Kann frei dissonante („atonale“) Musik heiter klingen?
In meinem parallel eröffneten Thread zu Arnold Schönbergs Bläserquintett, Op. 26 erwähnte ich, dass der zweite Satz „anmutig und heiter; scherzando“ überschrieben ist und dass ich diese Satzbezeichnung so faszinierend finde, dass ich dazu einen eigenen Thread eröffnen möchte. Arnold Schönberg - Quintett für Flöte, Oboe, Klarinette, Horn und Fagott, Op. 26 (1925)
So sehr ich dissonante Musik im Allgemeinen und den zweiten Satz von Schönbergs Bläserquintett im Speziellen liebe, aber „anmutig und heiter“ oder „spielerisch“ klingt er für mich nicht, höchstens affektiert anmutig und heiter; will sagen, wie eine Parodie von „anmutig und heiter“. Heiterkeit überträgt sich für meine voreingenommenen Ohren, die von der Muttermilch bis zur zehnten Klasse (oder so) ausschließlich tonartgebundene Musik aufgesaugt haben, durch heitere Harmonien. Walzerrhythmen und tänzelnde Melodien hin oder her, aber dissonante, (vermeintlich) tonartlose Akkorde werden für mich immer etwas Gruselig-Unheimliches haben.
Soweit mein Empfinden – Schönberg hat die Bezeichnung aber ziemlich sicher ernst gemeint, also nicht als Satire. Zitat (aus seinem Aufsatz “Composition with Twelve Tones”, zu finden auch in der Sammlung “Stil und Gedanke”): „I have to admit that Alban Berg […] in his operas mixed pieces […] of a distinct tonality with those which were distinctly non-tonal. He explained this, apologetically, by contending that as an opera composer he could not, for reasons of dramatic expression and characterization, renounce the contrast furnished by a change from major to minor. Though he was right as a composer, he was wrong theoretically. I have proved in my operas Von heute auf morgen and Moses und Aron that every expression and characterization can be produced with the style of free dissonance.”
Grob auf Deutsch zusammengefasst: Alban Berg meinte, dass er in seiner Musik tonale Elemente verwende, da er aus Gründen des dramatischen Ausdrucks und musikalischer Charakterisierung auf Mittel wie einen Wechsel von Dur nach Moll nicht verzichten könne. Schönberg meint dazu, dass Berg zwar als Komponist Recht habe und es legitim sei, dass er tonale Elemente verwendet; dass aber die Grundaussage falsch sei, dass man mit frei dissonanter Musik nicht auch jedweden musikalischen Ausdruck produzieren könne, was Schönberg mit seinen eigenen Opern „bewiesen“ habe (hach ja, er war halt doch Polemiker).
Schönberg glaubt mit anderen Worten also fest daran, dass frei dissonante Musik auch anmutig und heiter klingen kann. Muss man wohl so stehenlassen, wenn ich es auch für mich selbst absolut nicht unterschreiben kann – und das als jemand, der diese Musik von ganzem Herzen liebt und begeistert anhört, gerade auch weil sie für mich gruselig-unheimlich klingt.
Ich vermute, es hängt damit zusammen, dass meine tonal sozialisierten Ohren derart voreingenommen sind, dass für mich persönlich Schönbergs zwölftönige Musik (und die meiste frei dissonante Musik im Allgemeinen) nicht hundertprozentig ihr erklärtes Ziel erfüllt, Tonalität zu vermeiden. Zitat aus dem gleichen Aufsatz (Übersetzung von mir): “[…] Ich empfahl die Vermeidung von Oktavdopplungen. Zu doppeln heißt hervorzuheben, und ein hervorgehobener Ton könnte als Grundton interpretiert werden; die Konsequenzen einer solchen Interpretation müssen vermieden werden. Selbst eine geringfügige Reminiszenz an die frühere tonale Harmonie wäre störend, denn sie würde falsche Erwartungen bezüglich der Konsequenzen und Fortführungen hervorrufen. Das Nutzen eines Grundtons ist trügerisch, wenn es nicht auf der Basis aller Implikationen von Tonalität geschieht.“ Kurz gesagt: Tonalität und auch nur die Reminiszenz daran sollen vermieden werden.
Mir persönlich ist es allerdings fast unmöglich, Harmonien selbst bei Schönberg als tonalitätslos zu hören. Irgendeinen Grundton macht mein Ohr fast immer aus, er ändert sich nur meistens sehr schnell. An Stellen, wo Akkorde (oder auch nur ein, zwei Töne) liegenbleiben, höre ich die fast immer als sehr farbige, exotische Akkorde, aber dennoch mit Grundton; mit Ausnahme von Clustern wie c-cis-d oder Akkorden mit dicht nebeneinanderliegenden dissonanten Basstönen und sowas.
Gerade im Schlussakkord des ersten Satzes des Bläserquintetts (von unten nach oben: as-e-b-d-f) klingt für mich mächtig „b“ als Grundton. Im Jazz würde man das B7(#5) nennen (oder so ähnlich). Im Schlussakkord des dritten Satzes (a-g-cis-h-es) höre ich „h“ als Grundton. In der herkömmlichen funktionsharmonischen Tonalität kann man mit sowas natürlich kein Stück beenden, aber in anderen Musikfeldern als der klassischen Musik durchaus (für die hatte Schönberg allerdings wenig übrig).
Der Fairness halber muss man dazusagen, dass Schönberg später zumindest seine Meinung bezüglich Oktavdopplungen geändert (seine Musik mit Ausnahme vom Ende der „Ode an Napoleon“ aber weiterhin als grundtonlos angesehen) hat. Zitat aus einem Brief an René Leibowitz (diesmal ohne Übersetzung): „Avoiding doubling of octaves was certainly a kind of exaggeration because if the composer did it, nature denied it. Every single tone contains octave doubling. Curiously I still do it not all too frequently, though I am today conscious that it is a question merely of dynamics: to emphasize one part more distinctly. […] It was not the purpose to write dissonant music, but to include dissonances in a logical manner […]. I do not know where in the Piano Concerto a tonality is expressed." (Das Klavierkonzert ist ein spätes zwölftöniges Stück Schönbergs, in dem Oktavdopplungen verwendet werden.)
Sorry, dass das jetzt hier so zur Dissertation ausgeartet ist. Kurz gefragt: Kann Musik für euch auch heiter klingen, wenn die Harmonien dissonant sind? Könnt ihr (wie Schönberg sich erhoffte) beim Hören von frei dissonanter Musik von den sich ergebenden Harmonien abstrahieren, oder tragen die Harmonien zur Stimmung des Stücks bei, weil ihr sie (wie ich) unterbewusst als zwar sehr dissonante, aber doch noch irgendwie tonale Harmonien wahrnehmt? Oder wie oder was?
Gruß, Melione
PS: Wenn ich schon immer mehrere Jahre von Capriccio abstinent bin, dann müssen es zum Wiedereinstieg schon auch mal ein, zwei wuchtige Threads sein.