Auftaktig / ganztaktig / nachtaktig - Grenzfälle und Zweifelsfälle in Kompositionen und Interpretationen
Dieser Thread entspann sich aus Betrachtungen zu Beethovens Streichquintett C-Dur op 29, Finale.
Die ersten Beiträge beziehen sich noch auf diesen Satz, insbesondere die Durchführung, die man hier mit Noten anhören kann. Das Finale startet bei 22:55, die Durchführung bei 26:34
Mein Interesse gilt schon immer dem oft irritierenden Phänomen, dass eine Stelle auftaktig notiert ist aber leicht als ganztaktig - also "falsch" - gehört werden kann (Brahms 3. Sinfonie, 1. Satz ist voll davon), und ebenso solchen Beispielen, die ganztaktig notiert sind aber leicht als auftaktig "missverstanden" werden können, von Hörern wie Interpreten. Dazu gibt es zahllose Beispiele von Janacek, von denen ich plane einige im weiteren Verlauf vorzustellen.
In der Hoffnung dass dieser Thread spannend wird und bleibt...
Khampan
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Ich spreche ins Unreine: Was mir auffällt, ist dass das musikalische (motivische?) Interesse in diesem Satz (ausschliesslich?) im Auftakt besteht. In der Durchführung wird mit dieser Idee dann genau durch die Verschiebungen und Verwirrungen, die Du beschrieben hast, rumgespielt und sie dadurch weiter verstärkt. Der Auftakt wird dann auch rhythmisch, nicht nur motivisch, zum Schwerpunkt. Wie ist es harmonisch?
zunächst mal: die Figur aus 6 Sechzehnteln würde ich nicht als Auftakt bezeichnen. Erstens bildet sie einen ganzen halben Takt, und zweitens erscheint sie zuerst in Takt 2, nicht als Auftakt zu Takt 1. Ich bin da recht streng, denn das ist ziemlich genau das Verfahren, das beispielsweise auch Janacek anwendet, wenn er scheinbar Auftakte verwendet. Auch da sind es keine Auftakte, weil sie nicht vor dem Schwerpunkt (des Beginns einer Phrase) stehen, sondern danach, also entweder am Ende von Takt 1 oder Takt 2, wie hier im Fall des Quintetts. Der Schwerpunkt ist ganz eindeutig die 1 des ersten Takts.
Was genau das Hauptthema ist, mag ich gar nicht analysieren. Gut passend finde ich deine Bezeichnung "Idee" für die stürmische 6/8-Bewegung mit den aufblitzenden halbtaktigen Sechzehnteln, die auch mal zu einem längeren mehrtaktigen Wirbelwind aneinandergereiht werden.
In der Durchführung zerstückelt Beethoven, wie für ihn typisch, diese Idee aus der Exposition. Nicht nur die Sechzehntel-Halbtakte tauchen auf, auch Achtel-Ganztakte erscheinen jeweils am Ende einer Phrase. Die Verschiebungen und Verwirrungen kommen durch die hinzukommenden beiden Elemente (Nr. 2+3 in meinem letzten Post) zustande, und zwar indem sie neue Motive und neue Rhythmen einführen. Die Scherzoso-Einschübe am Ende der Durchführung und nach der Reprise sind weitere Elemente, die den formalen und motivischen "Overkill" dieses Satzes zementieren.
"Ihr wollt was einfaches in C-Dur haben? Da habt ihr!"... könnte sich Beethoven gedacht haben
Harmonisch tut sich zwar auch einiges, ich könnte aber nicht ohne weitere Vergleiche sagen, ob es so ungewöhnlich zugeht. Auffallend ist die zweimalige harmonische Rückung um einen Halbton nach oben (nach Des-Dur in der Reprise!), die ich eher aus den Spätwerken kenne, z.B. 8. Sinfonie Finale.
Khampan