Teodor Currentzis

  • Natürlich kann man die gedankliche Vorgehensweise eines Komponisten bis zu einem gewissen Grad rekonstruieren, wenn man die Komposition mit Kenntnissen über die Stilistik und Praxis der damaligen Zeit abgleicht.

    Man kann versuchen, bis zu einem gewissen Grad herauszubekommen, welche Aufführungskonventionen in vergangenen Zeiten an bestimmten Orten geherrscht haben. Darüber lässt sich einiges feststellen, wobei genug offen bleibt (zum Beispiel lässt sich nicht genau sagen, wie Doppelpunktierungen in der Barockzeit aufgefasst wurden, ob weicher oder schärfer - siehe mein Posting Nr. 448). Es ist aber für meine Begriffe etwas völlig anderes, zu sagen "Ich weiß einiges über die Aufführungspraktiken, die zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort üblich waren" als zu sagen "Ich weiß, was sich Händel (oder Beethoven oder Strauss) gedacht hat!"

    Braucht man viel Fantasie dazu, um anzuerkennen, dass es Traditionen gibt? Prakisch alle russischen Komponisten sind/waren doch akademisch ausgebildet. Warum soll das keinen Niederschlag in der Praxis finden?

    Die akademische Ausbildung der russischen Komponisten des 20 Jahrhunderts findet sicher diesen und jenen Niederschlag in der Praxis. Dass sie aber mehr oder minder einheitliche Formen in der Notation ihrer Werke hervorgerufen hat, bezweifele ich bis auf weiteres. Ich weiß jedenfalls nichts von nationalen Notationsschulen im 20. Jahrhundert. Oder gibt es etwas Vergleichbares auch bei den deutschen, den italienischen, den französischen etc. usf. Komponisten dieser Zeit?

    Herzliche Grüße

    Bernd

  • Dass sie aber mehr oder minder einheitliche Formen in der Notation ihrer Werke hervorgerufen hat, bezweifele ich bis auf weiteres.

    Wissen tue ich nichts darüber. Da gibt es sicher den einen oder anderen Spezialisten hier. Dass man aber gewisse Dynamikvorschriften nicht hinzufügt, da sie aufgrund der Faktur gemäß einem etablierten Kompositionsverständnis (eben hier dem "russischen") logischerweise ohnehin vorhanden sein und deshalb nicht notiert werden müssen, würde mich nicht mehr überraschen als ein nicht notierter Triller in einem Barockmanuskript.

    Im Zweifelsfall immer Haydn.

  • Es ist aber für meine Begriffe etwas völlig anderes, zu sagen "Ich weiß einiges über die Aufführungspraktiken, die zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort üblich waren" als zu sagen "Ich weiß, was sich Händel (oder Beethoven oder Strauss) gedacht hat!"

    Offensichtlich reden wir aneinander vorbei. Es geht nicht um das "Denken" per se, sondern um die ästhetische Entscheidungsfindung. Und diese lässt sich partiell natürlich rekonstruieren - idealerweise mithilfe von Skizzen des Komponisten.

    Im Zweifelsfall immer Haydn.

  • Es geht nicht um das "Denken" per se, sondern um die ästhetische Entscheidungsfindung. Und diese lässt sich partiell natürlich rekonstruieren - idealerweise mithilfe von Skizzen des Komponisten.

    Wenn sich die "ästhetische Entscheidungsfindung" so prima musikwissenschaftlich rekonstruieren lässt, warum hört man dann bei diversen Musikern/Ensembles, die sich dem HIP-Ideal verpflichtet fühlen, so massiv unterschiedliche (das geht schon bei der Wahl der Tempi los und hört bei der Ausführung der Punktierungen oder der Wahl der instrumentalen Besetzung noch lange nicht auf) Interpretaionen ein und desselben Barockwerks? Für "historisch informierte" Musiker müsste aufgrund der wissenschaftlichen Rekonstruierbarkeit/Rekonstruktion doch viel klarer sein, wie eine Komposition aufzufassen ist, oder?

    Herzliche Grüße

    Bernd

  • Wenn sich die "ästhetische Entscheidungsfindung" so prima musikwissenschaftlich rekonstruieren lässt, warum hört man dann bei diversen Musikern/Ensembles, die sich dem HIP-Ideal verpflichtet fühlen, so massiv unterschiedliche (das geht schon bei der Wahl der Tempi los und hört bei der Ausführung der Punktierungen oder der Wahl der instrumentalen Besetzung noch lange nicht auf) Interpretaionen ein und desselben Barockwerks? Für "historisch informierte" Musiker müsste aufgrund der wissenschaftlichen Rekonstruierbarkeit/Rekonstrukttion doch viel klarer sein, wie eine Komposition aufzufassen ist, oder?

    Sind die Experten in der Mehrheit der Fälle nicht der gleichen oder sehr ähnlichen Meinung und ragen deshalb die unterschiedlichen Auffassungen bei gewissen Werken nicht so sehr heraus? Außerdem ist gerade in der Barockmusik ein großer improvisatorischer Bestandteil vorhanden, der eine Berufung auf den Komponisten hinfällig macht. Details wie Ausführungen von Punktierungen konnten von Interpret zu Interpret unterschiedlich sein, wie detaillierte Besprechungen von Geigern, etc.. aus dem Barock belegen.

    Im Zweifelsfall immer Haydn.

  • So wie wir uns hier gerade mit dem befassen, was Teodor Currentzis so denkt: Schließlich hat er sich über sein Verständnis von Musik geäußert.

    Wir wissen allerdings nicht, warum er gerade an diesem Tag dies und das zu dem Thema gesagt hat.

    Und ich denke, dass das für Komponisten, Dirigenten und auch 'normale' Menschen gilt. Warum jemand etwas sagt und tut, werden wir in letzter Konsequenz nie wissen können. Sagt er die Wahrheit oder lügt er? Ist er genervt von seinem schlechten Schlaf und seiner Verdauung? Finde er die Interviewerin fürchterlich oder begehrenswert? Steht er unter Zeitdruck? Redet er sich das alles, was er sagt, nur ein oder glaubt er selber daran? Und...und...und... Es gibt so viele Gründe, warum sich Mensch/Künstler belügen (oder auch nicht) und uns auch noch gleich mit.

    Und selbst wenn TC hier sein wirkliches Verständnis von Musik äußert, wer sagt denn, dass es drei Wochen später immer noch gilt? Äußerungen von Künstlern zu ihrem Werk, von Zeitgenossen oder überhaupt von Menschen finde ich immer bedenkenswert. 'An den Taten sollt ihr sie erkennen' - und auch das bringt uns ja auch oftmals nicht unbedingt weiter.

    :wink: Wolfram

    "Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern." (Samuel Beckett)

    "Rage, rage against the dying of the light" (Dylan Thomas)

  • Wir wissen allerdings nicht, warum er gerade an diesem Tag dies und das zu dem Thema gesagt hat.

    Mir ging es eigentlich nur darum, Cherubinos Behauptung zu widersprechen, wonach es uns nicht einmal annäherungsweise gelänge, Zugang zu den Gedanken eines Menschen, hier: Teodor Currentzis', zu bekommen. Das halte ich für falsch.

    Warum jemand etwas sagt und tut, werden wir in letzter Konsequenz nie wissen können.

    Hier stimme ich wiederum zu. So einfach ist es mit dem Zugang schließlich auch nicht.

    Und offen gesagt: So wichtig ist es mir gar nicht zu erfahren, was Currentzis über Musik sagt. Am 22.12. werde ich ihn im Konzert erleben; was ich da zu hören bekomme, das ist mir wichtig!

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Am 22.12. werde ich ihn im Konzert erleben; was ich da zu hören bekomme, das ist mir wichtig!

    'An den Taten....' ist wohl wirklich immer noch das Beste und ich hoffe, dass es da keine Zweifel geben wird. ;)

    Genieß es!

    :wink: Wolfram

    "Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern." (Samuel Beckett)

    "Rage, rage against the dying of the light" (Dylan Thomas)

  • Alle Interessierten können Currentzis mit Mahlers 9. auch im Live-Stream des SWR verfolgen:


    SWR Symphonieorchester | Stuttgart Currentzis dirigiert Mahler 9

    Freitag, 13. Dezember 2019

    Livestream ab 20 Uhr auf SWRClassic.de

    Stuttgarter Abo-Konzert

    Gustav Mahler - Sinfonie Nr. 9 D-Dur

    :wink:

  • Danke! Da werde ich, wenn irgend möglich, dabei sein.

  • Ein erster Bericht über die Currentzis-Konzerte mit Mahlers Neunter. Ich transferiere das mal hierhin, da es so wohl besser paßt:

    Ihr dürft euch trotzdem auf Nono freuen. Ich war heute in Stuttgart bei Mahler 9 und die Zugabe (die auch hier nicht im Programm stand) war

    Luigi Nono - "Hay que caminar" - Soñando für zwei Violinen

    Dafür wurden einige Notenständer im Zuschauerraum verteilt, und die beiden hautnah am Publikum musizierenden Solisten wechselten mehrfach ihre Position.

    Mahlers 9. war beeindruckend, trotz der crescendo-artigen Huster, Raschler, Scharrer und aller möglichen anderer Geräusche. Sowas Furchtbares habe ich bisher selten im Konzert erlebt. Ein echtes Ärgernis.
    Im letzten ersterbenden Satz wurden dann die Lichter immer weiter gedimmt, bis der Saal für zwei lange Minuten komplett im Dunkeln lag. Die damit einhergehende Stille nach den letzten Noten war intensiv und dauerte mindestens eine Minute an, bevor sich erste Musiker und erste zaghafte Klatscher im Saal zu regen begannen.
    Das steinalte Abo-Publikum war eher not amused (was vielleicht auch daran lag, dass sie wegen Schwerhörigkeit die letzten sehr leisen Musik-Minuten überhaupt nichts mehr gehört haben), alle anderen waren begeistert.

    Also dann doch mit Nono. Gut so.

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • ach ja, das paßt auch mehr hierher:

    bei sowas packt mich die kalte Wut und zugleich krieg ich Heulkrämpfe. Kann man die Musik nicht in Ruhe lassen und sie sagen lassen, was sie zu sagen hat? muß man da Stimmung pushen, immer noch was draufsetzen und pseudoreligiös zelebrieren ?

    da wär ich voll dabei!
    pardon, ich mußte das rauslassen.

    ---
    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Nono-Zugabe

    Hay que caminar dauert übrigens fast eine halbe Stunde, glaube ich. Ich vermute aber, daß nur Auszüge geboten werden. Na immerhin.


    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Nu joh, der selige Claudio Abbado hat das in Luzern bei Mahler 9 ganz ähnlich gemacht ... "Gesamtkunstwerk" oder "Performance" oder wie man das heute nennen tut ...

    ... der noch seligere Richard Wagner hat sich dafür eingesetzt, dass sogar am Anfang eines Stücks in der Oper das Licht ausgemacht wird. Geradezu abscheulich ... was sich die Komponisten nicht alles einfallen lassen, um ihr erbärmliches Werk mangels Substanz wenigstens irgendwie äußerlich aufzumotzen ...

    ... und die depperten Opernhäuser machen's bis heute nach, nicht nur bei Wagner. Einfach geschmacklos.

    Gruß
    MB

    :wink:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • ach ja, das paßt auch mehr hierher:

    Vielleicht hat man sich ja dabei genau das gedacht, um die Spezialisten, die gerne noch in den letzten verklingenden Ton ein überschnappendes "bravo" hineinblöken, auszubremsen.

    Bernd

    Fluctuat nec mergitur

  • Vielleicht hat man sich ja dabei genau das gedacht, um die Spezialisten, die gerne noch in den letzten verklingenden Ton ein überschnappendes "bravo" hineinblöken, auszubremsen.

    Eine vielen lieb gewordene Angewohnheit ist auch, mit dem Schlussakkord fluchtartig den Saal in Richtung Garderobe zu verlassen. Das ist in der Dunkelheit natürlich nicht so einfach.

    Wie auch immer, zwei Minuten ist schon reichlich. Hinge bei mir sicher von der Stimmung und der Wirkung des Konzerts ab, ob ich das angemessen oder aufgesetzt fände

  • Nu joh, der selige Claudio Abbado hat das in Luzern bei Mahler 9 ganz ähnlich gemacht ... "Gesamtkunstwerk" oder "Performance" oder wie man das heute nennen tut ..


    so sympathisch mir Abbado auch ist, das finde ich ebenso daneben. Hat A. übrigens auch das Licht wegdimmen lassen oder "nur" diese überlange Andachtspause gemacht?

    Zitat

    ... der noch seligere Richard Wagner hat sich dafür eingesetzt, dass sogar am Anfang eines Stücks in der Oper das Licht ausgemacht wird. Geradezu abscheulich ... was sich die Komponisten nicht alles einfallen lassen, um ihr erbärmliches Werk mangels Substanz wenigstens irgendwie äußerlich aufzumotzen ...

    ... und die depperten Opernhäuser machen's bis heute nach, nicht nur bei Wagner. Einfach geschmacklos


    in der oper gibts eine Bühne mit Bühnenhandlung, das "Licht aus" fordert die Wahrnehmbarkeit und Konzentration auf diese, ist aber kein Spezialeffekt, der das, was sich in der Musik tut, nochmal stimmungsmäßig zu überhöhen.

    Vielleicht hat man sich ja dabei genau das gedacht, um die Spezialisten, die gerne noch in den letzten verklingenden Ton ein überschnappendes "bravo" hineinblöken, auszubremsen.

    dazu sollte doch eine entsprechende Gestik ein paar Sekunden lang genügen.

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    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • so sympathisch mir Abbado auch ist, das finde ich ebenso daneben. Hat A. übrigens auch das Licht wegdimmen lassen oder "nur" diese überlange Andachtspause gemacht?


    Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, hat er gegen Ende des letzten Satzes das Licht wegdimmen lassen.

    ist aber kein Spezialeffekt, der das, was sich in der Musik tut, nochmal stimmungsmäßig zu überhöhen.


    Hm. Im Vergleich zur gängigen Praxis war es durchaus ein Bayreuther Spezialeffekt. Ob er der Überhöhung diente - das ist natürlich ebenso wertende Interpretation wie bei Currentzis. Wagner wollte m. W. die Aufmerksamkeit der Zuschauer fokussieren. Aus solchen Praktiken entstand aber durchaus der Begriff "Kunstreligion".

    Gruß
    MB

    :wink:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Hay que caminar dauert übrigens fast eine halbe Stunde, glaube ich. Ich vermute aber, daß nur Auszüge geboten werden. Na immerhin.

    Menno. Verdirb mir bloß nicht Erwartung auf Mitschnitt. :( :( :heul1: :heul1: :heul1:
    Salonen gab mal am 22.03.09 Mahlers 9. mit dem am Philharmonia Orchestra und davor gabs Füllhorn an Bergsteigerei, nämlich Klaviersonate (Uchida) und Kammerkonzert (mit Uchidda +Tetzlaff) . Und falls ich noch korrekt auf Schirm habe sogar mit vorgeschriebener Wiederholung im Rondo ritmico....

    „Ein Komponist, der weiß, was er will, will doch nur was er weiß...“ Helmut Lachenmann

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