Zum Verhältnis von Stimmung und Harmonik
Ich hatte ja angekündigt, mal etwas über die Relevanz der Stimmungen für die Musik zu posten, jetzt habe ich mal etwas gleichzeitig für Capriccio und meine Website verfasst. Diskussion ist ausdrücklich erwünscht!
Harmonik entsteht durch Zusammenwirken von Tonhöhen, die in unserem Tonsystem bis in 20. Jahrhundert hinein einigermaßen konstant systematisiert wurden: Es existieren sieben Stammtöne und ferner die Möglichkeit, jeden dieser Töne chromatisch zu erhöhen bzw. zu erniedrigen.
Vermeintlich abstrahierbar sind diese Tonqualitäten (und damit auch die sich daraus bildenden Harmonien) vom zugrundeliegenden Stimmungssystem. Dies liegt wohl vor allem an unserer Neigung, vor allem die zwei möglichen »Extreme« absolut zu setzen. Entweder man argumentiert quasi naturwissenschaftlich auf dem Boden der sogenannten »reinen Stimmung«, bei der alle Intervalle aus den Frequenzverhältnissen der Obertonreihe resultieren. Man gelangt dann aber sehr schnell zu dem Problem, dass unser Notensystem gar nicht darauf abgestimmt ist: schon nur mit der Diatonik von C-Dur bräuchte man in reiner Stimmung zwei verschiedene Töne für d, unsere Notenschrift sieht dies aber nicht vor. Unser Notensystem und die entsprechenden Begrifflichkeiten sind pythagoreisch (kein Wunder, wenn man ihre Entstehungszeit berücksichtigt), das syntonische Komma geht aus der Notenschrift nicht hervor.
Argumentiert man hingegen auf Grundlage der heute omnipräsenten »gleichstufigen Stimmung«, dann fallen ebenfalls Notation und Klang auseinander. Ein notiertes (und auch satztechnisch intendiertes) his ist klanglich vom c nicht zu unterscheiden, obwohl die Notation gänzlich verschieden ist.
Wenn man hingegen die verschiedenen Stimmungssysteme mit ihren unterschiedlichsten Temperierungen zwischen diesen beiden Extremen historisch verortet, wird schnell klar, dass sich Satztechnik und Stimmung gegenseitig bedingen. Verschiedene Stimmungen führen zu unterschiedlicher Musik. Umgekehrt kommen die Qualitäten der jeweiligen Musik nur dann zur Geltung, wenn man sie mit dem entsprechenden Stimmungssystem realisiert.
Nun könnte man zweierlei einwenden: Erstens sind in der Praxis die unbeabsichtigten Intonationsschwankungen zuweilen deutlich größer als die feinen Unterschiede der jeweiligen Temperierungssysteme. Zweitens versuchen Musiker immer möglichst rein zu intonieren, die irrationalen Frequenzverhältnisse der temperierten Intervalle lassen sich zudem gar nicht durch das Gehör bestimmen. Dem lässt sich entgegnen, dass bis ins späte 18. Jahrhundert fast immer mit Tasteninstrumenten zusammen musiziert wurde, nach deren Stimmung sich das gesamte Ensemble zu richten hatte.
Ich möchte nun die Relevanz des Stimmungssystems für die Satztechnik an einem ersten Beispiel demonstrieren, und zwar an der verminderten Quarte.
Die verminderte Quarte im 17. Jahrhundert
Die Komponisten des 17. Jahrhunderts haben dieses Intervall ganz besonders geliebt. Der Kontext, indem es für gewöhnlich auftritt, ist eine Variante der cadenza doppia, einer in der Barockmusik omnipräsenten Kadenzformel.
[Blockierte Grafik: http://www.bernardynet.de/bilder/stimmungnb1.png]
Auf der ersten Position der Variante entsteht so ein Klang, der sich aus einer großen Terz und einer kleinen Sexte zusammensetzt. Er gehört zum barocken Standardvokabular, Johann Hermann Schein beispielsweise verwendet ihn fast inflationär: im Eröffnungsstück seiner berühmten Madrigalsammlung Israelisbrünnlein erklingt er im ersten Abschnitt gleich fünf mal.
[Blockierte Grafik: http://www.bernardynet.de/bilder/stimmungnb2.png]
Worin liegt nun der besondere Reiz dieses Klangs? Hier kommt nun das Stimmungssystem ins Spiel, denn allein satztechnische Argumente sind in diesem Fall nicht hinreichend.
Tatsächlich handelt es sich hierbei nämlich um den in der gewöhnlichen mitteltönigen Stimmung (1/4-Komma) einzig reinen Dreiklang. Grund ist, dass außer den Oktaven, großen Terzen und entsprechend den komplementären kleinen Sexten sämtliche Intervalle temperiert (also verstimmt) sind, vor allem die zu engen Quinten und damit auch sämtliche Mollterzen.
Der besagte Klang entsteht also durch zwei zum Bass intonierte reine Intervalle (reine große Terz 5:4 und reine kleine Sexte 8:5) und die daraus sich als Differenz ergebende verminderte Quarte (8:5) : (5:4) = 32:25 – ein wunderbar expressives Intervall von ca. 427,4 Cent, d.h. fast ein (gleichstufiger) Viertelton höher als die reine Terz mit 386,3 Cent.
Dieser Klang ist in der mitteltönigen Stimmung auf einem Tasteninstrument mit zwölf Tasten pro Oktave nur auf vier verschiedenen Positionen verfügbar:
[Blockierte Grafik: http://www.bernardynet.de/bilder/stimmungnb3.png]
In der gleichstufigen Stimmung hingegen sind beide Intervalle gleichgeschaltet und besitzen jeweils ein irrationales Frequenzverhältnis: Das Vierfache des gleichstufigen Halbtons, der zwölften Wurzel aus 2. Es klingen also statt einer reinen großen Terz und einer „reinen“ verminderten Quarte lediglich zwei verstimmte Terzen von 400 Cent.
Folgende Grafik zeigt den Dreiklang mit der verminderten Quarte und den Durdreiklang in der reinen, mitteltönigen und gleichstufigen Stimmung im Vergleich. Grün eingezeichnet sind die reinen, rot die temperierten Frequenzverhältnisse der jeweiligen Intervalle.
[Blockierte Grafik: http://www.bernardynet.de/bilder/stimmungnb4.png]
Als abstraktes Intervall klingt die verminderte Quarte übrigens wie eine verstimmte Terz, da der dritte (Bass-)Ton erst den Bezugspunkt bilden und das Intervall als Sekundärintervall verständlich machen würde. Im folgenden Klangbeispiel folgen reine große Terz, gleichstufige große Terz und „reine“ verminderte Quarte aufeinander. Man hört sich letztere beiden Intervalle als verstimmte (zu große) Terzen zurecht, da die reine Terz den nächsten Bezugspunkt bildet.
Wird die verminderte Quarte jedoch in einen tonalen Kontext eingebunden, in dem sie satztechnisch Sinn ergibt, ist sie von enorm ausdrucksstarker Wirkung. Im folgenden Beispiel erklingt zunächst die verminderte Quarte abstrakt, dann in einer cadenza doppia, zuletzt im Kontext einer Komposition: dem Anfang der Toccata in d von Johann Jacob Froberger.
[Blockierte Grafik: http://www.bernardynet.de/bilder/stimmungnb5.png]
mitteltönig | gleichstufig
Dieser erste Teil schließt ebenfalls mit einer cadenza doppia mit verminderter Quarte:
[Blockierte Grafik: http://www.bernardynet.de/bilder/stimmungnb6.png]
mitteltönig | gleichstufig
Würde man dieses Stück etwa auf einem gleichstufig gestimmten Klavier aufführen, würde man auf ein ganz wesentliches „Gewürz“ verzichten: der Eindruck wäre vergleichbar mit dem einer zu schwach gesalzenen Suppe.
Kirnberger, Bach und das Wohltemperierte Klavier
Umgekehrt erschiene die Musik Bachs möglicherweise mit der bunten Vielfalt mitteltöniger Intervalle „versalzen“ – kompensiert sie doch durch die dichte chromatische Harmonik an Ausdrucksmitteln gerade das, was sie durch die Temperierung opfert. So soll er etwa sein Instrument so gestimmt haben, dass er beim Fantasieren alle Tonarten verwenden und untereinander ohne „Härten in der Modulation“ verbinden konnte und „seine Chromatik sogar […] in den Übergängen so sanft und fließend [war], als wenn er bloß im diatonischen Klanggeschlecht geblieben wäre“1. Eine rein gestimmte bzw. mitteltönige Chromatik, bei der diatonische und chromatische Schritte unterschiedlich groß sind und fast einen Viertelton auseinander liegen, wäre für diese ästhetische Absicht völlig ungeeignet.
Doch wie hat Bach denn nun eigentlich gestimmt? Um’s kurz zu fassen: wir wissen es nicht. Exakt gleichstufig kann es nicht gewesen sein, denn das war damals technisch noch überhaupt nicht möglich. Oft werden die von Kirnberger überlieferten Temperierungen mit Bach in Zusammenhang gebracht, da er sich als Bachs Schüler bezeichnet hat und möglicherweise tatsächlich bei ihm gelernt hatte. Die Stimmungen Kirnbergers sind jedoch stark ungleichstufig! Ein gleichermaßen reines Spielen in allen Tonarten, wie Forkel es Bach bescheinigt hat, ist damit kaum möglich. Selbst bei der ausgeglichensten, heute gebräuchlichsten Stimmung Kirnberger III klingen weit entfernte Tonarten wie As-Dur deutlich unreiner als etwa C-Dur, das sogar eine reine Durterz c–e erhält. Damit entsteht eine starke Tonartencharakteristik, die schon Werckmeister für vorteilhaft erachtete hatte und die für das 18. Jahrhundert eine ausschlaggebende Rolle spielt.
Doch nun zurück zu unserer verminderten Quarte. In Kirnbergers Stimmung bleibt sogar ein Teil ihrer Charakteristik erhalten, wie die folgende Grafik zeigt.
[Blockierte Grafik: http://www.bernardynet.de/bilder/stimmungnb7.png]
Intervallgrößen bei Kirnberger III in Cent
Auf den vier traditionellen Positionen erklingt jeweils die große Terz noch immer enger als die verminderte Quarte, die als pythagoreische Terz (oder geringfügig tiefer) jeweils sehr weit gestimmt ist.
Im Vergleich zu den reinen Intervallen hat sich der Unterschied jedoch beträchtlich nivelliert, und interessanterweise lässt sich beobachten, dass im gleichen Zuge der Gebrauch dieser Klänge stark zurückgeht. Die Temperierung hat sie gleichsam umgepolt: aus dem sehr charakteristischen und funktional eindeutig bestimmten Klang wird der „vagierende Akkord“, so die Bezeichnung Schönbergs für Klänge wie den übermäßigen Dreiklang, die aufgrund der Äquidistanz ihrer Intervalle in keiner Tonart zuhause sind. Diese ganz neue Qualität machte sich Bach zunutze und verband „die entferntesten [Tonarten] so leicht und natürlich mit einander, wie die nächsten“2, was bei seinen Zeitgenossen offenbar einen großen Eindruck hinterließ. Dass sich Bach hierfür der von Kirnberger formulierten, stark ungleich schwebenden Stimmungssysteme bediente, erscheint zumindest zweifelhaft. Ein Beispiel aus dem Wohltemperierten Klavier mag als weiteres Indiz herhalten.
[Blockierte Grafik: http://www.bernardynet.de/bilder/stimmungnb8.png]
J. S. Bach, Wohltemperiertes Klavier II, Fuge in E-Dur BWV 878, T. 25–26
Hier befindet sich die im Wohltemperierten Klavier nur noch vergleichsweise selten anzutreffende cadenza doppia mit der verminderten Quarte (bzw. deren Komplementärintervall, der übermäßigen Quinte) auf der in ungleich schwebenden Temperierungen denkbar ungünstigsten Position: als intendierte verminderte Quarte his–e klingt in Kirnbergers Stimmungen die einzig verbleibende rein gestimmte Terz (c–e), während die eigentliche große Terz gis–his mit 407,8 Cent pythagoreisch und damit gegenüber der reinen um das syntonische Komma von immerhin 21,5 Cent zu weit erklingt.
1 Johann Nikolaus Forkel: Über Johann Sebastian Bachs Leben: Kunst und Kunstwerke, Leipzig 1802, S. 17.
2 ebenda.