Teodor Currentzis

  • Teodor Currentzis

    Die nachfolgenden Beiträge stammen aus dem "Schock: Fusion der SWR-Orchester geplant!"-Thread, die sich aber fast ausnahmslos mit dem Dirigenten Teodor Currentzis befassen. Hier kann dann weiter über diesen Dirigenten diskutiert werden.
    Lionel - Moderation


    Mein Lieblingsdirigent wird Currentzis nicht werden, aber bemerkenswert finde ich seine Arbeit schon.

    Finde ich auch: Durch nichts anderes als eine pseudo-lebendige Dauererregung eine internationale Karriere zu machen, ist tatsächlich "bemerkenswert". Er verfügt über ein einziges gestalterisches Mittel: Kontraste so extrem wie irgend möglich zu spielen. Ich kann mir kaum etwas langweiligeres vorstellen. Und wenn er dann noch auf die Idee kommt, seine Musiker während des Spielens wie in Trance über die Bühne laufen zu lassen, ist die Grenze zur Realsatire für mich endgültig überschritten.

    Christian

  • eine pseudo-lebendige Dauererregung

    :thumbup:

    In der Beziehung ist er ja durchaus wesensverwandt mit Patrizia Kopatschinskaya, die barfüsselnd über die Bühne tobt (aber eine gute Violinistin ist sie trotzdem).

    Seine "Cosi fan Tutte" finde ich allerdings schon sehr interessant (Amfortas09 würde sagen "extrem fetzig")

    Peter

    "Sie haben mich gerade beleidigt. Nehmen Sie das eventuell zurück?" "Nein" "Na gut, dann ist der Fall für mich erledigt" (Groucho Marx)

  • Durch nichts anderes als eine pseudo-lebendige Dauererregung

    Ich kenne Currentzis viel zu wenig, um das verlässlich beurteilen zu können, habe aber immerhin ein im TV gesehenes Mendelssohn-Violinkonzert als höchst lebendig und interessant in Erinnerung. Nur daher heraus und damit auf zu kleiner Grundlage beurteilt zu dem Erregungsniveau zweierlei:

    1) Anfänger-Profi

    Du, lieber Christian, bis bis ins Kleinste mit der Sprache der klassischen Musik vertraut und verstehst auch nuancierte Gestaltungen. Das gilt für das breite Publikum in viel geringerem Maße. Goebels Telemann-Interpretationen fand ich seinerzeit großartig, während sie mir heute bisweilen holzschnittartig vorkommen. Will sagen: Es gibt m. E. ein großes, wahrscheinlich mit Klassik eher nicht vertraute Publikum, für die Currentzis genau der richtige Dirigent sein könnte.

    2) Temperament

    Ob ein bestimmtes Erregungsniveau als Dauererregung verstanden wird, hängt von der Definition des Normalzustands ab. Ich erinnere einen Beethoven Sinfonien-Zyklus unter Christoph von Dohnányi in der Laeiszhalle (vor grob geschätzt sechs Jahren). Der war schnarchenslangweilig. Während ich beinahe einschlief, hat der Maestro das Orchester mit deutlicher Gestik nur noch weiter gebremst: leiser, feiner ...

    Will sagen: Manche Musik will von den Noten her (Sforzati), vom kulturellen Hintergrund her (Revolution, Prometheus) erregt gespielt werden. Nach Auffassung von Currentzis will das nicht nur manche, sondern sehr viele Musik. Man bedenke, dass seinerzeit die klassische Musik i. w. S. nicht die distinguierte Alternative zur lauten, erregten Rockmusik war, sondern primäre musikalische Darstellungsform. Ein Berlioz wollte mit seiner Symphonie fantastique erregt fetzen. Der frühe Rihm besser: der nicht späte Rihm wollte das auch. Currentzis vertritt die Auffassung, auch Mendelssohn wollte das mit seinem Violinkonzert und interpretiert das entsprechend. Für mich war das, wie gesagt, interessant und unterhaltsam.

    Zum "durch nichts anderes" noch kurz: In die Hochzeit des Figaro habe ich einige Zeit hineingehört. Weit entfernt von einer pseudo-lebendigen Begleitung habe ich eine aufregende Emanzipierung der orchestralen Teile der Oper wahrgenommen, die gerade in den Rezitativen Lust auf mehr machte. Toll, fand ich. Die Aufnahme werde ich mir noch zulegen. Hätte ich kaum gedacht, dass ich noch mal neugierig auf eine Le Nozze-Aufnahme werde. Muss man erst mal schaffen.

  • Es gibt m. E. ein großes, wahrscheinlich mit Klassik eher nicht vertraute Publikum, für die Currentzis genau der richtige Dirigent sein könnte.


    Dass Currentzis vorwiegend ein Dirigent für Klassikanfänger sei, denke ich nicht. Dafür gibt's zuviele Klassikliebhaber, Musikjournalisten und dem Vernehmen nach auch Profimusiker, die von Currentzis begeistert sind. Viele andere lehnen ihn entschieden ab. Zudem spielen bei der Currentzis-Rezeption des öfteren auch außermusikalische Faktoren eine Rolle.

    Eine im deutschen Musikjournalismus selten scharfe - aber trotzdem differenzierte - Currentzis-Kritik hat der FAZ-Musikkritiker Jan Brachmann geliefert (war in diesem Forum schon mal verlinkt):

    http://www.faz.net/aktuell/feuill…i-14517065.html

    Ich fand einiges in den mir teilweise bekannten Aufnahmen der da-Ponte-Opern so musiziert, wie Christian es beschrieben hat. Manches entzieht sich aber diesem Schematismus der Extreme, etwa das wirklich wunderschön musizierte Abschiedsquintett aus dem ersten Così-Akt.

    Live habe ich Currentzis bisher nur mit Wagners Rheingold bei der Ruhrtriennale erlebt und schrieb damals: Eine so akustisch bildhafte Interpretation des Werks habe ich bisher nicht erlebt: Insbesondere die schlagzeug- und paukengesättigten Höhepunkte im dritten und vierten Bild kamen mit zerknirschender Wucht, aber auch Passagen des Wohlklangs wurden seraphisch-schön ausgebreitet wie selten. Wenn geräuschhafte Klangeffekte durch normale Spieltechniken nicht deutlich genug waren, ließ Currentzis die Streicher auch mal col legno auf den Saiten herumschlagen. Der spezifische Klang des durch Gäste verstärkten Orchesters, von Aufnahmen bekannt, faszinierte, die spieltechnische Qualität war exzellent. Allerdings tut die permanente extreme Betonung von Affekten dem Stück nicht nur gut: was gar nicht gelang, war der Konversationston in weiten Strecken des zweiten und auch des vierten Bildes: das läpperte dann ohne viel Raffinesse vor sich hin. Die Sänger bemühten sich so gut wie möglich ihre Partien dem Orchester einzupassen, eine Einheit von Gesang und Orchesterspiel existierte zu keiner Zeit. Showeffekte ohne hörbare Konsequenz wie das Aufstehen der Streicher im Zwischenspiel vor dem dritten Bild oder des ganzen Orchesters zum Einzug in Walhall waren ganz nett.


    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • aber trotzdem differenzierte

    Findest Du? Naja, stimmt schon, es gibt ein paar lobende Sätzchen (inbesondere oben auf der zweiten Seite) - aber insgesamt ist das schon eine ziemliche Absauerei, zudem kultürlich mit dem Wasserstoffbombenargument unterlegt, alles was Currentzis im Don Giovanni (und eigentlich auch sonst überall) mache, sei Posing: kalkuliert, inszeniert und unauthentisch - und ebenso sei dann auch das musikalische Ergebnis. Herr Brachmann schreibt wie ein Bildungsbürger (und er hat tatsächlich das Zeug dazu), dem man in seine Wohlfühlzone geschissen hat - und der darüber sehr erbost ist. :D

    Bemerkenswert daran finde ich eigentlich nur, dass das offenbar immer noch funktioniert (also das mit dem Schiss in die Wohlfühlzone).

    Adieu
    Algabal

    Keine Angst vor der Kultur - es ist nur noch ein Gramm da.

  • Was kann diesem Orchester besseres passieren, als einen so polarisierenden Chefdirigenten zu bekommen? Auf jeden Fall wird es dadurch zusammenwachsen - entweder in Unterstützung oder im Gegensatz zum tänzelnden Taktstockschwinger, ganz gewiss aber durch die öffentliche Aufmerksamkeit, die es dadurch zwangsläufig gewinnt.

    Ich mag Provokateure 8) . Und ich mag Currentzis, weil er provoziert. Und ja, er lässt extrem musizieren, in manchen fällen aber eben auch extrem schön musizieren, was ja auch schon eine enorme Leistung ist. Während mir seine Tschaikovsky-Aufnahme mit der Kopatschinskaya nicht so gefällt, finde ich sein Mozart-Requiem immer noch große Klasse - und es würde wirklich etwas fehlen ohne diese Aufnahme! Und auch sein Rameau-"Sampler" Sound of Light besticht durch das sehr exakte, transparente und an vielen Stellen wunderschöne Spielen.

    Und zu seinen sonstigen Eigenheiten (stehendes oder laufendes Orchester, tanzender, hüpfender, sich verdrehender Dirigent) ...? Nun ja, ich muss ihn ja nicht sehen, sondern will ihn hören ape01 . Hat jemand von den hier schreibenden Musikern Erfahrung mit einem stehenden Orchester? Ich könnte mir vorstellen, dass das schon anders klingt und eine andere Dynamik bekommt, als wenn man sitzt. Als Laie kann ich das aber nicht beurteilen. Ich bezweifle jedoch, dass er das SWR-Orchester zu einem zweiten Musica Aeterna machen will.

  • Herr Brachmann schreibt wie ein Bildungsbürger (und er hat tatsächlich das Zeug dazu), dem man in seine Wohlfühlzone geschissen hat

    Das finde ich in einem bürgerlichen Blatt jetzt nicht so überraschend. Auf der anderen Seite wäre zu klären, ob sich Currentzis und seine Anhänger nicht ebenso in einer (manchmal gar nicht so unbildungsbürgerlichen) Wohlfühlzone befinden, in die jetzt wiederum Brachmann geschissen hat.

    Was ich differenziert finde, ist weniger die "kultürliche" Schiene (zweifellos problematisch, aber die spezifische Marktgängigkeit Currentzis' sehe ich auch etwas genervt, bin wohl zu sehr Bildungsbürger :D ) als die konkrete musikalische Kritik: es wird eben nicht nur mit irgendwelchen Metaphern gearbeitet, sondern Brachmann sagt - im Rahmen eines kurzen Zeitungsartikels - relativ konkret, was und warum er positiv bzw. negativ wertet. Und da ist doch einiges auf der positiven Seite: die Dirigate der Jolante in Madrid und des Macbeth in Zürich, die Gestaltung der Accompagnato-Rezitative im Don Giovanni. Generell wird Currentzis "eine leidenschaftliche, hochsensible Musikalität" bescheinigt. Eine völlige Absauerei sieht anders aus.


    Viele Grüße

    Bernd

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  • Er verfügt über ein einziges gestalterisches Mittel: Kontraste so extrem wie irgend möglich zu spielen.

    das ist mir weder beim Reinziehn beider Wiedergaben von Bergs VK noch bei Brahms S3 aufgefallen. Bergs VK wäre mit kontrastreichere Gestaltung - vor allem während des kadenzartigen Beginns vom 2. Teil - wie z.B. der unter Nezet-Seguin, mir fetziger .. und seine Brahms S3 erinnert mich an Mitschnitte unter Klee und Haitink (03.10.76), bloß dass MusicAeterna vergleichsweise mir sehr viel deutlicher rüberkommt.... falls es mal eine Wiedergabe von Brahms 4 unter Currentzis gibt, bin ich neugierig, ob da dann Kontraste tatsächlich stärker zum Ausdruck gebracht werden als z.B. mit den Wienern unter V. Neumann vom 27.06.89 aus Villach...

    „Ein Komponist, der weiß, was er will, will doch nur was er weiß...“ Helmut Lachenmann

  • Eine völlige Absauerei sieht anders aus.

    Es ist genau ein Absatz, in dem positive Kritik geübt wird (eben der erste auf der zweiten Seite, in dem die von Dir angeführten Bemerkungen zu den Accompagnato-Rezitativen zu lesen sind und die "leidenschaftliche, hochsensible Musikalität" erwähnt ist) und dann der vierzeilige Folgeabsatz, in dem auf Jolante und Macbeth verwiesen wird - der ist aber schon wieder mit dem Zwischentitel "Gossendreck-Plattitüde" abgesetzt, der dann zur Charakterisierung des "explosive(n), schartige(n) Orchesterklang(s)" in der DG-Overtüre dient.

    Naja, immerhin.

    Ich kenne gar nicht viel von Currentzis - nur Purcells "Dido an Aeneas", die bei mir überhaupt keinen bleibenden Eindruck hinterlassen hat, und Tschaikowskis Violinkonzert mit Kopatchinskaja, das mich einigermaßen vom Hocker gerissen hat - hier stinkt die Musik tatsächlich nach Fusel, Kuhmist, Schweiß und sonstigen Körperflüssigkeiten aller Art und Farbe. Vielleicht werde ich mal eine der Mozart-Opern mit ihm hören müssen. Bisher hält sich mein Verlangen aber immer noch in Grenzen.

    Habe eben mal den Schlusssatz von Mahlers III. bei youtube gestreamt - das hat mir sehr gut gefallen. Finde ich gar nicht exaltiert oder irgendwie ausgestellt übertrieben, sondern sehr sanft und nachgerade entrückt. So kann der offenbar auch.

    Adieu
    Algabal

    Keine Angst vor der Kultur - es ist nur noch ein Gramm da.

  • der ist dann aber schon wieder mit dem Zwischentitel "Gossendreck-Plattitüde" überschrieben, die dann zu Charakterisierung des "explosive(n), schartige(n) Orchesterklang(s)" in der DG-Overtüre dient

    Wobei der "explosive, schartige Orchesterklang" ja nicht grundsätzlich abgelehnt wird, sondern nur dessen Überzeichnung bei Currentzis. Und die dann folgenden Kritikpunkte sind konkret (Verwischung der Artikulation, keine Textverständlichkeit) und m.E. berechtigt.

    Habe eben mal den Schlusssatz von Mahlers III. bei youtube gestreamt - das hat mir sehr gut gefallen. Finde ich gar nicht exaltiert oder irgendwie ausgestellt übertrieben, sondern sehr sanft und nachgerade entrückt. So kann der offenbar auch.

    "Entrückt" kann Currentzis sehr gut, auch beim weiter oben erwähnten Abschiedsquintett aus Così fan tutte oder bei Teilen aus dem Rheingold. Das Entrückte klingt dann oft besonders entrückt. Ab und zu ist doch aber auch wichtig, was zwischen dem Seraphischen, Entrückten und dem Harten, Wilden passiert - und da finde ich Currentzis nicht immer überzeugend (siehe Rheingold).

    Manchmal macht der Mann aber tatsächlich auch recht unspektakuläre Aufführungen (die kenne ich nur aus dem Radio).


    Viele Grüße

    Bernd

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  • Nur auf die Schnelle zu einem Punkt:

    Ob ein bestimmtes Erregungsniveau als Dauererregung verstanden wird, hängt von der Definition des Normalzustands ab.

    Das stimmt so nicht ganz: Von der "Definition des Normalzustands" hängt nur ab, was musikalisch überhaupt als "Erregung" oder "erregend" verstanden wird. Dauer-Erregung ist hingegen die andauernde Beibehaltung dieses Zustandes, also ein fehlendes, zu wenig differenziertes oder ungenutztes Spektrum an Ausdrucksmöglichkeiten, auf welchem subjektiven Niveau (und im Verhältnis zu welchem "Normalzustand") auch immer die Erregung gerade stattfindet. Deshalb finde ich diese Art des Musizierens in ihrer Vorhersehbarkeit genauso langweilig wie ein braves In-der-Mitte-Bleiben, dabei aber unehrlicher, weil sie so tut, als sei sie vielfältig und differenziert, Meine Kritik an Currentzis (die natürlich als knappe und pauschale Zusammenfassung zu verstehen ist) besteht ja gerade darin, dass es bei ihm einen "Normalzustand" so gut wie gar nicht gibt, sondern er von einem "Erregungszustand" in den anderen verfällt, dabei natürlich auch mal die Seiten der Extreme wechselt, aber das Extrem als solches als routiniertes, vorhersehbares Standardmittel einsetzt, jenseits dessen ihm nicht viel einfällt und tatsächlich "Ödnis und Langeweile lauern", wie Jan Brachmann vollkommen zu Recht schreibt. In welchem "Erregungsrahmen" man auch immer seine Interpretationen gestaltet: Entscheidend ist meines Erachtens nicht dessen Ausdehnung, also z.B. der Unterschied zwischen maximaler und minimaler Lautstärke, schnellstem und langsamstem Tempo usw., sondern das, was innerhalb dieses Rahmens geschieht. Es mag sein, dass Currentzis auch da gelegentlich ein paar Perlen findet, aber was ich bisher von ihm gehört habe, bestand zum größten Teil aus aufgeplusterten Extremen, dargeboten mit einer für mich schwer erträglichen Revoluzzer-Attitüde, die in geradezu lächerlichem Kontrast zu der brav-biederen Wiederholung des immergleichen künstlerischen Schemas steht. Er führt sich als Revoluzzer auf, bedient aber doch den Zeitgeist des "Wachstums um jeden Preis" (hier in Form immer weiter gesteigerter Extreme, oder um noch einmal Brachmann zitieren des "Überbietungswettkampfs") und erfüllt die an ihn gesetzten Erwartungen so perfekt wie kaum ein Zweiter. Der Preis ist hier zwar nur ein künstlerischer, aber für mich doch schmerzhaft hoch. Wenn dann noch Patrizia Kopatschinskaya dazu kommt, die unter "Interpretation" offenkundig zu verstehen scheint, alles zu machen, bis auf das, was der Notentext nahelegt, kann ich es wie gesagt höchstens noch als Realsatire ertragen.

    Christian

  • Ich war am Wochenende in meinem ersten Konzert mit Currentzis, veranstaltet im Rahmen der Musica Viva im Münchner Prinzregententheater. Gespielt wurden Call für 5 Blechbläser von Berio, Lux Aeterna von Ligety, Lonely Child von Claude Vivier und Coro wieder von Berio. Es spielte das Mahler Chamber Orchester und es sangen Sophia Burgos und der MusicAeterna Choir.

    Das ist natürlich kein Standard-Repertoire und eignet sich wahrscheinlich weniger, sich als Querdenker zu positionieren. Ich hatte keines der Stücke vorher live gehört, bis auf Call kenne ich die Stücke aber von Aufnahmen. An Extremen ist mir eigentlich nur aufgefallen, daß extrem gut musiziert wurde, insbesondere der Chor, dessen Sänger in Coro auch immer wieder solistisch gefordert werden war einfach grandios. Coro habe ich von Platte eigentlich nicht so sonderlich gemocht, aber in dieser Aufführung hat das Stück sehr viel Spaß gemacht.

    Lux Aeterna war auch wunderbar gesungen - das die Chorsänger bei diesem Stück als eine Art orthodoxe Mönche gekleidet waren... Naja, wer so gut singt darf das :D Das war

    Ich hatte durchaus Vorbehalte gegen Currentzis und habe ihn bisher nicht so verfolgt. Aber das Konzert war ziemlich toll, ich müßte mir vielleicht mal seine Aufnahmen anhören.

    Viele Grüße,
    Melanie

    With music I know happiness (Kurtág)

  • Durch nichts anderes als eine pseudo-lebendige Dauererregung eine internationale Karriere zu machen, ist tatsächlich "bemerkenswert". Er verfügt über ein einziges gestalterisches Mittel: Kontraste so extrem wie irgend möglich zu spielen. Ich kann mir kaum etwas langweiligeres vorstellen. Und wenn er dann noch auf die Idee kommt, seine Musiker während des Spielens wie in Trance über die Bühne laufen zu lassen, ist die Grenze zur Realsatire für mich endgültig überschritten.


    Das mag alles sein. Für mich ist Currentzis der Typus "harmloser Spinner". Das meine ich als Kompliment, denn ich finde, dass es mehr harmlose Spinner geben sollte. Insofern verfolge ich das, was er macht, mit Interesse. Und seine Beethoven-Fünfte hat schon was, mit dem Pogo-Punk-Happening im Schlussatz (könnte als Ausschnitt noch auf Youtube zu finden sein). :D

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Ich höre gerade bei Spotify in ein paar von Currentzis' Mozart-Aufnahmen rein. Anbei ein paar erste Eindrücke.

    Zunächst der "Don Giovanni". Das lebendiges Musizieren zu nennen, wäre wohl eine Untertreibung. Die Tempi sind sehr zügig, aber (und das ist ein ziemlich großes "Aber"): Currentzis zieht sie für meine Begriffe zu starr und zu metronomisch durch. Agogik gibt es kaum, das klingt zu Beginn eher nach einer Don-Giovanni-Maschine. Dafür werden die lyrischen Teile dann zum Teil arg gedehnt. Auf Basis der ersten paar Nummern würde ich meiner heißgeliebten Jacobs-Aufnahme klar den Vorzug geben. Schneller Sprung zur Komtur-Szene. Der unglaubliche dramaturgische Aufbau der Szene vermittelt sich hier kaum, diese Spannung, die sich schließlich in Don Giovannis Höllenfahrt entleert. Bei jener hört man dann vornehmlich Sänger und Pauken, die Läufe im Orchester werden schnell runtergenudelt, die Musik wird kaum ausgekostet. Der Beginn der "Scena ultima" dann wiederum hastig-schnell und metronomisch. Tut mir leid, diese Aufnahme werde ich mir nicht zulegen.

    Nun das Requiem, ein Stück, das ich auch aus der eigenen Musizierpraxis recht gut kenne. Dem Introitus fehlt es an innerer Spannung, und erneut gibt es diese fatale Neigung, sehr metronomisch zu musizieren. Der Chor klingt etwas dünn, aber immer noch üppig gegenüber Frau Kermes, die ihre Partie offensichtlich nach dem Prinzip gestaltet, wie ein vibratoloser anämischer Knabe klingen zu wollen. Die Kyrie-Fuge besteht nur aus Staccato, Bögen oder gar eine echte Hinführung auf den Höhepunkt gibt es nicht. Im Dies irae war die einzige Idee offensichtlich die, hinsichtlich der Dynamik alles anders zu machen als in der Musiziertradition, ob das nun Sinn ergibt oder nicht. Dass ausgerechnet dieser gewaltige Satz mir bei Currentzis so gar keine Gänsehaut verursacht, lässt mich das Urteil fällen. Ich mache die Aufnahme aus.

    Fazit: Wie oben angeführt halte ich Currentzis für einen interessanten Künstler, der aber - wenn er dauerhaft eine ernsthafte Größe im Musikbetrieb sein möchte - besseres abliefern muss als diese beiden Aufnahmen. Mit denen droht er eher, zu einem dirigierenden Lang Lang zu werden.

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Bruckner 9 (Stuttgart)

    Im Thread Konzerte in Stuttgart hat Wieland über das Antrittskonzert von Currentzis beim SWR Symphonieorchester berichtet. Ich erlaube mir, das hier zu zitieren:

    Nach viel Marketing-Gedöns war es gestern soweit, Teodor Currentzis dirigierte in Stuttgart das SWR SO, dessen 1. Chefdirigent er zur kommenden Konzertsaison werden wird. Auf dem Programm standen Bruckners 9. Symphonie sowie Lontano von György Ligeti.

    Der Konzertsaal war wohl bis auf den letzten Platz ausgebucht und die Erwartungshaltung lag förmlich greifbar in der Luft. Nun, ich denke die Stuttgarter wurden nicht enttäuscht von diesem Einstand. Die erste gute Nachricht: zwischen Orchester und Dirigent scheint die Chemie zu stimmen, die erste Verliebtheit sozusagen. Das tut dem gebeutelten Orchester erst einmal gut und dementsprechend hat es auch gegeben, was es geben konnte. Schon vor einem halben Jahr hatte ich bei Mahler 2 unter Eschenbach das Gefühl, dass das Orchester schneller als erwartet aus der Krise gekommen ist und zumindest unter dem richtigen Dirigenten wieder auf hohem Niveau arbeitet. Dieser Eindruck verstärkte sich gestern noch.

    Und Currentzis Bruckner? Nun, wer irgendwelche Exzentrizitäten erwartete, wurde enttäuscht, hier wurde wirklich Bruckner gespielt mit konventionellen Tempi, auch im 2. Satz, den man ja auch in eine Raserei verwandeln kann. Passierte nicht. Das Adagio auch nicht auszelebriert, sondern eher zügig genommen. Der Klang: üppig, süffig, österreichisch, eher klangschwelgerisch als analytisch, eher Karajan als Wand oder Blomstedt. Das einzig Ungewöhnliche war dann die Kopplung ohne Pause mit der Weltraumkomposition von Ligeti. Obwohl nur im Programmheft angedeutet, gab es beim Übergang vom Adagio in die moderne Komposition nicht einen Fehlapplaus in die Stille hinein und auch nach Lontano war es ca. 30 sec mucksmäuschenstill im vollbesetzten Saal. Ob Ligetis Stück quasi als vierter Satz von Bruckner funktioniert, ist sicher Geschmackssache, ich fand es eine interessante Lösung des Finalproblems. Und stellte fest, wie "normal" für heutige Ohren Lontano doch klingt.

    Natürlich Riesenbeifall mit fast tumultartigen Beiträgen aus den hinteren Rängen. Ein Abend, der einen optimistisch in die Zukunft blicken lässt. Vielleicht hole ich mir ein Abo für die nächste Saison.

    P.S. Heute morgen im Radio gab es ebenfalls eine Besprechung des Konzerts durch einen SWR-Redakteur. Hinterher habe ich nur kopfschüttelnd gedacht, der war in einem anderen Konzert.


    Das Konzert wurde am Freitag (19.1.) nochmal gespielt und im Livestream übertragen. Den Stream kann man sich anhören und -sehen (keine Ahnung, wie lange noch): https://www.swr.de/swr-classic/sy…mzkm/index.html

    Ich hab mir jetzt den Bruckner angehört (leider mäßige Tonqualität mit leichten Verzerrungen) und stimme Wieland weitgehend zu. Hohes Niveau, sehr gediegen das alles. Mittlere Tempi mit Neigung zur flüssigen Seite (für Statistiker: 24:32, 10:44, 24:10). Auch die Temporelationen bzw. -schwankungen innerhalb der Sätze lehnen sich an die Tradition an, besonders deutlich im Trio des Scherzos, in dem die kantablen Teile etwa halb so schnell wie die motorischen genommen werden, was dort einiges an Detailziselierung erlaubt.

    Sehr schöne Klangmischungen zwischen Streichern und Holzbläsern, gerade im Kopfsatz - der ganze Seitensatz gelingt wunderbar lyrisch-klangschön, nicht schwelgerisch. Transparenz wird meist großgeschrieben. Nur im Tutti gibt es gelegentlich Schwierigkeiten mit der Balance, aber da steht diese Aufführung wahrlich nicht allein. Seltsam nur, dass beim Repriseneintritt (T. 391ff. in der Haas-Partitur) Currentzis das schwere Blech zurücknimmt, aber der gezackte Rhythmus in den Hörnern trotzdem nicht hörbar ist. Ein paar verwackelte Einsätze und Intonationsschwächen im Bläsersektor, sonst sehr inspiriertes Orchesterspiel. Das Dynamikspektrum wage ich wegen der Klangqualität nicht zu beurteilen, dazu gibt es unterschiedliche Stimmen in der Presse.

    Irgendwelche auffälligen Besonderheiten? Spiccato-Vortragsbezeichnungen bei den Streichern werden sehr ernstgenommen, das fällt im Kopfsatz auf. Im Scherzo erlaubt sich Currentzis eine Extravaganz, für die ich mal die Rezension von Jan Brachmann (der sich ansonsten wieder ziemlich am Image des Dirigenten abarbeitet) in der FAZ von heute zitiere: Im Scherzo jedenfalls hauen die Trompeten im Tutti den Abwärtsgang der Holzbläser und Violinen (e-cis-b-gis) noch völlig zu Brei. Currentzis versucht, etwas Pfiff hineinzubringen, indem er bei diesem Abgang gegen den Takt Akzente setzen lässt, als läge ein Drei-Halbe-Metrum über dem Dreivierteltakt. Doch davon steht weder in der Partiturfassung von Robert Haas noch in Bruckners Manuskript etwas. Und im Adagio lässt der Dirigent beim letzten Eintritt des Seitenthemas (T. 173 bzw. Buchstabe M in der Haas-Partitur) die Synkopen der Bratschen gegen die Vorschrift nicht arco, sondern pizzicato spielen, wodurch sie besser (oder überhaupt erst) hörbar werden und mit den Pizzicati von zweiten Violinen, Celli und Kontrabässen auf den guten Taktteilen reizvoll kontrastieren.

    Ligetis Lontano schloss nach kurzer Atempause sofort an. Da hat es schon schlechtere Programmideen gegeben.

    Wer den extravaganten Currentzis erleben will, muss wohl nach wie vor die Konzerte mit seinem Ensemble aus Perm besuchen (das Konzert in Berlin letzten September ist mir noch lebhaft in Erinnerung, nicht nur wegen der Musik). Im institutionalisierten Musikleben schlägt das Rollenspiel offenbar zur seriösen Seite aus.

    :wink:

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  • Currentzis - Die Stuttgart Ära

    In wenigen Wochen ist es soweit, die Ära Currentzis mit dem SWR Symphonieorchester startet und wenn ich mir das Programm der kommenden Saison anschaue, dann ist es wohl unumgänglich, für diese Saison ein Abo zu bestellen (was auch schon geschehen ist). Es gibt ordentlich was auf die Ohren, viel besser geht es nicht zumindest für meinen Geschmack.

    Currentzis selbst gibt vier Konzerte, praktisch nur Lieblingswerke von mir:

    21.9.2018
    GUSTAV MAHLER
    Sinfonie Nr. 3 d-Moll für Alt, Frauenchor, Knabenchor und Orchester
    Gerhild Romberger, Alt
    Damen des MDR Rundfunkchors (* Damen der Wiener Singakademie)
    Knabenchor collegium iuvenum Stuttgart (* Wiener Sängerknaben)
    SWR Symphonieorchester
    Dirigent: Teodor Currentzis

    14.12.2018
    ALFRED SCHNITTKE
    Konzert für Viola und Orchester
    PETER TSCHAIKOWSKY
    Sinfonie Nr. 5 e-Moll op. 64
    Antoine Tamestit, Viola
    SWR Symphonieorchester
    Dirigent: Teodor Currentzis

    22.02.2018
    GEORGE CRUMB
    Ancient Voices of Children
    GUSTAV MAHLER
    Sinfonie Nr. 4 G-Dur für Sopran und Orchester
    Christina Gansch, Sopran
    SWR Symphonieorchester
    Dirigent: Teodor Currentzis

    28.06.2018
    DMITRIJ SCHOSTAKOWITSCH
    Sinfonie Nr. 7 C-Dur op. 60 (Leningrader)
    SWR Symphonieorchester
    Dirigent: Teodor Currentzis

    Das weitere Programm:

    9.11.2018
    LUDWIG VAN BEETHOVEN
    Konzert für Klavier, Violine, Violoncello und Orchester C-Dur op. 56 (Tripelkonzert)
    DMITRIJ SCHOSTAKOWITSCH
    Sinfonie Nr. 11 g-Moll op. 103 (Das Jahr 1905)
    Ludwig Trio
    SWR Symphonieorchester
    Dirigent: Eliahu Inbal

    25.01.2019
    SERGEJ PROKOFJEW
    Klavierkonzert Nr. 2 g-Moll op. 16
    DMITRIJ SCHOSTAKOWITSCH
    Sinfonie Nr. 10 e-Moll op. 93
    Anna Vinnitskaya, Klavier
    SWR Symphonieorchester
    Dirigent: Michael Sanderling

    22.03.2019
    JOHANNES BRAHMS
    "Warum ist das Licht gegeben dem Mühseligen", Motette für vierstimmigen gemischten Chor a cappella op. 74 Nr. 1
    JOHANNES BRAHMS
    Schicksalslied für gemischten Chor und Orchester op. 54
    DMITRIJ SCHOSTAKOWITSCH
    Sinfonie Nr. 5 d-Moll op. 47
    SWR Vokalensemble
    SWR Symphonieorchester
    Dirigent: Pablo Heras-Casado

    12.04.2019
    DMITRIJ SCHOSTAKOWITSCH
    Violinkonzert Nr. 1 a-Moll op. 77
    HECTOR BERLIOZ
    Symphonie fantastique op. 14
    Sergey Khachatryan, Violine
    SWR Symphonieorchester
    Dirigent: Christoph Eschenbach

    10.05.2019
    CARL MARIA VON WEBER
    Ouvertüre zur Oper "Der Freischütz"
    JEAN SIBELIUS
    Violinkonzert d-Moll op. 47
    ANTONIN DVORAK
    Sinfonie Nr. 9 e-Moll op. 95 (Aus der Neuen Welt)
    Janine Jansen, Violine
    SWR Symphonieorchester
    Dirigent: Christoph Eschenbach

    19.07.2019
    ARNOLD SCHÖNBERG
    Klavierkonzert op. 42
    ANTON BRUCKNER
    Sinfonie Nr. 6 A-Dur
    Mari Kodama, Klavier
    SWR Symphonieorchester
    Dirigent: Kent Nagano

    Toleranz ist der Verdacht, der andere könnte Recht haben.

  • In wenigen Wochen ist es soweit, die Ära Currentzis mit dem SWR Symphonieorchester startet und wenn ich mir das Programm der kommenden Saison anschaue, dann ist es wohl unumgänglich, für diese Saison ein Abo zu bestellen (was auch schon geschehen ist). Es gibt ordentlich was auf die Ohren, viel besser geht es nicht zumindest für meinen Geschmack.

    Wow! Wie gerne würde ich dieses Jahr in Stuttgart wohnen...

    maticus

    Social media is the toilet of the internet. --- Lady Gaga

    Ich lieb‘ den Schlaf, doch mehr noch: Stein zu sein.
    Wenn ringsum nur Schande herrscht und nur Zerstören,
    so heißt mein Glück: nicht sehen und nicht hören.
    Drum leise, Freund, lass mich im Schlaf allein.
                       --- Michelangelo Buonarroti (dt. Nachdicht. J. Morgener)

  • Beethoven

    Derzeit dirigiert Currentzis mit seinem Permer Orchester ja alle neun Beethoven-Sinfonien bei den Salzburger Festspielen, drei der fünf Konzerte haben schon stattgefunden. Von den Salzburger Aufführungen gibt es bisher keine Übertragungen - eine Kostprobe hat er aber schon vorher mit den Sinfonien 2 und 5 (plus dem Finale der Siebten als Zugabe) bei den Londoner Proms gegeben. Diesen (tontechnisch nicht übermäßig erfreulichen) Mitschnitt kann man sich noch bei BR Klassik anhören: https://www.br-klassik.de/audio/bbc-prom…thoven-100.html

    Ich höre da Interpretationen, die sich bei fast allen Parametern weitgehend im Rahmen der historischen Aufführungspraxis bewegen, die sich seit über 30 Jahren ja immer wieder an den Beethoven-Sinfonien abgearbeitet hat. Period Instruments, entsprechende Spielweisen, Orientierung an den Metronomangaben Beethovens. Gern zieht Currentzis die Temposchraube noch ein bisschen mehr an, er versucht immer mal wieder originelle Dynamisierungen und Phrasierungen (z.B. T.36ff. und Parallelstellen im Finale der Siebten). Andererseits ist er manchmal wesentlich zahmer als verschiedene HIP-Kollegen: Norrington hat die dissonanten Hörner in der Einleitung zum Kopfsatz der Zweiten ungeschminkter schmettern lassen, Gardiner heizt das Finale dieser Sinfonie mindestens ebenso stark an usw. Man befindet sich hörbar noch im Stadium der Erarbeitung, nicht alles gelingt spieltechnisch. Aber insgesamt sind das m.E. hörenswerte, wenn auch nicht immer originelle Interpretationen.

    Die Rezeption der Salzburger Aufführungen trägt aber groteske, teilweise hysterische Züge. Jan Brachmann in der FAZ (leider nicht online) zählt zweifellos zu den kompetenteren Rezensenten im deutschen Klassikjournalismus, kann Currentzis' Beethoven in die entsprechende Interpretationstradition einordnen und bringt nachvollziehbare musikalische Kritikpunkte. Leider arbeitet er sich auch mal wieder an Currentzis' Habitus ab, geißelt seine angeblich antibürgerlichen Affekte, behauptet, dass Currentzis die Freudenhymne der Neunten zum Stechschritt entstelle und kann in diesem Zusammenhang den Kleidungsstil des Dirigenten (in Schwarzhemd und Springerstiefeln) fast schon denunziatorisch anbringen. Der notorische Wilhelm Sinkovicz in der Wiener Presse, ein dezidierter Gegner historischer Aufführungspraxis, hat dagegen bei der Aufführung der Neunten einerseits "Staccatogehopse, ein Geratter und Gerassel", andererseits aber auch einen "viel zu dezente[n]" Klang und "orchestrales Gezirpe" wahrgenommen. Mit der "Schnittstelle zwischen dirigentischem Handwerk und Scharlatanerie" beendet Sinkovicz seinen Text - und mit dem Bild des Scharlatans wird bei Currentzis' Gegnern generell gerne hantiert.

    Noch besser aber die Anhänger und Fans des Dirigenten. Der Wiener Kurier wendet einen seit Jahrzehnten überstrapazierten Topos an: Currentzis kratzt die Patina ab, um mit dem Original und der ursprünglichen Ästhetik in Kontakt zu kommen. Und das Feindbild steht fest: Diejenigen, die sich nach der Karajan-Zeit sehnen, sollten lieber weg bleiben. MDR-Redakteurin Grit Schulze meint: Alleine das Vorhaben ist faszinierend. Es kommt ja nicht häufig vor, dass innerhalb von wenigen Tagen alle neun Sinfonien Beethovens aufgeführt werden. Aha. Weiter im Text: Und wenn man weiß, dass Beethoven in seiner Sinfonik den revolutionären Gedanken verfolgt hat, nicht nur thematisch, sondern auch in der radikalen Neuausrichtung des Orchesterklangs, dann kommt für die Aufführung eigentlich nur ein Mann in Frage: nämlich der griechische Dirigent Teodor Currentzis, ein passionierter Freigeist, wie Beethoven es auch war. Schließlich: Sein Auftreten ist magisch und zugleich mystisch. Teodor Currentzis ist groß und superschlank, immer in einer engen schwarzen Hose gekleidet, schwarze schwere Schuhe trägt er, nur die roten Schnürsenkel stechen hervor. [...] Er ist ein Künstler der Gegensätze und das tut dem heutigen Musikbetrieb mehr als gut.

    Im Tagesspiegel, einer in der Regel seriösen Berliner Tageszeitung, berichtet Liudmila Kotlyarova: Vor dem Konzert versichert der Dirigent, er habe sich mit den Partituren intensiv befasst und Beethovens originale Anweisungen entdeckt. “Wissen Sie, dass Beethoven seiner Musik ein Metronom vorausgesetzt hat? Aber praktisch niemand folgte bisher diesem Wunsch”, - betont er im Gespräch mit Journalisten. Hat Currentzis diesen haarsträubenden Unsinn wirklich gesagt? Oder hat die Autorin da etwas falsch verstanden? An anderer Stelle äußert sich Currentzis jedenfalls zu Beethovens Metronomisierungen, ohne sich als Entdecker derselben zu feiern.

    Die Schmerzgrenze endgültig überschreitet die schlechteste Kultursendung des deutschen Fernsehens, ttt (ARD). Currentzis wird mit den unvermeidlichen Klischees abgefeiert (Da kommt er. Der Maestro aus dem hintersten Winkel Russlands. Der berüchtigte Radikale...Teodor Currentzis lebt hier: im Klang.) Schließlich folgt noch ein Wort zu seinen Gegnern: Es gibt Kritiker, die ihn für einen manierierten Übertreiber halten, sie winken mit dem Metronom und dem Notentext. Da hat die Autorin (Stichwort Metronom) wohl sehr gründlich etwas missverstanden. Aber in diesem Text geht's endgültig nur noch um das Image. Solche Fans hat auch Currentzis nicht verdient.

    :wink:

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