Vom Konzertleben in Dresden

  • Premiere der Bösch-Inszenierung „Die Frau ohne Schatten“ von Richard Strauss in der Semperoper

    In den mythologischen Vorstellungen vieler Kulturen ist der Schatten eines Menschen sein „zweites Ich“, das Spiegelbild seiner Seele. Im Volksglauben ist der bewegliche Schatten ein zum Wesen des Betreffenden gehörender Bestandteil, so wie sein Atem seine Existenz symbolisiert und er mit seinem Versterben in ein „Schattenreich“ eingeht. Deshalb war nicht verwunderlich, dass in der europäischen romantischen Literatur des 19. Jahrhunderts eine Lebenskrise mit dem Verlust des eigenen Schattens des Betroffenen verbunden wurde. Der Dichter und Naturforscher Adelbert von Chamisso (1781-1838), aus den Wirren der Revolution seines Geburtslandes geflohen, kämpfte er auf der Seite Preußens, wurde nach einer Gefangenschaft „auf Ehrenwort“ frei, zog sich im Sommer 1813 auf des Gut eines Freundes nach Kunersdorf im Oderbruch zurück und durchlebte dabei eine Identitätskrise: „Ich bin Franzose in Deutschland und Deutscher in Frankreich“. Seinen Frust verarbeitete Chamisso zur bekanntesten Märchenerzählung der Romantik „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“, in der der Protagonist seinen Schatten dem Teufel verkauft und erkennen muss, dass der Verlust den Ausschluss aus der menschlichen Gesellschaft bedeutet. Nur der Befreiungsschlag mit „Siebenmeilenstiefeln“ verschaffte Peter, wie seinem Schöpfer, eine Karriere als Naturforscher.

    Nach der erfolgreichen Zusammenarbeit bei den Opern „Elektra“ und „Der Rosenkavalier“ sprach der Librettist Hugo von Hofmannsthal (1874-1929) mit dem Komponisten Richard Strauss (1864-1949) über eine weitere Zusammenarbeit. Noch während der Rosenkavalier-Proben im März des Jahres 1911 schlug er eine „Allegorie des Sozialen“, dabei über den Sinn von Paarbeziehungen vor und regte als Grundlage der Oper ein Zaubermärchen an. Die Bedeutung der „Schattenlosigkeit“ für gesellschaftliche Akzeptanz entlehnte er bei Chamisso und ihre Bedeutung für die Fruchtbarkeit in einer Paarbeziehung fand er in Nikolaus Lenaus Gedicht „Anna“.

    Richard Strauss sei über das Libretto Hofmannsthals sehr glücklich gewesen und habe sich unmittelbar der Komposition gewidmet. Offenbar hat er aber dem Librettisten intensiv in seine Arbeit hineingeredet und geschrieben, so dass der Musikwissenschaftler Olaf Enderlein aus den Hinterlassenschaften der Zusammenarbeit der Beiden in der Zeit von 1910 bis 1917 eine 814 Seiten umfassende Dissertation schöpfen konnte. Hugo von Hofmannsthal hat seinerseits 1919 seine Prosafassung als Kunstmärchen veröffentlicht, in der er angeblich seit 1912 alle von Strauss gerissenen Lücken der Opernfassung ausfüllte.

    Vertieft man sich in das das märchenhaft-mystische und symbolisch in mehreren Ebenen verquickte Libretto, so kommt ohnehin der Verdacht, dass Hofmannsthals brillante poetische Sprache für den Komponisten vor allem ein Gerüst darstellte, über das er seine grandiose Musik ausbreiten konnte. Entstanden ist ein Meisterwerk, weil das märchenhaft-mystische und symbolisch in mehreren Ebenen verquickte Libretto mit seiner poetischen Sprache dem Komponisten die Möglichkeit verschaffte, eine grandiose Musik zu schreiben.

    Was passiert:

    In einer märchenhaften Welt ist die Tochter des Geisterfürsten Keikobad seit fast einem Jahr mit dem Kaiser verheiratet. Aber auf der Ehe liegt der Fluch der Kinderlosigkeit, weil sie keinen Schatten wirft, ihr das Menschsein fehlt. Gelingt es nicht, ihr innerhalb dreier Tage einen Schatten zu vermitteln. sprich ihr eine Empfängnis zu verschaffen, so wird der Kaiser versteinert und die Kaiserin muss zurück ins Reich der Geister. Eine etwas zwielichtige Betreuerin der Kaiserin aus dem Geisterreich, ihre Amme, versucht, der Frau eines im Laufe der Ehejahre inzwischen asexuell lebenden Färberpaares ihren Schatten gegen ein sexuelles Abenteuer und ein Wohlstandsversprechen abzukaufen. Letztlich scheitert die Übernahme des Schattens der Färberin, was in einer etwas undurchsichtigen Logik vom Geisterfürsten als „Bestehen der Prüfung“ akzeptiert wird und sie ihren Schatten erhält. Die Färbersleute erkennen die Probleme ihrer Beziehung und finden wieder zueinander. Die Amme hingegen wird zur ewigen, die ihr verhassten „Menschwerdung“ verdammt.

    Der Regisseur David Bösch und sein Bühnenbildner Patrick Bannwart konnten sich mit der Unterordnung der Handlung unter die dominante Musik offensichtlich nicht abfinden und gestalteten eine opulente Märchenoper voller bildgewaltiger und mit Metaphern gespickter Einfälle. Sie stellten die Situation beider Paare, unterstützt von den Kostümen der Moana Stemberger, in großer Klarheit gegenüber. Das Kaiser-Paar, weiß gekleidet, lebt in mit vornehmen graublauen Tönen getauchter Umgebung, während die Färbersleute mit den drei Barak-Brüdern in einer graubraunen vernachlässigten Kombination ihres Arbeits- und Wohnbereichs existierten. Bösch nutzte die Lebensumstände für eine präzise Zeichnung der beiden Frauenschicksale, die in ihrem Emanzipationsstreben eng miteinander verknüpft waren. Von beiden Frauen erwarten ihre Ehepartner den Nachwuchs, was aus unterschiedlichen Gründen nicht gelingen konnte. Die Bühnentechnik half Bösch, die Situation beider Paare als zwei Seiten der gleichen Medaille aufzufassen. Während bei „Kaisers“ die Stimmung gespannt -zivilisatorisch blieb, ging es im Färberhaus ordentlich zur Sache. Vor allem als die Amme mit ihrem Angebot, den Schatten der Färberin gegen gehobene Lebensumstände abzutauschen, in die Handlung eingriff. Da überboten sich Unmengen eleganter Kleidung, teurer Schmuck, Nahrungsmittelüberfluss, sexuelle Möglichkeiten mit attraktiven jungen Männern, gesellschaftlicher Aufstieg und öffentliche Aufmerksamkeit. Die originellste Idee, bereits im Libretto dieser Szenenreihe angelegt, blieb, dass die Amme die Kaiserin als Haushalthilfe in den Färberhaushalt eingeschleust hatte, damit sie, obwohl sie niederste Arbeiten verrichten musste, ständig zur Übernahme des Schattens vor Ort war. Aber kurz vor Abschluss des Handels, versöhnten sich die Färbersleute. Das Motiv der ungeborenen Kinder hatte das Färberpaar wieder zusammen geführt. Symbolisch aufgeladene Abläufe führten zur Verdammung der Amme, zur Wiederbelebung des versteinerten Kaisers und zur Ausstattung der Kaiserin mit dem notwendigen Schatten. So bleibt: Die Färberin erkennt am Schluss die Autorität des Mannes an und auch die Kaiserin beugt sich der männlichen Vorgabe ihres Vaters.

    Im Färberhaus stößt in der Schluss-Szene das Kaiserpaar, allerdings zeitgemäß gekleidet, zu den Färberleuten. Nach Absolvierung des musikalisch hochemotionalen Finales, finden sich neue Paarungen: Barak mit der Kaiserin gehen gemeinsam nach Links und die Färberin geht mit dem Kaiser nach rechts ab. Zurück bleibt auf der kahlen Bühne eine zur ewigen Menschwerdung verurteilte Amme. Für den Partnertausch habe ich in Hofmannsthals Text keine Ansätze finden können. War das nur eine Anspielung auf unsere moderne Gesellschaft? Böschs gekonnte mit Symbolismen überhäufte Show wäre ohnehin eine tiefere Relevanz zu vermitteln, falls man dem Opernabend unbedingt eine besondere gesellschaftliche Bedeutung beimessen möchte.

    Die Gelegenheit, in der Generalprobe die Inszenierung vorab kennen zu lernen, erlaubte mir, mich am Premierenabend überwiegend auf die Leistungen der Singenden und Musizierenden zu konzentrieren. Das Mammutprojekt der „Frau ohne Schatten“ im vollbesetzten Graben mit einer anspruchsvollen Sängerbesetzung und mehreren Chören war bei der von Wagner- und Brucknermusik gestählten Sächsischen Staatskapelle in den besten Händen. Unter dem Dirigat Christian Thielemanns gelang dem Orchester ein in allen Facetten packendes Strauss-Wunder zu gestalten. Bereits das erste dumpfe Anklopfen des Schicksals erklang so aufrüttelnd, dass man auch die kommenden Stunden wie gebannt bei der Musik blieb. Beeindruckten die ersten Schläge aus dem Graben noch mit ihrer Wucht, so war in der Folge das subtile Ausleuchten der Partitur mit ihren Feinheiten, das Aufblühen ihres Raffinements angesagt. Christian Thielemann zelebrierte seinen Strauss nicht in weit gespannten Bögen, differenzierte stattdessen, setzte auf die krasse Modernität der grandiosen Musik und ließ ein beeindruckendes Klanggebirge erstehen. Dabei schöpfte er aus allem, was diese Komposition zu bieten hat, arbeitete Details der unterschiedlichen Klangwelten des Stücks heraus und ließ keinen musikalischen Stein nicht umgedreht. Thielemann weiß um die verführerische Wirkung der großen sich aufbäumenden Tutti, beherrscht aber auch das Filigrane. Die Staatskapelle als ein virtuoses Ensemble mit einem von den Blechbläsern gesättigtem Tutti bis zum kleinsten kammermusikalischen Format reichenden Spektrum, konnte das auch makellos umsetzen. Mit bezaubernden, trotzdem den Raum füllenden Streicher-Soli vom Cellisten Sebastian Fritzsch sowie der Violine Matthias Wollongs in den kammermusikalischen Passagen inclusive dem überwiegend weiblich ausgeprägtem entfesselten Orchester-Chaos wurde alles beherrscht und geriet nie aus der Balance. Auch die chinesischen Gongs, die Glasharmonika, und die Celestas fanden ihre Plätze in der Hierarchie. Obwohl Strauss in einer für die Sänger grenzwertigen Lautstärke instrumentiert hatte, gelang Christian Thielemann in jedem Augenblick die höchste Souveränität der dramatischen Führung des Verhältnisses vom Graben und Bühne.

    Die Frau ohne Schatten ist berüchtigt für ihre Forderung nach fünf heldenhaften Sängern. Die Semperoper hatte diesem Erfordernis mit einem Quintett der Hauptpartien auf das Glänzendste entsprochen:

    Mit Camilla Nylund war die Aufgabe der Kaiserin einer in dieser Rolle bereits erfahrenen Sängerdarstellerin der Extraklasse übertragen worden. Sie begann ihre Darbietung verhalten, tastend und steigerte sich dann zunehmend. So entwickelte Camilla Nylund das betörende Rollenportrait einer Frau, die ihre Verzagtheit besiegte, über sich hinauswuchs und am Ende selbstbewusst triumphierte. Zunächst eine Kaiserin voller Neugierde und Verletzlichkeit, die sich aber aus dem Banne der Amme sowie aus den Zwängen ihrer Herkunft befreien konnte. Auch ihren Gesang setzte Frau Nylund zunächst leise an, um dann ihre Stimme scheinbar mühelos aufblühen zu lassen, dabei ihre betörenden Koloraturen des ersten Aktes mit scheinbarer Leichtigkeit zu bieten, Im dritten Akt wuchs die Sopranistin über sich hinaus und bewies, zu welcher Dramatik, zu welch kontrollierten Ausbrüchen ihre Stimme fähig war. So wurde sie zum wichtigen Bestandteil des hemmungslos entladenden Abschlusses der Oper, zu dem Strauss alle Möglichkeiten seiner Kunst eingesetzt hatte.

    Den Kaiser bot Eric Cutler im Spiel kühl und emotionsarm, betonte dabei eher das Lyrische als das Heldenhafte, ohne die innere Entwicklung seiner Figur zu vernachlässigen. Sein Tenor glänzte in seinen beiden herausfordernden Solo-Auftritten mit unangestrengter Leichtigkeit, offener, niemals forcierender, zugleich klangschöner Stimme. Besonders mit seinem großartigen Monolog im zweiten Akt bot Cutler Gesangskunst auf höchstem Niveau.

    Als eine der großen Sängerdarstellerinnen unserer Zeit gestaltete Evelyn Herlitzius die Partie der Amme zu einer seltenen Charakterstudie. Mit minimaler Körpersprache, passender Mimik erreichte sie eine außergewöhnliche Bühnen-Präsenz, wenn sie mit wendiger Schläue die Kaiserin, den Färber und die Färberin rücksichtslos manipulierte. Selbst wenn sie nicht sang, bildete sie den Mittelpunkt der Szene. Schaurig-schöne Tiefen ihres kraftvollen Mezzo-Organs ließen in den expressiven Phrasen wie „Übermächte sind im Spiel“ dem Zuschauer einen Schauer über den Rücken laufen. Herlitzius war auch durchaus in der Lage, im oberen Bereich der Gesangspartie schön zu singen. Letztlich musste ihre Figur das Scheitern akzeptieren.

    Für den ukrainischen Bariton Oleksandr Pushniak wurde sein Haus- und Rollendebüt als Färber Barak ein schöner Erfolg. Pushniak, der ab der kommenden Saison zum Hausensemble stößt, gestaltete den Barak mit seiner gesamten Bedeutung äußerst differenziert. Als eine scheinbar brutale Persönlichkeit entwickelte er enorme Sympathien. Mit seiner fantastisch warmen schönen Stimme entfaltete er sowohl balsamisch-sanften, als auch triumphal-emphatischen Ausdruck. Zudem fiel seine hervorragende Textverständlichkeit auf.

    Die finnische Sopranistin Miina-Liisa Väelä zeigte als Färbersfrau eine erstaunliche Wandlungsfähigkeit mit ihrer Entwicklung von der quarzend-keifenden Megäre zu einem in voller Empathie-Fähigkeit aufglühenden Menschen. Aus der hochneurotischen von ihrer Umgebung missverstanden Frau, die in einem tristen Leben voll unerfüllter Sehnsüchte verdorrte, erwuchs sie, nachdem ihr Barak vermittelte, dass er sie nicht auf „die Gebärerin“ reduzierte, zu einem empfindsam strahlenden Menschen. Miina-Liisa Väelä musste in dieser Konstellation mit ihrer Stimme diese widersprüchlichen Emotionen des gezerrten Charakters überbrücken. Lautstark, nach Bedarf mit brutaler Gereiztheit der keifenden Megäre, schüchtern zerknirscht, konnte sie ihre glühend-leuchtende Sopranstimme mit Wärme und Leidenschaft füllen. Bewunderungswürdig wahrte Miina-Liisa Väelä immer gerade so viel Nachvollziehbarkeit für ihre abweisenden Bosheiten gegenüber ihrem Mann und dessen Brüdern, dass man ihre Reifung auch nachvollziehen möchte. Andererseits hatte ihr Strauss Momente des Zögerns und aufflackernde Sehnsucht nach Zärtlichkeit in ihren Ausbrüchen zugestanden.

    Um die Geschlossenheit der Aufführung zu sichern, waren für die Episoden-Partien zum Teil ausgesprochen Luxus-Sängerdarsteller eingesetzt worden. So waren „Eine Stimme von oben“ mit Christa Mayer und „ein Hüter der Schwelle des Tempels“ mit Nikola Hillebrand besetzt worden. Ein kleines Ereignis war „Die Stimme des Falken“ der US-amerikanische Sopranistin Lea-ann Dunbar. Die „glänzende Erscheinung eines Jünglings“ vom Tenor Martin Mitterrutzner stimmschön eingeworfen, war zweifelsfrei ein Besetzungsprunk. Bemerkenswert war die Darbietung des etwas unheimlichen Geisterboten des kraftvollen Erfurter Bassisten Andreas Bauer Kanabas. Das gilt auch für die Brüder des Färbers, dem Einäugigen Rafael Fingerlos, dem Einarmigen Tilmann Rönnebeck und dem Buckligen Tansel Akzeybeck, die grotesk komisch mit viel szenischem Einsatz und solidem Gesang die Szene fröhlich auflockerten. Bestechend waren auch die Kinderstimmen mit Nikola Hillebrand, Sofia Savenko, Lee-ann Dunbar, Stephanie Atanasov, Dominika Ṧkrabalová und Michal Doron besetzt.

    Beeindruckend war auch das Riesenaufgebot des Sächsischen Staatsopernchores samt des fantastisch mitspielenden und natürlich-singenden Kinderchores der Semperoper.

    Fast eine halbe Stunde dauerten die frenetischen Beifallsbekundungen der Premierenbesucher, deren Lärm noch einmal anschwoll, als auch die Musiker der Staatskapelle die Bühne befüllten.


    Credits:

    Premiere am 23. März 2024 in der Semperoper

    Richard Strauss: „Die Frau ohne Schatten“

    Inszenierung: David Bösch

    Bühne: Patrick Bannwart

    Kostüme: Moana Stemberger

    Licht: Fabio Antoci

    Video: Falko Herold, Patrick Bannwart

    Chöre: André Kellinghaus, Claudia Sebastian-Bertsch

    Dramaturgie: Johann Casimir Eule

    Sächsischer Staatsopernchor-Kinderchor der Semperoper

    Sächsische Staatskapelle Dresden

    Musikalische Leitung: Christian Thielemann

    Einmal editiert, zuletzt von thomathi (24. März 2024 um 09:49)

  • Palmsonntagskonzert 2024 mit Beethoven und Mendelssohn Bartholdy-Manfred Honeck dirigierte

    Der Hofkapellmeister der Jahre 1511 bis 1841 Francesco Morlacci (1784-1841) hatte die Einrichtung eines Fonds zur Unterstützung der Witwen und Waisen ehemaliger Kapell-Mitglieder angeregt, dessen Finanzierung seit 1827 aus dem Ertrag der seit dieser Zeit traditionellen Palmsonntagskonzerte erfolgt. Mit dem „Verein der Witwen- und Waisenkasse der Sächsischen Staatskapelle e.V.“ lebt diese Tradition noch immer. In diesem Jahr wollte Herbert Blomstedt nach meiner, nicht unbedingt vollständigen Zählung, das traditionelle Benefizkonzert zum zwölften Mal dirigieren. Bereits 1971 hatte er noch vor seiner Zeit als Chefdirigent der Staatskapelle am Palmsonntag 1971 Beethovens 9. Symphonie dirigiert.

    Eine Erkrankung des Altmeisters erforderte, dass der in Dresden bestens eingeführt Manfred Honeck, wie bereits 2022 das Dirigat des Benefizkonzerts übernahm und zunächst in Abänderung des Programms Ludwig van Beethovens (1770-1827) erste Symphonie D-Dur op. 21 interpretierte.

    Beethoven war bereits 29 Jahre alt, als er seine erste Symphonie mit eigenem Dirigat zur Aufführung brachte. Vermutlich arbeitete er seit 1794 an der Komposition und hatte bereits früher mit der sogenannten „Jenaer Symphonie“ Versuche unternommen, deren Authentizität aber inzwischen in Frage gestellt ist.

    Wie nicht anders zu erwarten war, verschaffte uns Manfred Honeck mit der Staatskapelle eine erfrischende Aufführung. So frisch, so spielfreudig im ursprünglichen Sinne haben wir Beethovens erste Symphonie lange nicht mehr zu hören bekommen. Mit Leidenschaft durchpflügten die Musiker der Staatskapelle den Kopfsatz mit seinen instrumentalen Widerborstigkeiten und gingen die Durchführung beherzt an. Stets sorgte das Orchester für klare Durchhörbarkeit, alles war leicht und dabei sauber und klar gespielt. Das Blech klang strahlend und zupackend. Wo es finster wurde, ballte sich das Ensemble mit Wucht und Willensstärke zusammen. Manfred Honecks Tempi waren zügig, elastisch und geschmeidig. Seine Interpretation sicherte eine durchgängig fulminante Dynamik und eine plastische Phrasierung. Honeck rang der Symphonie knackige Rasanz ab und zeigte, dass Beethoven nicht einfach der Haydn-Schüler war, sondern bereits die ersten Zähne zeigte. Gelegentlich erinnerte sein Dirigat an den jungen verwegenen Revoluzzer Beethoven, der seine Altvorderen zwar gut studiert hatte, doch keine Scheu erkennen ließ, mit den Traditionen Haydns und Mozarts zu spielen., um dem neuen Stil, auch sein Siegel aufzudrängen.

    Besonders der humorvolle Anfang des Finalsatzes mit seiner Verzögerungstaktik zeugt von Honecks Verbindung zum Orchester und von der Meisterschaft der Dresdner Streicher im „Daherschleichen“, so dass die Satzbenennung „Adagio-Allegro molto evivace“ für den aufmerksamen Hörer wie eine Überraschung erschien.

    Der lang anhaltende Beifall zeigte, dass auch von den Dresdner Musikfreunden viele die Außergewöhnlichkeit der Darbietung Manfred Honeck als solche aufgenommen hatten.


    Im zweiten Teil des Konzertes kam Felix Mendelssohn Bartholdys Symphonie-Kantate für Soli, Chor, Orchester und Orgel op.52 „Lobgesang“ zur Aufführung:

    Seit der Wanderdrucker Marcus Brandis (um 1455-1500) aus Delitzsch im Jahre 1481 das erste Buch, das Leipzig als Druckort benannte, zum Kauf angeboten hatte, konnte sich der Buchdruck in der Stadt sprunghaft entwickeln. In Verbindung mit Leipzigs Stellung als bürgerlich-kulturelles Zentrum Sachsens und die Blütezeit der Messe als Marktplatz Europas galt der Ort bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als „Hauptstadt des Deutschen Buchhandels“. Die Welt hatte diese Entwicklung dem Genie des Mainzer Bürgers Johannes Gensfleisch (um 1400-1468) genannt Gutenberg zu verdanken. Er bündelte in der Mitte des 15. Jahrhunderts seine Entwicklung der beweglichen, einzeln gegossenen Lettern mit seinem Prinzip „Rechter Winkel-plane Flächen“ sowie die Weiterentwicklungen von Gusswerkstoffen, Farben und Pressen zu einem komplexen Druck-Fertigungsprozess. Mit seiner Arbeit markierte Gutenberg den Beginn der Neuzeit, indem er die Möglichkeiten der Verbreitung des Wissens aus den mühsam tätigen Kopierstuben sowie von den etwas hilflosen asiatischen Holzplattendruckern in ein breit anwendbares technisches System transferiert hatte.

    Die Stadt der Buchdrucker und Verleger Leipzig richtete im Jahre 1840 eine gewaltige Feier zur Würdigung der Persönlichkeit Gutenbergs aus. Dazu erteilte der Rat der Stadt 1839 dem Gewandhauskapellmeister Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847) die Aufträge, einen „Weltlichen Festgesang für Männerchor und zwei Blasorchester“ und ein „Großes Werk für Orchester, Chor und Sänger zum Lobe Gutenbergs“ zu komponieren.

    Der „weltliche Festgesang“ ist am 24. Juni 1840 von den vereinigten „Militär- und Stadtmusikchören“ mit Mendelssohns Dirigat zur Weihung einer Nachbildung des Mainzer Gutenberg-Denkmals, das der Leipziger Bildhauer Friedrich Funk (1804-1882) auf dem Marktplatz aufgestellt hatte, aufgeführt worden. Für seinen zweiten Auftrag wollte Mendelssohn zunächst ein Oratorium, dann eine größere Psalm-Vertonung schaffen, bis er sich für eine Mischung aus symphonischer Musik und einer Kantate entschied. So glaubte er das Problem des Zusammenwirkens von Poesie und Musik für die Aufführung am 25. Juni 1840 des „Lobgesangs“ im großen Festkonzert in der Thomaskirche gefunden zu haben. Für eine weitere Aufführung im Dezember 1840 erweiterte der Komponist seine Arbeit um weitere Sätze. Diese Fassung wurde, allerdings erst Jahrzehnte nach seinem Tode, in seinem Werkverzeichnis als Symphonie Nr. 2 B-Dur eingeordnet.

    Die Festbesucher der ersten Darbietungen seien begeistert gewesen und der „Lobgesang“ ist zu Mendelssohns Lebzeiten eines seiner häufigsten aufgeführten Werke gewesen. Die professionelle Kritik hat aber vom Beginn an bis zur Jetztzeit verstört über die eigenwillige Mischung von Chor- und Orchestermusik reagiert. Als nicht sonderlich glücklich gilt auch die Gegenüberstellung biblischen Geschehens mit der Entwicklung des Buchwesens: die Erlösung des im Dunkel der Glaubensungewissheit gefangenen Volkes Israels durch Führung in das Licht der Erkenntnis ist sicher keine treffende Metapher.

    Gegen eine Deutung des „Lobgesangs“ als Kantate mit symphonischem Vorspiel sprechen die unterschiedlichen Längen von den drei orchestralen Sätzen gegenüber den kaum doppelt so langen vielfältigen Gesangsformen, wenn da Rezitative, Lieder, Arien und Chorsätze wechseln. Das Eingangsmotiv der Symphonie begleitete die Zuhörer bis zum Schluss und wurde zum krönenden Ruf des Chores „Alles was Odem hat, lobe den Herrn“.

    Manfred Honeck zelebrierte das Werk ohne in größeres Pathos zu verfallen. Die orchestralen Sätze konnten kaum bessere Interpreten als die Sächsische Staatskapelle finden. Die Musiker spielten sehr engagiert, äußerst differenziert und sicherten einen transparenten, durchhörbaren Klang. Dabei ließ Honeck den Klangfarbenreichtum betonen und legte versteckte Schönheiten der Partitur frei. Ihm gelang, romantische Klangvorstellungen mit dem traditionellen warm-gedeckten Ton des Orchesters umzusetzen und mit seinen Ansprüchen an die Virtuosität der Instrumenten-Gruppen in Einklang zu bringen. Die Streicher hatten ihr Vibrato auf ein Minimum gedrosselt und die Bläser musizierten nie schwer gepanzert. Es gab konturierte Kammerstücke beim Innehalten zwischendurch, gestisch fein gezeichnete Details und spannende Übergänge. Markant, aber nicht auftrumpfend intonierten die drei Posaunen die Eingangs-Fanfare, die dann als roter Faden durch das gesamte Werk geführt wurde. Ein Stillstand im ersten Satz und wie Honeck das Orchester wieder ins Tempo hineinschob, war höchste Dirigierkunst. Der zweite Satz kam fast wie Ballettmusik und das „Adagio religiosi“ entfaltete weihevolle Größe.

    Der den vokalen zweiten Teil eröffnende Satz „Alles was Odem hat, lobe den Herrn“ wurde frisch und kontrastscharf vom Sächsischen Staatsopernchor vorgetragen. André Kellinghaus hatte mit seiner Einstudierung Hervorragendes geleistet, wenn die Darbietung innehielt, der Chor sein Singen in ein Pianissimo verschattete, um so das Rezitativ und die Arien des hervorragenden Tenors Tilman Lichdi einzuleiten. Im Sopranduett harmonierten Christina Langhammer und Simona Ṧaturová auf das Innigste miteinander. Dem folgte sanft und doch fordernd das Tenorsolo „Stricke des Todes hatten uns umfangen“.

    Es gab auch beklemmende Passagen, wenn der Chor sein „der in seine Hoffnung setzt auf ihn!“ dämpfte, um so auf die Wächterszene hinzudeuten, in der, etwas opernhaft, der Knoten des Werkes geschürzt wurde: zum Zerreißen gespannt fragte der Tenor Tilman Lichdi „Hüter , ist die Nacht bald hin?“, bis endlich mit leuchtendem Sopran Christina Langhammer mit „Die Nacht ist vergangen“ den Durchbruch einleitete und das zentrale geistliche Thema vorstellte: ein gütiger Gott, der die betrübte Menschheit aus „Not“ und „schwerer Trübsal“, aus den Stricken des Todes und der „Angst der Hölle“ erlöst. Der Sächsische Staatsopernchor nahm das Thema zu Recht martialisch auf, wandelte sich in einen Gemeindegesang und trug die lutherische Hymne „Nun danket alle Gott“ schlicht, aber gestochen scharf vor. Die beiden Chorfugen, mit der die Symphonie schließt, wurden in aller Pracht entfaltet.

    Nicht Rhetorik, sondern Ausdruck und Seele zogen die Zuhörer in ihren Bann. Die breite Anlage und der ereignisreiche Klang strukturierten die Darbietung eindringlich.

    Die hervorragenden Sopranistinnen Christina Landshammer und Simona Ṧaturová, der stimmkräftige Tenor Tilman Lichdi, ein hervorragend aufgelegter Chor sowie der hoch-engagierte Manfred Honeck gestalteten auch mit der nicht unproblematischen Komposition des Felix Mendelssohn Bartholdy den zweiten Teil des Konzertes zu einem schönen Erfolg.


    Credits:

    Palmsonntagskonzert am 24. März 2024 in der Semperoper

    Ludwig van Beethoven: Symphonie Nr. 1 C-Dur op. 21

    Felix Mendelssohn Bartholdy: „Lobgesang“ Symphonie-Kantate für Soli, Chor, Orchester und Orgel

    Christina Langhammer, Sopran

    Simona Ṧaturová, Sopran

    Tilman Lichdi, Tenor

    Sächsischer Staatsopernchor-Einstudierung: André Kellinghaus

    Sächsische Staatskapelle Dresden

    Dirigent: Manfred Honeck

  • Der Hofkapellmeister der Jahre 1511 bis 1841 Francesco Morlacci (1784-1841) hatte die Einrichtung eines Fonds zur Unterstützung der Witwen und Waisen ehemaliger Kapell-Mitglieder angeregt, dessen Finanzierung seit 1827 aus dem Ertrag der seit dieser Zeit traditionellen Palmsonntagskonzerte erfolgt.

    Darf man das ein wenig bezweifeln? ;)

    “There’s no point in being grown up if you can’t act a little childish sometimes” (Doctor Who, der Vierte Doktor)

  • Abschluss der Strauss-Tage 2024 Dresden mit Antonio Pappano: Reger „Mozartvariationen“, Strauss.“Don Quixote“

    Als „genetischem Thüringer“ sind die Namen der beiden Komponisten des Konzertes Richard Strauss (1864-1949) und Max Reger (1873-1916) für mich eng mit der „Meininger Hofkapelle“ verbunden. Für deren Entwicklung hatte die Persönlichkeit des Theaterherzogs“ Georg II. (1826-1914) eine wichtige Bedeutung. Der auf Betreiben des Preußischen Reichskanzlers Otto von Bismarck (1815-1898) im Jahre 1866 zum regierenden Herzog von Sachsen-Meiningen ernannte Georg II. ist in der heutigen Betrachtung wegen seiner Reformen der Liberalisierung des Rechtswesens, des Schulsystems und des Gemeindewesens anerkannt. Vor allem seine Förderungen von Kunst und Kultur als Mäzen an der Spitze des Hoftheaters sowie die Entwicklung der Meininger Hofkapelle zu einem Spitzenorchester seiner Zeit hatten ihm den Titel des „Theaterherzogs“ eingebracht. Die 81 Gastspielreisen des Hofschauspielerensembles durch Deutschland und Europa im Zeitraum ab 1874 mit des Herzogs Inszenierungen und den szenischen Bühnenbildern haben geschätzte zwei Millionen Zuschauer erleben können. Mein in einer Exklave „Eisenberg“ des Herzogtums im Jahre 1872 geborener Großvater hat das Wirken des Herzogs mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht so positiv gesehen. Denn als Drittgeborener von fünf Söhnen des Bauern Friedrich-Wilhelm Thielemann (1831-1901) musste Hugo 1895 mit seinen Brüdern Reinhold, Friedrich und Hermann am gleichen Morgen, als das Anwesen dem ältesten Sohn Gustav-Hermann übertragen wurde, das Dorf Wichmar verlassen. Nachdem sie Jahrelang lediglich für Kost und Logis im Anwesen mit geschuftet hatten, wurden sie mit einem geringen Zehrgeld auf Wanderschaft geschickt und durften sich ein Jahr dem Heimatort nur bis zu einer Meile nähern. Nur dank dieser drastischen Erbregelungen und brutal agierender Steuerbeamter konnte die Leistungsfähigkeit der Agrarwirtschaft in der 280.000-Bewohner-Monarchie erhalten werden und die Leidenschaften ihres Herzogs finanzieren.

    Zu Fuß waren die Brüder nach Leipzig gelangt und ergänzten den Arbeitskräfte bedarf der industriellen und gesellschaftlichen Entwicklung in der Stadt. Politisch orientierte oder kirchliche Gruppierungen unterstützten die Zuwanderer bei der Wohnungs- sowie Arbeitssuche und beim Zurechtfinden. Zunehmend holten sie ihre dörflichen Bräute nach und gründeten Familien. Mir hat diese Entwicklung ermöglicht, in der Stadt aufzuwachsen und deren Möglichkeiten zu nutzen. Aber die Erzählungen des Großvaters über seine Jugend klangen noch in den 1940-er Jahren bitter.

    Der Spätromantiker Max Reger übernahm im Jahre 1911 die Leitung der Meininger Hofkapelle und wurde 1913 auch deren Generalmusikdirektor. In dieser Zeit reifte auch die Idee zu den Variationen über ein Thema Wolfgang Amadeus Mozarts (1756-1791), obwohl Reger in seiner Jugend die Sonaten des Salzburgers als zu einfach empfunden hatte. Die Wahl fiel auf das Thema des ersten Satzes der wahrscheinlich bekanntesten Mozart-Klaviersonate Nr. 11 A-Dur KV 331, mit dessen Versetzung in neue harmonische Umgebungen Reger wechselnde Stimmungen schaffen wollte. Zunächst schien es ein absurdes Vorhaben, dass sich der verschwenderisch mit Harmonien umgehende Reger an die karge Klarheit des Mozart-Themas heranwagte. Aber vor allem wollte er mit den Variationen die differenzierte Instrumentierungskunst der Meininger Kapelle, die „Quintessenz seiner Meininger Erfahrungen“, demonstrieren.

    Antonio Pappano und die Staatskapelle modellierten uns einen eindrucksvollen Rückblick auf das frühe 20. Jahrhundert, auf einen Mozart, der, dank Regers ständig präsenter Variationskunst sowohl zarter als auch kraftvoller zu hören war, als heute üblich. Beeindruckend, wie Pappano die Musiker der Staatskapelle die außergewöhnlichen Mutationen des Mozart-Themas spielen ließ. Zum Anfang leitete die so herrlich warm klingende Oboe des Französischen Gastsolisten Armand Djikoloum zu einem reizvollem Wechselspiel zwischen Holzbläsern und Streichern über, die das Thema mit Wehmut, wie eine Erinnerung an längst vergangene Zeiten, anreicherte. Einige Male von kontrastierenden Stimmen „klassisch umspült“, legte es zunehmend seine Lieblichkeit ab. Bereits die dritte Variation erklang kammermusikalisch-verfremdet, während sich die beiden Mittel-Variationen am weitesten von Mozart entfernten. Mehr Rhythmus und heiteres Hörempfinden in der Folge, bis letztlich die siebte, mit Blech bewehrt, als schneidiger Marsch daherkam. Als Endpunkt räkelte sich die Mozartvorlage als achte Variation in der Schwüle des Beginns des 20. Jahrhunderts.

    Mit der abschließenden Fuge blieben dem Dirigenten und dem Orchester nichts anderes übrig, als diese am Charakter des Mozart-Themas doch ziemlich vorbeikomponierte Entwicklung sich dem Vorbild wieder, so dezent als möglich, zu nähern. Dazu war Antonio Pappano der richtige Musiker, der auf Durchsichtbarkeit im Orchester abzielte, aber zugleich dem klaren Ton betörende romantische Aspekte zuzuschreiben verstand. Der raffinierte Einfallsreichtum der Fuge war mit Klarheit und Wärme deutlich gemacht. Die Details waren gewissenhaft, aber nicht pedantisch beachtet. Die Harmonie war ebenso wichtig wie der Kontrapunkt, was uns zu Mozart zurückführte. Wie von Reger beabsichtigt, stellte Pappano das Orchester wie ein Musiklexikon noch einmal vor: er ließ die Streicher dezent-seidig loslegen und erlaubte mit jedem Einsatz einer neuen Instrumentengruppe oder eines der Blasinstrumente, deren eigene Möglichkeiten zu entfalten.
    Das war beeindruckend.

    Ein körperlicher und seelischer Zusammenbruch während einer Konzerttournee im Februar 1914 unterbrach Regers Arbeit an den Variationen und führte zu einem Sanatoriums-Aufenthalt in Martinsbrunn bei Meran. Vom April bis zum Juli 1914 entstanden die Manuskripte des Reger-Opus 132. Allerdings fühlte sich Reger den Aufgaben der Leitung des Hoforchesters mit dessen reger Gastspieltätigkeit nicht mehr gewachsen, auch wollte er mehr Zeit für die Weiterentwicklung seines kompositorischen Schaffens gewinnen, so dass er im Juli 1914 Meiningen verließ. Er übersiedelte in das nahe Jena, prägte seinen „freien Jenaischen Stil“ und behielt, neben gelegentlichen Konzertreisen, nur noch seine Lehrtätigkeit am Leipziger Konservatorium. Im Alter von 43 Jahren verstarb Max Reger in Leipzig an Herzversagen.

    Eine Nebensächlichkeit: Das Konzert begann etwa fünf Minuten später, da die Reger-Partitur des Dirigenten fehlte und schwer aufzufinden war.

    Nach der Konzertpause folgte „Don Quixote-Fantastische Variationen über ein Thema ritterlichen Charakters“ op. 35 von Richard Strauss:

    Der „Erste Hofkapellmeister am Königlichen Hof- und Nationaltheater München“ Richard Strauss arbeitete im Frühjahr des Jahres 1897 gleichzeitig, so eine Tagebucheintragung vom 15. April, an zwei Tondichtungen: die eine beschrieb einen nicht näher definierten Helden, der sich gegen echte oder eingebildete Widersacher, zum Beispiel Musikkritiker, auflehnte. Ein Held, der liebte, kämpfte, aber letztlich der Welt entsagte. Die andere Arbeit betraf die tragische literarische Figur der Heldengeschichten des Miguel de Cervantes (1547-1616) „Don Quixote“, der in seiner Demenz eingebildete Abenteuer bestand. Ob der überlieferte Wunsch des 34-jährigen Komponisten ernsthaft war, dass sein Opus 35 „Don Quixote“ und das „Ein Heldenleben“ op. 40 stets gemeinsam aufgeführt werden sollten, müsste man bezweifeln. Denn irgendwann hätte jemand Überdeckungen zwischen „dem Helden“ und Don Quixote auffallen müssen. Nicht ohne Grund machte die scharf beobachtende Cosima Wagner den jungen Straus auf den Cervantes-Stoff aufmerksam, als er ihre Wünsche, ihr Schwiegersohn zu werden, durch geschaffene Tatsachen abwehrte.

    Mit Pappanos Dirigat gestaltete sich die etwas spröde Tondichtung zu einem sinnlichen Fest der Orchesterkultur der auf Richard-Strauss-Musik geradezu fixiert zu scheinenden Dresdner Staatskapelle. Don Quixote war für ein großes Orchester, allerdings mit vielen kammermusikalischen Einschiebungen, komponiert worden. Antonio Pappano hatte offenbar größte Freude an der Gestaltung mit einem Orchester, das aus Spitzenmusikern besteht.
    Der außergewöhnlich seidige Klang seiner Streicher prägte das Orchesterkolorit entscheidend und dominierte zu einem gewissen Grade den Höreindruck. Die Bläser traten weniger als separate Gruppe in Erscheinung, sondern färbten mischend den Gesamtklang. Pappano verstand es meisterhaft die Dynamik zu kontrollieren und volles Volumen mit feinster, luftig eingeordneter Kammermusik zu verbinden. Die Liebe zum Detail war erkennbar und die häufigen Höhenflüge mit ihrer Fülle von Ideen und Ereignissen passten zum Thema. Nie tönte das Orchester lärmig.

    Zwei Solo-Instrumente dienten der Verlautbarung der Protagonisten: das Cello der des Ritters und die Bratsche der des Knappen Sancho Pansa. Norbert Anger mit seinem Cello aus der Neapeler Werkstatt Alessandro Gaglianos (1665-1732) aus dem Jahre 1720 und der Bratschist Florian Richter, beide Konzertmeister der Sächsischen Staatskapelle ihrer Instrumentengruppen, trugen mit ihren virtuosen Soli erheblich zum Gelingen dieser Interpretation bei. Sie fügten sich in das Klangbild ein, ohne dabei in den Vordergrund zu drängen, und behielten trotzdem Präsenz. Die Aufmerksamkeit der Besucher gehörte besonders dem warmen Spiel des Cellos, sobald Anger den Bogen ansetzte, um mit technischer und emotionaler Brisanz die wunderbar anmutigen Gesangslinien des Don Quixote zu spielen. Seine rezitativischen Partien wirkten auch ohne Äußerlichkeiten, zumal sie erstaunlich hervorragend durch die Sonorität der Viola Florian Richters ergänzt wurden, wenn er die schwerfälligen Linien des Knappen kontrastreich nachvollzog. Ihr Ansatz, keine Karikatur, sondern Humor und Ironie wirkten durch die Musik, nie durch Mimik, Gestik oder Übertreibung. Die Chemie des Duos in den eng miteinander verflochtenen Abenteuern machte die Längen des Werkes besonders reizvoll, zumal ihnen Pappano ausreichend Raum zur Entfaltung sicherte.

    Richard Strauss hatte die Tondichtung als eine Themen- und Variationsform gestaltet. Pappano dirigierte das närrisch Gewordene und Uneigentliche der Einleitung geistvoll, eher nuanciert, als heroisch. Dabei schaffte es Pappano, bei der Vorstellung der Protagonisten nie die Spannung und Intensität zu verlieren, Musiker und Publikum bei der Stange zu halten. Immerhin musste das streitsüchtige Thema zehn fantastische Variationen mit ritterlichem Charakter durchlaufen. Abwechslungsreich ließ er die Instrumentalisten die von Strauss vorgegebenen unkonventionellen Techniken intonieren und das Illustrative geschickt einbinden. So nutzten mit verblüffender Wirkung die Holz- und Blechbläser ihre Dämpfungen, um das Blöken der Hammelherde in der zweiten Variation, den Kampf gegen die Schafherde, bestens durchhörbar zu gestalten. Sensibel aufeinander abgestimmte Register ließen Streicher und Bläser im Wechsel markant klingen. So verblüffte in der vierten Variation bei der unglücklichen Begegnung mit der Büßerprozession das Pianissimo der Bläser. Die Vision von der Dulcinea, der Wahnvorstellung des Don von der idealisierten Frau, fügte dem Geschehen in der sechsten Variation eine weitere Originalität mit dem Violine-Solo der Konzertmeisterin Yuki Janke hinzu. Der Einsatz einer Windmaschine weckte die Fantasie beim imaginären Flug des Helden durch die Luft in der siebten Variante. Eine gefährliche Bootsfahrt brachte die Helden in den Bereich des Mühlrades einer Wassermühle. Das Wasser, was nach der Rettung durch den Müller aus ihrer Kleidung tropfte, wurde von den Streichern mit Pizzicato-Zupfen intoniert. Keine der Episoden wirkte oberflächlich. Das Finale war zur besonders berührenden Musik geworden, als Don Quixote Abschied aus der Geschichte und dem Leben nahm und die Cellostimme, nicht durch Ablenkungen belastet, die letzten Atemzüge des Ritters mit einem Abgleiten begleitete.

    Sollten die Abenteuer des „Don Quixote“ ein Gleichnis für unsere ständigen Kämpfe im täglichen Leben gewesen sein? Sollte uns die Metapher weisen, das Leben so zusehen wie es ist, und nicht wie es sein sollte.

    Credits:

    „Richard-Strauss-Tage der Staatskapelle Dresden 2024“

    Matinee des Sonderkonzertes am 7.April 2024 in der Semperoper

    Max Reger: „Variationen und Fuge über ein Thema von Mozart“ op. 132

    Richard Strauss: „Don Quixote- Fantastische Variationen über ein Thema ritterlichen Charakters“ op. 35

    Solisten: Norbert Anger (Violoncello)

    Florian Richter (Viola)

    Sächsische Staatskapelle Dresden

    Dirigent: Antonio Pappano

  • Georg Friedrich Haas und Franz Schubert mit Susanna Mälkki im 9. Symphoniekonzert

    Mit der 1969 in Finnland geborenen Susanna Mälkki stellte sich im 9. Symphoniekonzert eine weitere Star-Dirigentin zu ihrem Orchesterdebüt bei der Sächsischen Staatskapelle vor. Mit der Uraufführung des „I don´t know how to crry“ für Orchester des Österreichischen Zeitgenossen Georg Friedrich Haas war ihr bereits eine anspruchsvolle Aufgabe übertragen worden.

    Über den „Capell-Compositeur“ der laufenden Saison Haas, seiner Entwicklung aus einer national-faschistischen Herkunft zum selbstständig denkenden und politisch aktiven Menschen sowie über seine Entwicklung als Komponisten hatte ich bereits im Bericht zu seinem Sonderkonzert im europäischen Kulturzentrum Hellerau geschrieben. Ungebrochen engagiert sich Haas als politisch aktiver Mensch im Kampf gegen neue faschistische Bewegungen, gegen eine Entsolidarisierung der Gesellschaften sowie religiöse Fundalismen und verbindet das mit seiner Kompositionsarbeit. Deshalb war es keine Überraschung, dass Georg Friedrich Haas in Anbetracht seiner Verzweiflung über Entwicklungstendenzen in der Welt sein am heutigen Vormittag erstmals aufgeführtes Orchesterwerk „Ich weiß nicht, wie man weint“ benannte. Mit den Kompositionen im Rahmen der Kammerabende, aber besonders mit dem „in vain“ des Hellerauer Sonderkonzertes hatten wir bereits einen Einblick in seine kompositorischen Intensionen und in seine Gedankengänge erhalten. Erwartungsgemäß offerierte uns Haas an diesem Vormittag neue Denkanregungen.

    Der aus dem anhaltinischen Halle stammende Richard Heinrich Stein (1882-1942) veröffentlichte im Jahre 1909 eine spätromantische Harmonielehre, in der er mit Viertelton-Verschiebungen experimentierte. Mit seiner Komposition „I don´t know to cry“ für Orchester hatte Georg Friedrich Haas diese Anregung nicht nur aufgenommen, sondern eigentlich auf die Spitze getrieben. Haas kombinierte Ballungen unterschiedlicher Tonhöhen, indem er gleichzeitig unterschiedliche Musiker die Töne mit jeweils leichten Frequenzverschiebungen spielen ließ und die so entstandenen Cluster im Orchesterklang gegeneinander setzte. Damit verloren die Töne ihre Einzelwirkung, ihre Bedeutung als Individuum, und erzeugen beim Hörer besondere Klangeindrücke. Interessant war, dass sich die Wirkungen der Cluster-Klänge mit den Tonhöhenbereichen verschieben: die tief eingestimmten Klanggruppen klingen anders als höher angesiedelten. Das deshalb, weil unser Hörvermögen frequenzabhängig differenziert. Haas ließ deshalb in der Höhe Streicher bis zu einem Sechstel-Tonabstand spielen, blieb aber bei den Kontrabässen bei Vierteltonabständen. In diese Struktur waren traditionelle tonale Akkorde eingeflochten, bei denen der Komponist zusätzlich seine reichen mikrotonalen Erfahrungen einfließen ließ.

    Natürlich lassen sich beim zweimaligen Hören der Komposition die Besonderheiten der Klangeindrücke noch nicht im vollen Umfang erfassen, zumal Haas mit seiner Arbeit ein Kaleidoskop unseres gesellschaftlichen Seins in eine knappe halbe Stunde gepresst hatte. Trotzdem war erkennbar, wie die ungewohnten Klangkonstruktionen die Wahrnehmung der Darbietung einer vom Orchester intonierten aufkommenden und wieder abschwellenden bedrohlichen Situation erkennbar veränderten. Selbst die Reflexionen des Komponisten auf seine Kindheitserinnerungen, seine Betrachtungen der Alpenlandschaft erzeugten einen erweiterten Eindruck. Auch das Wabern einer doch etwas desinteressierten Gesellschaft mit ihren zum Teil aktiven Gliedern ließ sich außergewöhnlich anhören. Die zweifelfrei stärksten Verschiebungen gegen eingefahrenes Aufnehmen von Klängen waren in den leisen, intimen Passagen des Stückes erkennbar. Als besonders faszinierend wirkten die Übergänge innerhalb des Werkes. Obwohl der letzte Teil des Orchesterwerkes durchaus depressive Passagen aufwies, konnte ich die extrem pessimistische Betitelung der Komposition nicht unbedingt nachvollziehen, denn letztlich müssen wir das Leben so sehen, wie es ist und nicht so, wie es sein sollte. Zumal der Mensch Georg Friedrich Haas in der persönlichen Begegnung einen durchaus lockeren und optimistischen Eindruck vermittelte.

    Für die beteiligten Musiker der Staatskapelle und eventuell auch für die hochengagierte Dirigentin war die Darbietung eine echte Herausforderung, der sie sich aber mit Begeisterung stellten.

    Franz Schubert (1797-1828) war bereits vor zehn Jahren verstorben, als Robert Schumann (1810-1856) am Neujahrstag 1839 während eines Aufenthalts in Wien das Sterbehaus Schuberts „Neue Wieden Nr. 694“, (heute Kettenbrückengasse 6) besuchte. Der Bruder des Komponisten Ferdinand zeigte Schumann eine Reihe von Entwürfen größerer Instrumentalwerken. Mit seinem geschulten Blick griff Schumann aus der Fülle den Entwurf einer C-Dur-Symphonie heraus ,den Schubert, zumindest so die Wasserzeichen- und Papieranalysen, auf einer Reise im Frühjahr bis zum Sommer des Jahres 1825 entworfen und für eine Aufführung des Konservatoriums-Orchesters der Gesellschaft der Musikfreunde kopieren ließ. Das Werk wurde aber als zu lang und zu schwierig von den überwiegend Laien-Musikern des Orchesters zurück gewiesen. Ob die Symphonie in einem „Concert spirituell“ dann doch 1829 gespielt wurde, ist nicht verbürgt. Jedenfalls nahm Robert Schumann eine Abschrift der Komposition mit nach Leipzig und gab diese an den damaligen Gewandhaus-Kapellmeister Felix Mendelssohn Bartholdy, der die „Große C-Dur Symphonie D 944 am 21. März 1839 zur Aufführung brachte.

    Frau Mälkki nahm Franz Schuberts Komposition als große Erzählung. Denn anders als Beethoven im Jahre 1824, der mit seiner neunten Symphonie gesellschaftliche, philosophische und weltumfassende Ansprüche stellte und mit seiner Musik weiträumige musikalische Gestaltung schaffte, wollte Schubert nicht appellieren. Er wollte seine Mitmenschen auf die Kraft und die Geheimnisse der Natur sowie deren Bindung an die menschliche Existenz aufmerksam machen.

    Wunderbar langsam, fast beiläufig ließ die Dirigentin das einleitende etwas unregelmäßige Hornthema langsam vortragen, entfaltete das Thema des Kopfsatzes und entwickelte daraus die Grundlage der lyrischen Kraft ihrer Interpretation. Sorgfältig schichtete Susanna Mälkki die rhythmischen Elemente übereinander. Ihr Dirigat war vom Beginn an effektiv, direkt und geprägt von gestrafften Tempi, die jedoch bisweilen zurückgenommen wurden, um auch die leiseren Momente wirken zu lassen.

    Zur großen Erzählung gestaltete Frau Mälkki den langsamen Satz das „Andante con moto“. Die Themen wurden regelrecht zu großen Bögen aufgebaut. Die Überleitung, gebildet aus tiefen Streichern, Horn und Fagott, zu dem einen Takt darauf Oboe und Flöte fast unmerklich hinzustießen, schien einen Moment das Geschehen der Welt anzuhalten, bis die Katastrophe der Durchführung allen Wohlklang zerstörte. Diese magischen Takte im Pianissimo versprühten mit ihrer Klarheit das Gespür der Finnin für große Wirkungen.

    Mit dem „Allegro vivace“-Scherzo ermöglichte die Dirigentin ihren Musikern und dem Publikum kaum Gelegenheit zum Durchatmen. Romantische Celli und Holzbläser bauten mit einem kraftvollen Tanz einen überwältigenden Drang zu Hoffnung und Überwindung aller Schwernisse auf. Es blieb aber auch Platz, die Schönheiten der Partitur zur Wirkung zu bringen.

    Die gewaltigen Dimensionen des Finalsatzes entfalteten Dirigentin und Orchester auf das Euphorischste. Mit dem Beginn der Wiederholung folgte Mälkki den rätselhaften Intensionen Schuberts: ohne die Tonart wiedergefunden zu haben, ließ die Dirigentin das Thema eruptiv in den Satz platzen und die großen dramatischen Bögen mit höchster Intensität im Orchester-Tutti entladen.

    Susanna Mälkkis effektvolles Dirigat war überwältigend und ließ die wahre Größe der Komposition hervortreten. Spürbar stimmte die Chemie zwischen dem Gast und den Musikern. Dank ihrer hervorragenden Tempowahl, ihrer Art, die Akzente und Artikulationen zu setzen, verging die Zeit von Schuberts C-Dur-Symphonie wie im Fluge.

    Der Beiname „die Große“ wurde an diesem Vormittag von der Sächsischen Staatskapelle auf das Beste gerechtfertigt.
    Es war schlichtweg „großartig“.

    Credits:

    Matinee des 9. Symphoniekonzertes der Dresdner Staatskapelle

    14. April 2024-Semperoper Dresden

    Georg Friedrich Haas „I don´t know how to cry“ für Orchester-Uraufführung

    Franz Schubert: „Symphonie C-Dur D 944“- Große

    Dirigentin: Susanna Mälkki

    Sächsische Staatskapelle Dresden.

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