über ungleichstufig temperierten zu gleichstufigen Stimmungen ist ein langwieriger und komplexer (nicht einfach linearer), man muss also wohl immer den ästhetischen Kontext des jeweiligen Werkes aufzuarbeiten versuchen und sich dann für die adäquate Stimmung entscheiden. (Genauso eben wie bei anderen Parametern wie Artikulation usw. – viele Parameter definieren entscheidend den musikalischen Klang, sind aber nicht oder nur unvollständig im Notentext verankert.)

    Haydn sollte man wohl freilich nicht gleichstufig aufführen. Als Orientierung, der bekannte Theoretiker Georg Abbe Vogler schrieb 1776 zu enharmonischen Modulationen, sie können "auf einem Saiten- oder Pfeifenspiel die beste Wirkung thun, aber für ein Stück von verschiedenen Stimmen sind sie dem Gehöre unerträglich und dem Tonsezer unbrauchbar; denn der Unterschied z.B. zwischen cis und des wird genau vernommen, und von den geschicktesten Tonkünstlern kann der Vortrag nicht richtig genug sein" (Vogler, Tonwissenschaft und Tonsezkunst). Vogler war Lehrer von Carl Maria von Weber. Außerdem, was die frühromantische Ouvertüre betrifft: Noch 1830 schrieb der wirkungsmächtige Theoretiker Gottfried Weber zum Streit um ungleichstufig oder gleichstufig: "Wir wollen hier den Streit dahingestellt sein lassen, und nur anführen, dass unsere Tasteninstrumente ungleichschwebend gestimmt werden, und zwar so, dass die minder transponirten und darum auch gebräuchlicheren Tonarten der Reinheit näher gehalten werden, als die mehr transponirten, mehr chromatischen." (Weber, Versuch einer geordneten Theorie der Tonsetzkunst)

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