Natürlich kann man die gedankliche Vorgehensweise eines Komponisten bis zu einem gewissen Grad rekonstruieren, wenn man die Komposition mit Kenntnissen über die Stilistik und Praxis der damaligen Zeit abgleicht.
Man kann versuchen, bis zu einem gewissen Grad herauszubekommen, welche Aufführungskonventionen in vergangenen Zeiten an bestimmten Orten geherrscht haben. Darüber lässt sich einiges feststellen, wobei genug offen bleibt (zum Beispiel lässt sich nicht genau sagen, wie Doppelpunktierungen in der Barockzeit aufgefasst wurden, ob weicher oder schärfer - siehe mein Posting Nr. 448). Es ist aber für meine Begriffe etwas völlig anderes, zu sagen "Ich weiß einiges über die Aufführungspraktiken, die zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort üblich waren" als zu sagen "Ich weiß, was sich Händel (oder Beethoven oder Strauss) gedacht hat!"
Braucht man viel Fantasie dazu, um anzuerkennen, dass es Traditionen gibt? Prakisch alle russischen Komponisten sind/waren doch akademisch ausgebildet. Warum soll das keinen Niederschlag in der Praxis finden?
Die akademische Ausbildung der russischen Komponisten des 20 Jahrhunderts findet sicher diesen und jenen Niederschlag in der Praxis. Dass sie aber mehr oder minder einheitliche Formen in der Notation ihrer Werke hervorgerufen hat, bezweifele ich bis auf weiteres. Ich weiß jedenfalls nichts von nationalen Notationsschulen im 20. Jahrhundert. Oder gibt es etwas Vergleichbares auch bei den deutschen, den italienischen, den französischen etc. usf. Komponisten dieser Zeit?
Herzliche Grüße
Bernd