Vom Konzertleben in Dresden

  • Premiere der Bösch-Inszenierung „Die Frau ohne Schatten“ von Richard Strauss in der Semperoper

    In den mythologischen Vorstellungen vieler Kulturen ist der Schatten eines Menschen sein „zweites Ich“, das Spiegelbild seiner Seele. Im Volksglauben ist der bewegliche Schatten ein zum Wesen des Betreffenden gehörender Bestandteil, so wie sein Atem seine Existenz symbolisiert und er mit seinem Versterben in ein „Schattenreich“ eingeht. Deshalb war nicht verwunderlich, dass in der europäischen romantischen Literatur des 19. Jahrhunderts eine Lebenskrise mit dem Verlust des eigenen Schattens des Betroffenen verbunden wurde. Der Dichter und Naturforscher Adelbert von Chamisso (1781-1838), aus den Wirren der Revolution seines Geburtslandes geflohen, kämpfte er auf der Seite Preußens, wurde nach einer Gefangenschaft „auf Ehrenwort“ frei, zog sich im Sommer 1813 auf des Gut eines Freundes nach Kunersdorf im Oderbruch zurück und durchlebte dabei eine Identitätskrise: „Ich bin Franzose in Deutschland und Deutscher in Frankreich“. Seinen Frust verarbeitete Chamisso zur bekanntesten Märchenerzählung der Romantik „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“, in der der Protagonist seinen Schatten dem Teufel verkauft und erkennen muss, dass der Verlust den Ausschluss aus der menschlichen Gesellschaft bedeutet. Nur der Befreiungsschlag mit „Siebenmeilenstiefeln“ verschaffte Peter, wie seinem Schöpfer, eine Karriere als Naturforscher.

    Nach der erfolgreichen Zusammenarbeit bei den Opern „Elektra“ und „Der Rosenkavalier“ sprach der Librettist Hugo von Hofmannsthal (1874-1929) mit dem Komponisten Richard Strauss (1864-1949) über eine weitere Zusammenarbeit. Noch während der Rosenkavalier-Proben im März des Jahres 1911 schlug er eine „Allegorie des Sozialen“, dabei über den Sinn von Paarbeziehungen vor und regte als Grundlage der Oper ein Zaubermärchen an. Die Bedeutung der „Schattenlosigkeit“ für gesellschaftliche Akzeptanz entlehnte er bei Chamisso und ihre Bedeutung für die Fruchtbarkeit in einer Paarbeziehung fand er in Nikolaus Lenaus Gedicht „Anna“.

    Richard Strauss sei über das Libretto Hofmannsthals sehr glücklich gewesen und habe sich unmittelbar der Komposition gewidmet. Offenbar hat er aber dem Librettisten intensiv in seine Arbeit hineingeredet und geschrieben, so dass der Musikwissenschaftler Olaf Enderlein aus den Hinterlassenschaften der Zusammenarbeit der Beiden in der Zeit von 1910 bis 1917 eine 814 Seiten umfassende Dissertation schöpfen konnte. Hugo von Hofmannsthal hat seinerseits 1919 seine Prosafassung als Kunstmärchen veröffentlicht, in der er angeblich seit 1912 alle von Strauss gerissenen Lücken der Opernfassung ausfüllte.

    Vertieft man sich in das das märchenhaft-mystische und symbolisch in mehreren Ebenen verquickte Libretto, so kommt ohnehin der Verdacht, dass Hofmannsthals brillante poetische Sprache für den Komponisten vor allem ein Gerüst darstellte, über das er seine grandiose Musik ausbreiten konnte. Entstanden ist ein Meisterwerk, weil das märchenhaft-mystische und symbolisch in mehreren Ebenen verquickte Libretto mit seiner poetischen Sprache dem Komponisten die Möglichkeit verschaffte, eine grandiose Musik zu schreiben.

    Was passiert:

    In einer märchenhaften Welt ist die Tochter des Geisterfürsten Keikobad seit fast einem Jahr mit dem Kaiser verheiratet. Aber auf der Ehe liegt der Fluch der Kinderlosigkeit, weil sie keinen Schatten wirft, ihr das Menschsein fehlt. Gelingt es nicht, ihr innerhalb dreier Tage einen Schatten zu vermitteln. sprich ihr eine Empfängnis zu verschaffen, so wird der Kaiser versteinert und die Kaiserin muss zurück ins Reich der Geister. Eine etwas zwielichtige Betreuerin der Kaiserin aus dem Geisterreich, ihre Amme, versucht, der Frau eines im Laufe der Ehejahre inzwischen asexuell lebenden Färberpaares ihren Schatten gegen ein sexuelles Abenteuer und ein Wohlstandsversprechen abzukaufen. Letztlich scheitert die Übernahme des Schattens der Färberin, was in einer etwas undurchsichtigen Logik vom Geisterfürsten als „Bestehen der Prüfung“ akzeptiert wird und sie ihren Schatten erhält. Die Färbersleute erkennen die Probleme ihrer Beziehung und finden wieder zueinander. Die Amme hingegen wird zur ewigen, die ihr verhassten „Menschwerdung“ verdammt.

    Der Regisseur David Bösch und sein Bühnenbildner Patrick Bannwart konnten sich mit der Unterordnung der Handlung unter die dominante Musik offensichtlich nicht abfinden und gestalteten eine opulente Märchenoper voller bildgewaltiger und mit Metaphern gespickter Einfälle. Sie stellten die Situation beider Paare, unterstützt von den Kostümen der Moana Stemberger, in großer Klarheit gegenüber. Das Kaiser-Paar, weiß gekleidet, lebt in mit vornehmen graublauen Tönen getauchter Umgebung, während die Färbersleute mit den drei Barak-Brüdern in einer graubraunen vernachlässigten Kombination ihres Arbeits- und Wohnbereichs existierten. Bösch nutzte die Lebensumstände für eine präzise Zeichnung der beiden Frauenschicksale, die in ihrem Emanzipationsstreben eng miteinander verknüpft waren. Von beiden Frauen erwarten ihre Ehepartner den Nachwuchs, was aus unterschiedlichen Gründen nicht gelingen konnte. Die Bühnentechnik half Bösch, die Situation beider Paare als zwei Seiten der gleichen Medaille aufzufassen. Während bei „Kaisers“ die Stimmung gespannt -zivilisatorisch blieb, ging es im Färberhaus ordentlich zur Sache. Vor allem als die Amme mit ihrem Angebot, den Schatten der Färberin gegen gehobene Lebensumstände abzutauschen, in die Handlung eingriff. Da überboten sich Unmengen eleganter Kleidung, teurer Schmuck, Nahrungsmittelüberfluss, sexuelle Möglichkeiten mit attraktiven jungen Männern, gesellschaftlicher Aufstieg und öffentliche Aufmerksamkeit. Die originellste Idee, bereits im Libretto dieser Szenenreihe angelegt, blieb, dass die Amme die Kaiserin als Haushalthilfe in den Färberhaushalt eingeschleust hatte, damit sie, obwohl sie niederste Arbeiten verrichten musste, ständig zur Übernahme des Schattens vor Ort war. Aber kurz vor Abschluss des Handels, versöhnten sich die Färbersleute. Das Motiv der ungeborenen Kinder hatte das Färberpaar wieder zusammen geführt. Symbolisch aufgeladene Abläufe führten zur Verdammung der Amme, zur Wiederbelebung des versteinerten Kaisers und zur Ausstattung der Kaiserin mit dem notwendigen Schatten. So bleibt: Die Färberin erkennt am Schluss die Autorität des Mannes an und auch die Kaiserin beugt sich der männlichen Vorgabe ihres Vaters.

    Im Färberhaus stößt in der Schluss-Szene das Kaiserpaar, allerdings zeitgemäß gekleidet, zu den Färberleuten. Nach Absolvierung des musikalisch hochemotionalen Finales, finden sich neue Paarungen: Barak mit der Kaiserin gehen gemeinsam nach Links und die Färberin geht mit dem Kaiser nach rechts ab. Zurück bleibt auf der kahlen Bühne eine zur ewigen Menschwerdung verurteilte Amme. Für den Partnertausch habe ich in Hofmannsthals Text keine Ansätze finden können. War das nur eine Anspielung auf unsere moderne Gesellschaft? Böschs gekonnte mit Symbolismen überhäufte Show wäre ohnehin eine tiefere Relevanz zu vermitteln, falls man dem Opernabend unbedingt eine besondere gesellschaftliche Bedeutung beimessen möchte.

    Die Gelegenheit, in der Generalprobe die Inszenierung vorab kennen zu lernen, erlaubte mir, mich am Premierenabend überwiegend auf die Leistungen der Singenden und Musizierenden zu konzentrieren. Das Mammutprojekt der „Frau ohne Schatten“ im vollbesetzten Graben mit einer anspruchsvollen Sängerbesetzung und mehreren Chören war bei der von Wagner- und Brucknermusik gestählten Sächsischen Staatskapelle in den besten Händen. Unter dem Dirigat Christian Thielemanns gelang dem Orchester ein in allen Facetten packendes Strauss-Wunder zu gestalten. Bereits das erste dumpfe Anklopfen des Schicksals erklang so aufrüttelnd, dass man auch die kommenden Stunden wie gebannt bei der Musik blieb. Beeindruckten die ersten Schläge aus dem Graben noch mit ihrer Wucht, so war in der Folge das subtile Ausleuchten der Partitur mit ihren Feinheiten, das Aufblühen ihres Raffinements angesagt. Christian Thielemann zelebrierte seinen Strauss nicht in weit gespannten Bögen, differenzierte stattdessen, setzte auf die krasse Modernität der grandiosen Musik und ließ ein beeindruckendes Klanggebirge erstehen. Dabei schöpfte er aus allem, was diese Komposition zu bieten hat, arbeitete Details der unterschiedlichen Klangwelten des Stücks heraus und ließ keinen musikalischen Stein nicht umgedreht. Thielemann weiß um die verführerische Wirkung der großen sich aufbäumenden Tutti, beherrscht aber auch das Filigrane. Die Staatskapelle als ein virtuoses Ensemble mit einem von den Blechbläsern gesättigtem Tutti bis zum kleinsten kammermusikalischen Format reichenden Spektrum, konnte das auch makellos umsetzen. Mit bezaubernden, trotzdem den Raum füllenden Streicher-Soli vom Cellisten Sebastian Fritzsch sowie der Violine Matthias Wollongs in den kammermusikalischen Passagen inclusive dem überwiegend weiblich ausgeprägtem entfesselten Orchester-Chaos wurde alles beherrscht und geriet nie aus der Balance. Auch die chinesischen Gongs, die Glasharmonika, und die Celestas fanden ihre Plätze in der Hierarchie. Obwohl Strauss in einer für die Sänger grenzwertigen Lautstärke instrumentiert hatte, gelang Christian Thielemann in jedem Augenblick die höchste Souveränität der dramatischen Führung des Verhältnisses vom Graben und Bühne.

    Die Frau ohne Schatten ist berüchtigt für ihre Forderung nach fünf heldenhaften Sängern. Die Semperoper hatte diesem Erfordernis mit einem Quintett der Hauptpartien auf das Glänzendste entsprochen:

    Mit Camilla Nylund war die Aufgabe der Kaiserin einer in dieser Rolle bereits erfahrenen Sängerdarstellerin der Extraklasse übertragen worden. Sie begann ihre Darbietung verhalten, tastend und steigerte sich dann zunehmend. So entwickelte Camilla Nylund das betörende Rollenportrait einer Frau, die ihre Verzagtheit besiegte, über sich hinauswuchs und am Ende selbstbewusst triumphierte. Zunächst eine Kaiserin voller Neugierde und Verletzlichkeit, die sich aber aus dem Banne der Amme sowie aus den Zwängen ihrer Herkunft befreien konnte. Auch ihren Gesang setzte Frau Nylund zunächst leise an, um dann ihre Stimme scheinbar mühelos aufblühen zu lassen, dabei ihre betörenden Koloraturen des ersten Aktes mit scheinbarer Leichtigkeit zu bieten, Im dritten Akt wuchs die Sopranistin über sich hinaus und bewies, zu welcher Dramatik, zu welch kontrollierten Ausbrüchen ihre Stimme fähig war. So wurde sie zum wichtigen Bestandteil des hemmungslos entladenden Abschlusses der Oper, zu dem Strauss alle Möglichkeiten seiner Kunst eingesetzt hatte.

    Den Kaiser bot Eric Cutler im Spiel kühl und emotionsarm, betonte dabei eher das Lyrische als das Heldenhafte, ohne die innere Entwicklung seiner Figur zu vernachlässigen. Sein Tenor glänzte in seinen beiden herausfordernden Solo-Auftritten mit unangestrengter Leichtigkeit, offener, niemals forcierender, zugleich klangschöner Stimme. Besonders mit seinem großartigen Monolog im zweiten Akt bot Cutler Gesangskunst auf höchstem Niveau.

    Als eine der großen Sängerdarstellerinnen unserer Zeit gestaltete Evelyn Herlitzius die Partie der Amme zu einer seltenen Charakterstudie. Mit minimaler Körpersprache, passender Mimik erreichte sie eine außergewöhnliche Bühnen-Präsenz, wenn sie mit wendiger Schläue die Kaiserin, den Färber und die Färberin rücksichtslos manipulierte. Selbst wenn sie nicht sang, bildete sie den Mittelpunkt der Szene. Schaurig-schöne Tiefen ihres kraftvollen Mezzo-Organs ließen in den expressiven Phrasen wie „Übermächte sind im Spiel“ dem Zuschauer einen Schauer über den Rücken laufen. Herlitzius war auch durchaus in der Lage, im oberen Bereich der Gesangspartie schön zu singen. Letztlich musste ihre Figur das Scheitern akzeptieren.

    Für den ukrainischen Bariton Oleksandr Pushniak wurde sein Haus- und Rollendebüt als Färber Barak ein schöner Erfolg. Pushniak, der ab der kommenden Saison zum Hausensemble stößt, gestaltete den Barak mit seiner gesamten Bedeutung äußerst differenziert. Als eine scheinbar brutale Persönlichkeit entwickelte er enorme Sympathien. Mit seiner fantastisch warmen schönen Stimme entfaltete er sowohl balsamisch-sanften, als auch triumphal-emphatischen Ausdruck. Zudem fiel seine hervorragende Textverständlichkeit auf.

    Die finnische Sopranistin Miina-Liisa Väelä zeigte als Färbersfrau eine erstaunliche Wandlungsfähigkeit mit ihrer Entwicklung von der quarzend-keifenden Megäre zu einem in voller Empathie-Fähigkeit aufglühenden Menschen. Aus der hochneurotischen von ihrer Umgebung missverstanden Frau, die in einem tristen Leben voll unerfüllter Sehnsüchte verdorrte, erwuchs sie, nachdem ihr Barak vermittelte, dass er sie nicht auf „die Gebärerin“ reduzierte, zu einem empfindsam strahlenden Menschen. Miina-Liisa Väelä musste in dieser Konstellation mit ihrer Stimme diese widersprüchlichen Emotionen des gezerrten Charakters überbrücken. Lautstark, nach Bedarf mit brutaler Gereiztheit der keifenden Megäre, schüchtern zerknirscht, konnte sie ihre glühend-leuchtende Sopranstimme mit Wärme und Leidenschaft füllen. Bewunderungswürdig wahrte Miina-Liisa Väelä immer gerade so viel Nachvollziehbarkeit für ihre abweisenden Bosheiten gegenüber ihrem Mann und dessen Brüdern, dass man ihre Reifung auch nachvollziehen möchte. Andererseits hatte ihr Strauss Momente des Zögerns und aufflackernde Sehnsucht nach Zärtlichkeit in ihren Ausbrüchen zugestanden.

    Um die Geschlossenheit der Aufführung zu sichern, waren für die Episoden-Partien zum Teil ausgesprochen Luxus-Sängerdarsteller eingesetzt worden. So waren „Eine Stimme von oben“ mit Christa Mayer und „ein Hüter der Schwelle des Tempels“ mit Nikola Hillebrand besetzt worden. Ein kleines Ereignis war „Die Stimme des Falken“ der US-amerikanische Sopranistin Lea-ann Dunbar. Die „glänzende Erscheinung eines Jünglings“ vom Tenor Martin Mitterrutzner stimmschön eingeworfen, war zweifelsfrei ein Besetzungsprunk. Bemerkenswert war die Darbietung des etwas unheimlichen Geisterboten des kraftvollen Erfurter Bassisten Andreas Bauer Kanabas. Das gilt auch für die Brüder des Färbers, dem Einäugigen Rafael Fingerlos, dem Einarmigen Tilmann Rönnebeck und dem Buckligen Tansel Akzeybeck, die grotesk komisch mit viel szenischem Einsatz und solidem Gesang die Szene fröhlich auflockerten. Bestechend waren auch die Kinderstimmen mit Nikola Hillebrand, Sofia Savenko, Lee-ann Dunbar, Stephanie Atanasov, Dominika Ṧkrabalová und Michal Doron besetzt.

    Beeindruckend war auch das Riesenaufgebot des Sächsischen Staatsopernchores samt des fantastisch mitspielenden und natürlich-singenden Kinderchores der Semperoper.

    Fast eine halbe Stunde dauerten die frenetischen Beifallsbekundungen der Premierenbesucher, deren Lärm noch einmal anschwoll, als auch die Musiker der Staatskapelle die Bühne befüllten.


    Credits:

    Premiere am 23. März 2024 in der Semperoper

    Richard Strauss: „Die Frau ohne Schatten“

    Inszenierung: David Bösch

    Bühne: Patrick Bannwart

    Kostüme: Moana Stemberger

    Licht: Fabio Antoci

    Video: Falko Herold, Patrick Bannwart

    Chöre: André Kellinghaus, Claudia Sebastian-Bertsch

    Dramaturgie: Johann Casimir Eule

    Sächsischer Staatsopernchor-Kinderchor der Semperoper

    Sächsische Staatskapelle Dresden

    Musikalische Leitung: Christian Thielemann

    Einmal editiert, zuletzt von thomathi (24. März 2024 um 09:49)

  • Palmsonntagskonzert 2024 mit Beethoven und Mendelssohn Bartholdy-Manfred Honeck dirigierte

    Der Hofkapellmeister der Jahre 1511 bis 1841 Francesco Morlacci (1784-1841) hatte die Einrichtung eines Fonds zur Unterstützung der Witwen und Waisen ehemaliger Kapell-Mitglieder angeregt, dessen Finanzierung seit 1827 aus dem Ertrag der seit dieser Zeit traditionellen Palmsonntagskonzerte erfolgt. Mit dem „Verein der Witwen- und Waisenkasse der Sächsischen Staatskapelle e.V.“ lebt diese Tradition noch immer. In diesem Jahr wollte Herbert Blomstedt nach meiner, nicht unbedingt vollständigen Zählung, das traditionelle Benefizkonzert zum zwölften Mal dirigieren. Bereits 1971 hatte er noch vor seiner Zeit als Chefdirigent der Staatskapelle am Palmsonntag 1971 Beethovens 9. Symphonie dirigiert.

    Eine Erkrankung des Altmeisters erforderte, dass der in Dresden bestens eingeführt Manfred Honeck, wie bereits 2022 das Dirigat des Benefizkonzerts übernahm und zunächst in Abänderung des Programms Ludwig van Beethovens (1770-1827) erste Symphonie D-Dur op. 21 interpretierte.

    Beethoven war bereits 29 Jahre alt, als er seine erste Symphonie mit eigenem Dirigat zur Aufführung brachte. Vermutlich arbeitete er seit 1794 an der Komposition und hatte bereits früher mit der sogenannten „Jenaer Symphonie“ Versuche unternommen, deren Authentizität aber inzwischen in Frage gestellt ist.

    Wie nicht anders zu erwarten war, verschaffte uns Manfred Honeck mit der Staatskapelle eine erfrischende Aufführung. So frisch, so spielfreudig im ursprünglichen Sinne haben wir Beethovens erste Symphonie lange nicht mehr zu hören bekommen. Mit Leidenschaft durchpflügten die Musiker der Staatskapelle den Kopfsatz mit seinen instrumentalen Widerborstigkeiten und gingen die Durchführung beherzt an. Stets sorgte das Orchester für klare Durchhörbarkeit, alles war leicht und dabei sauber und klar gespielt. Das Blech klang strahlend und zupackend. Wo es finster wurde, ballte sich das Ensemble mit Wucht und Willensstärke zusammen. Manfred Honecks Tempi waren zügig, elastisch und geschmeidig. Seine Interpretation sicherte eine durchgängig fulminante Dynamik und eine plastische Phrasierung. Honeck rang der Symphonie knackige Rasanz ab und zeigte, dass Beethoven nicht einfach der Haydn-Schüler war, sondern bereits die ersten Zähne zeigte. Gelegentlich erinnerte sein Dirigat an den jungen verwegenen Revoluzzer Beethoven, der seine Altvorderen zwar gut studiert hatte, doch keine Scheu erkennen ließ, mit den Traditionen Haydns und Mozarts zu spielen., um dem neuen Stil, auch sein Siegel aufzudrängen.

    Besonders der humorvolle Anfang des Finalsatzes mit seiner Verzögerungstaktik zeugt von Honecks Verbindung zum Orchester und von der Meisterschaft der Dresdner Streicher im „Daherschleichen“, so dass die Satzbenennung „Adagio-Allegro molto evivace“ für den aufmerksamen Hörer wie eine Überraschung erschien.

    Der lang anhaltende Beifall zeigte, dass auch von den Dresdner Musikfreunden viele die Außergewöhnlichkeit der Darbietung Manfred Honeck als solche aufgenommen hatten.


    Im zweiten Teil des Konzertes kam Felix Mendelssohn Bartholdys Symphonie-Kantate für Soli, Chor, Orchester und Orgel op.52 „Lobgesang“ zur Aufführung:

    Seit der Wanderdrucker Marcus Brandis (um 1455-1500) aus Delitzsch im Jahre 1481 das erste Buch, das Leipzig als Druckort benannte, zum Kauf angeboten hatte, konnte sich der Buchdruck in der Stadt sprunghaft entwickeln. In Verbindung mit Leipzigs Stellung als bürgerlich-kulturelles Zentrum Sachsens und die Blütezeit der Messe als Marktplatz Europas galt der Ort bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als „Hauptstadt des Deutschen Buchhandels“. Die Welt hatte diese Entwicklung dem Genie des Mainzer Bürgers Johannes Gensfleisch (um 1400-1468) genannt Gutenberg zu verdanken. Er bündelte in der Mitte des 15. Jahrhunderts seine Entwicklung der beweglichen, einzeln gegossenen Lettern mit seinem Prinzip „Rechter Winkel-plane Flächen“ sowie die Weiterentwicklungen von Gusswerkstoffen, Farben und Pressen zu einem komplexen Druck-Fertigungsprozess. Mit seiner Arbeit markierte Gutenberg den Beginn der Neuzeit, indem er die Möglichkeiten der Verbreitung des Wissens aus den mühsam tätigen Kopierstuben sowie von den etwas hilflosen asiatischen Holzplattendruckern in ein breit anwendbares technisches System transferiert hatte.

    Die Stadt der Buchdrucker und Verleger Leipzig richtete im Jahre 1840 eine gewaltige Feier zur Würdigung der Persönlichkeit Gutenbergs aus. Dazu erteilte der Rat der Stadt 1839 dem Gewandhauskapellmeister Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847) die Aufträge, einen „Weltlichen Festgesang für Männerchor und zwei Blasorchester“ und ein „Großes Werk für Orchester, Chor und Sänger zum Lobe Gutenbergs“ zu komponieren.

    Der „weltliche Festgesang“ ist am 24. Juni 1840 von den vereinigten „Militär- und Stadtmusikchören“ mit Mendelssohns Dirigat zur Weihung einer Nachbildung des Mainzer Gutenberg-Denkmals, das der Leipziger Bildhauer Friedrich Funk (1804-1882) auf dem Marktplatz aufgestellt hatte, aufgeführt worden. Für seinen zweiten Auftrag wollte Mendelssohn zunächst ein Oratorium, dann eine größere Psalm-Vertonung schaffen, bis er sich für eine Mischung aus symphonischer Musik und einer Kantate entschied. So glaubte er das Problem des Zusammenwirkens von Poesie und Musik für die Aufführung am 25. Juni 1840 des „Lobgesangs“ im großen Festkonzert in der Thomaskirche gefunden zu haben. Für eine weitere Aufführung im Dezember 1840 erweiterte der Komponist seine Arbeit um weitere Sätze. Diese Fassung wurde, allerdings erst Jahrzehnte nach seinem Tode, in seinem Werkverzeichnis als Symphonie Nr. 2 B-Dur eingeordnet.

    Die Festbesucher der ersten Darbietungen seien begeistert gewesen und der „Lobgesang“ ist zu Mendelssohns Lebzeiten eines seiner häufigsten aufgeführten Werke gewesen. Die professionelle Kritik hat aber vom Beginn an bis zur Jetztzeit verstört über die eigenwillige Mischung von Chor- und Orchestermusik reagiert. Als nicht sonderlich glücklich gilt auch die Gegenüberstellung biblischen Geschehens mit der Entwicklung des Buchwesens: die Erlösung des im Dunkel der Glaubensungewissheit gefangenen Volkes Israels durch Führung in das Licht der Erkenntnis ist sicher keine treffende Metapher.

    Gegen eine Deutung des „Lobgesangs“ als Kantate mit symphonischem Vorspiel sprechen die unterschiedlichen Längen von den drei orchestralen Sätzen gegenüber den kaum doppelt so langen vielfältigen Gesangsformen, wenn da Rezitative, Lieder, Arien und Chorsätze wechseln. Das Eingangsmotiv der Symphonie begleitete die Zuhörer bis zum Schluss und wurde zum krönenden Ruf des Chores „Alles was Odem hat, lobe den Herrn“.

    Manfred Honeck zelebrierte das Werk ohne in größeres Pathos zu verfallen. Die orchestralen Sätze konnten kaum bessere Interpreten als die Sächsische Staatskapelle finden. Die Musiker spielten sehr engagiert, äußerst differenziert und sicherten einen transparenten, durchhörbaren Klang. Dabei ließ Honeck den Klangfarbenreichtum betonen und legte versteckte Schönheiten der Partitur frei. Ihm gelang, romantische Klangvorstellungen mit dem traditionellen warm-gedeckten Ton des Orchesters umzusetzen und mit seinen Ansprüchen an die Virtuosität der Instrumenten-Gruppen in Einklang zu bringen. Die Streicher hatten ihr Vibrato auf ein Minimum gedrosselt und die Bläser musizierten nie schwer gepanzert. Es gab konturierte Kammerstücke beim Innehalten zwischendurch, gestisch fein gezeichnete Details und spannende Übergänge. Markant, aber nicht auftrumpfend intonierten die drei Posaunen die Eingangs-Fanfare, die dann als roter Faden durch das gesamte Werk geführt wurde. Ein Stillstand im ersten Satz und wie Honeck das Orchester wieder ins Tempo hineinschob, war höchste Dirigierkunst. Der zweite Satz kam fast wie Ballettmusik und das „Adagio religiosi“ entfaltete weihevolle Größe.

    Der den vokalen zweiten Teil eröffnende Satz „Alles was Odem hat, lobe den Herrn“ wurde frisch und kontrastscharf vom Sächsischen Staatsopernchor vorgetragen. André Kellinghaus hatte mit seiner Einstudierung Hervorragendes geleistet, wenn die Darbietung innehielt, der Chor sein Singen in ein Pianissimo verschattete, um so das Rezitativ und die Arien des hervorragenden Tenors Tilman Lichdi einzuleiten. Im Sopranduett harmonierten Christina Langhammer und Simona Ṧaturová auf das Innigste miteinander. Dem folgte sanft und doch fordernd das Tenorsolo „Stricke des Todes hatten uns umfangen“.

    Es gab auch beklemmende Passagen, wenn der Chor sein „der in seine Hoffnung setzt auf ihn!“ dämpfte, um so auf die Wächterszene hinzudeuten, in der, etwas opernhaft, der Knoten des Werkes geschürzt wurde: zum Zerreißen gespannt fragte der Tenor Tilman Lichdi „Hüter , ist die Nacht bald hin?“, bis endlich mit leuchtendem Sopran Christina Langhammer mit „Die Nacht ist vergangen“ den Durchbruch einleitete und das zentrale geistliche Thema vorstellte: ein gütiger Gott, der die betrübte Menschheit aus „Not“ und „schwerer Trübsal“, aus den Stricken des Todes und der „Angst der Hölle“ erlöst. Der Sächsische Staatsopernchor nahm das Thema zu Recht martialisch auf, wandelte sich in einen Gemeindegesang und trug die lutherische Hymne „Nun danket alle Gott“ schlicht, aber gestochen scharf vor. Die beiden Chorfugen, mit der die Symphonie schließt, wurden in aller Pracht entfaltet.

    Nicht Rhetorik, sondern Ausdruck und Seele zogen die Zuhörer in ihren Bann. Die breite Anlage und der ereignisreiche Klang strukturierten die Darbietung eindringlich.

    Die hervorragenden Sopranistinnen Christina Landshammer und Simona Ṧaturová, der stimmkräftige Tenor Tilman Lichdi, ein hervorragend aufgelegter Chor sowie der hoch-engagierte Manfred Honeck gestalteten auch mit der nicht unproblematischen Komposition des Felix Mendelssohn Bartholdy den zweiten Teil des Konzertes zu einem schönen Erfolg.


    Credits:

    Palmsonntagskonzert am 24. März 2024 in der Semperoper

    Ludwig van Beethoven: Symphonie Nr. 1 C-Dur op. 21

    Felix Mendelssohn Bartholdy: „Lobgesang“ Symphonie-Kantate für Soli, Chor, Orchester und Orgel

    Christina Langhammer, Sopran

    Simona Ṧaturová, Sopran

    Tilman Lichdi, Tenor

    Sächsischer Staatsopernchor-Einstudierung: André Kellinghaus

    Sächsische Staatskapelle Dresden

    Dirigent: Manfred Honeck

  • Der Hofkapellmeister der Jahre 1511 bis 1841 Francesco Morlacci (1784-1841) hatte die Einrichtung eines Fonds zur Unterstützung der Witwen und Waisen ehemaliger Kapell-Mitglieder angeregt, dessen Finanzierung seit 1827 aus dem Ertrag der seit dieser Zeit traditionellen Palmsonntagskonzerte erfolgt.

    Darf man das ein wenig bezweifeln? ;)

    “There’s no point in being grown up if you can’t act a little childish sometimes” (Doctor Who, der Vierte Doktor)

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