Kann frei dissonante („atonale“) Musik heiter klingen?

  • Kann frei dissonante („atonale“) Musik heiter klingen?

    In meinem parallel eröffneten Thread zu Arnold Schönbergs Bläserquintett, Op. 26 erwähnte ich, dass der zweite Satz „anmutig und heiter; scherzando“ überschrieben ist und dass ich diese Satzbezeichnung so faszinierend finde, dass ich dazu einen eigenen Thread eröffnen möchte. Arnold Schönberg - Quintett für Flöte, Oboe, Klarinette, Horn und Fagott, Op. 26 (1925)

    So sehr ich dissonante Musik im Allgemeinen und den zweiten Satz von Schönbergs Bläserquintett im Speziellen liebe, aber „anmutig und heiter“ oder „spielerisch“ klingt er für mich nicht, höchstens affektiert anmutig und heiter; will sagen, wie eine Parodie von „anmutig und heiter“. Heiterkeit überträgt sich für meine voreingenommenen Ohren, die von der Muttermilch bis zur zehnten Klasse (oder so) ausschließlich tonartgebundene Musik aufgesaugt haben, durch heitere Harmonien. Walzerrhythmen und tänzelnde Melodien hin oder her, aber dissonante, (vermeintlich) tonartlose Akkorde werden für mich immer etwas Gruselig-Unheimliches haben.

    Soweit mein Empfinden – Schönberg hat die Bezeichnung aber ziemlich sicher ernst gemeint, also nicht als Satire. Zitat (aus seinem Aufsatz “Composition with Twelve Tones”, zu finden auch in der Sammlung “Stil und Gedanke”): „I have to admit that Alban Berg […] in his operas mixed pieces […] of a distinct tonality with those which were distinctly non-tonal. He explained this, apologetically, by contending that as an opera composer he could not, for reasons of dramatic expression and characterization, renounce the contrast furnished by a change from major to minor. Though he was right as a composer, he was wrong theoretically. I have proved in my operas Von heute auf morgen and Moses und Aron that every expression and characterization can be produced with the style of free dissonance.”

    Grob auf Deutsch zusammengefasst: Alban Berg meinte, dass er in seiner Musik tonale Elemente verwende, da er aus Gründen des dramatischen Ausdrucks und musikalischer Charakterisierung auf Mittel wie einen Wechsel von Dur nach Moll nicht verzichten könne. Schönberg meint dazu, dass Berg zwar als Komponist Recht habe und es legitim sei, dass er tonale Elemente verwendet; dass aber die Grundaussage falsch sei, dass man mit frei dissonanter Musik nicht auch jedweden musikalischen Ausdruck produzieren könne, was Schönberg mit seinen eigenen Opern „bewiesen“ habe (hach ja, er war halt doch Polemiker).

    Schönberg glaubt mit anderen Worten also fest daran, dass frei dissonante Musik auch anmutig und heiter klingen kann. Muss man wohl so stehenlassen, wenn ich es auch für mich selbst absolut nicht unterschreiben kann – und das als jemand, der diese Musik von ganzem Herzen liebt und begeistert anhört, gerade auch weil sie für mich gruselig-unheimlich klingt.

    Ich vermute, es hängt damit zusammen, dass meine tonal sozialisierten Ohren derart voreingenommen sind, dass für mich persönlich Schönbergs zwölftönige Musik (und die meiste frei dissonante Musik im Allgemeinen) nicht hundertprozentig ihr erklärtes Ziel erfüllt, Tonalität zu vermeiden. Zitat aus dem gleichen Aufsatz (Übersetzung von mir): “[…] Ich empfahl die Vermeidung von Oktavdopplungen. Zu doppeln heißt hervorzuheben, und ein hervorgehobener Ton könnte als Grundton interpretiert werden; die Konsequenzen einer solchen Interpretation müssen vermieden werden. Selbst eine geringfügige Reminiszenz an die frühere tonale Harmonie wäre störend, denn sie würde falsche Erwartungen bezüglich der Konsequenzen und Fortführungen hervorrufen. Das Nutzen eines Grundtons ist trügerisch, wenn es nicht auf der Basis aller Implikationen von Tonalität geschieht.“ Kurz gesagt: Tonalität und auch nur die Reminiszenz daran sollen vermieden werden.

    Mir persönlich ist es allerdings fast unmöglich, Harmonien selbst bei Schönberg als tonalitätslos zu hören. Irgendeinen Grundton macht mein Ohr fast immer aus, er ändert sich nur meistens sehr schnell. An Stellen, wo Akkorde (oder auch nur ein, zwei Töne) liegenbleiben, höre ich die fast immer als sehr farbige, exotische Akkorde, aber dennoch mit Grundton; mit Ausnahme von Clustern wie c-cis-d oder Akkorden mit dicht nebeneinanderliegenden dissonanten Basstönen und sowas.

    Gerade im Schlussakkord des ersten Satzes des Bläserquintetts (von unten nach oben: as-e-b-d-f) klingt für mich mächtig „b“ als Grundton. Im Jazz würde man das B7(#5) nennen (oder so ähnlich). Im Schlussakkord des dritten Satzes (a-g-cis-h-es) höre ich „h“ als Grundton. In der herkömmlichen funktionsharmonischen Tonalität kann man mit sowas natürlich kein Stück beenden, aber in anderen Musikfeldern als der klassischen Musik durchaus (für die hatte Schönberg allerdings wenig übrig).

    Der Fairness halber muss man dazusagen, dass Schönberg später zumindest seine Meinung bezüglich Oktavdopplungen geändert (seine Musik mit Ausnahme vom Ende der „Ode an Napoleon“ aber weiterhin als grundtonlos angesehen) hat. Zitat aus einem Brief an René Leibowitz (diesmal ohne Übersetzung): „Avoiding doubling of octaves was certainly a kind of exaggeration because if the composer did it, nature denied it. Every single tone contains octave doubling. Curiously I still do it not all too frequently, though I am today conscious that it is a question merely of dynamics: to emphasize one part more distinctly. […] It was not the purpose to write dissonant music, but to include dissonances in a logical manner […]. I do not know where in the Piano Concerto a tonality is expressed." (Das Klavierkonzert ist ein spätes zwölftöniges Stück Schönbergs, in dem Oktavdopplungen verwendet werden.)

    Sorry, dass das jetzt hier so zur Dissertation ausgeartet ist. :) Kurz gefragt: Kann Musik für euch auch heiter klingen, wenn die Harmonien dissonant sind? Könnt ihr (wie Schönberg sich erhoffte) beim Hören von frei dissonanter Musik von den sich ergebenden Harmonien abstrahieren, oder tragen die Harmonien zur Stimmung des Stücks bei, weil ihr sie (wie ich) unterbewusst als zwar sehr dissonante, aber doch noch irgendwie tonale Harmonien wahrnehmt? Oder wie oder was? :)

    Gruß, Melione

    PS: Wenn ich schon immer mehrere Jahre von Capriccio abstinent bin, dann müssen es zum Wiedereinstieg schon auch mal ein, zwei wuchtige Threads sein. :)

  • Finde ich eine sehr gute Frage! Mir stellt sie sich immer beim Filme gucken. Selbst populärste Streifen verwenden in der Filmmusik avantgardistische Stile noch und nöcher, allerdings nur bei düsteren, gequälten, verworrenen Szenen (s. OSTs von "Shutter Island" oder "Minority Report"). Ist der Held am Ende dann im sicheren Hafen eingelaufen, wirds aber wieder tonal und melodienselig. Wäre gespannt auf Gegenbeispiele.

  • So sehr ich dissonante Musik im Allgemeinen und den zweiten Satz von Schönbergs Bläserquintett im Speziellen liebe, aber „anmutig und heiter“ oder „spielerisch“ klingt er für mich nicht, höchstens affektiert anmutig und heiter; will sagen, wie eine Parodie von „anmutig und heiter“. Heiterkeit überträgt sich für meine voreingenommenen Ohren, die von der Muttermilch bis zur zehnten Klasse (oder so) ausschließlich tonartgebundene Musik aufgesaugt haben, durch heitere Harmonien. Walzerrhythmen und tänzelnde Melodien hin oder her, aber dissonante, (vermeintlich) tonartlose Akkorde werden für mich immer etwas Gruselig-Unheimliches haben.


    Für mich klingt dieser Satz heiter und verspielt, geradezu nach purem Spaß. Gruselig-unheimlich geht es da m. E. nicht zu.

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • ich habe eigentlich kein Problem, geeignete atonale Musik als "heiter" wahrnehmen zu können. Jedenfalls Musik bis zur Wiener Schule. Wie es dann wird, könnte ich nicht so ohne weiteres sagen. Interessante Frage.

    Hier nur ein paar zusammengeraffte "Randgedanken" zum Thema:

    In der älteren (tonalen) Musik gab es ja die "komische" Dissonanz (bekanntestes Beisp. "Ein musikalischer Spaß").

    Klar, das ist was anderes, aber z.B. im Trio von Bruckner V scheint mir diese Art Dissonanz so sublimiert worden zu sein, daß eine Art "idyllischer" oder heiterer Dissonanz draus wird.

    Im Dr. Faustus findet sich meiner Erinnerung nach die Idee einer Umkehrung des Ausdruckswertes von Dissonanz - himmlische Dissonanzen, höllische Konsonanzen.

    ---
    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Ich vermute, es hängt damit zusammen, dass meine tonal sozialisierten Ohren derart voreingenommen sind, dass für mich persönlich Schönbergs zwölftönige Musik (und die meiste frei dissonante Musik im Allgemeinen) nicht hundertprozentig ihr erklärtes Ziel erfüllt, Tonalität zu vermeiden.

    Mein Muwiprof. (der verstorbene Martin Vogel) hätte wohl geantwortet, dass das auch gar nicht möglich sei und dass das nicht auf "tonal sozialisierte" Ohren, sondern weit davor auf Naturgegebenheiten zurückgehe. Tatsächlich haben Hörtests erwiesen, dass Hörer Intervalle in Richtung auf Naturintervalle "zurecht"hören bzw. ergänzen. Du offenbar auch:

    Zitat

    Mir persönlich ist es allerdings fast unmöglich, Harmonien selbst bei Schönberg als tonalitätslos zu hören. Irgendeinen Grundton macht mein Ohr fast immer aus, er ändert sich nur meistens sehr schnell. An Stellen, wo Akkorde (oder auch nur ein, zwei Töne) liegenbleiben, höre ich die fast immer als sehr farbige, exotische Akkorde, aber dennoch mit Grundton; mit Ausnahme von Clustern wie c-cis-d oder Akkorden mit dicht nebeneinanderliegenden dissonanten Basstönen und sowas.

    Tatsächlich ist die Beschränkung auf exakt 12 Töne eine einigermaßen willkürliche Angelegenheit (Der selige Prof. Vogel bekam bei der Nennung von Schoenbergs Namen immer einen ganz komischen Gesichtsausdruck). Streicher unter sich intonieren z.B. eine große Terz durchaus anders, als wenn ein Klavier dabei ist (hoffentlich jedenfalls ;) ). In diversen Volksmusiken gibt es unendlich viele Varianten von Tonintervallen, aber eben auch Sachen, die sich ganz an physikalischen Gegebenheiten orientieren (Obertongesang etc.).

    Ob man da irgendwas als heiter oder gruselig empfindet, ist dann allerdings mE auch wesentlich eine Angelegenheit der Sozialisation.

    Bernd

    Fluctuat nec mergitur

  • Ich habe das Schönberg-Quintett nicht präsent. Aber es gibt ja eine große Zahl neoklassizistischer Stücke, die man leicht süffisant als "Bach mit falschen Noten" bezeichnet hat und bei denen dominiert beinahe ein heiterer, spielerischer Gestus. (z.B. Stravinskys Konzert "Dumbarton Oaks") Die sind natürlich normalerweise nicht "atonal", aber die irregulären Dissonanzen müssten eigentlich im beinahe-tonalen Umfeld ähnlich stören, wenn sie denn diesen Gestus stören würden.

    Ein zwölftöniges Stück, das ich nach einiger Gewöhnung gerade auch verglichen mit den folgenden Sätzen dieses Werks als eher entspannt bis heiter (wenn auch nicht komisch) wahrnehme, ist der erste Satz von Bergs Lyrischer Suite.

    Sowei ich mich an die 12tonstücke von Hauer erinnere, klingen die auch oft relativ "entspannt", mindestens "gelassen".

    Dass Schönbergs Musik oft sehr spannungsreich klingt, liegt weniger an der Methode. Auch seie tonalen Stücken klingen meistens sehr spannungsreich.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Mein Muwiprof. (der verstorbene Martin Vogel) hätte wohl geantwortet, dass das auch gar nicht möglich sei und dass das nicht auf "tonal sozialisierte" Ohren, sondern weit davor auf Naturgegebenheiten zurückgehe.


    Menschen machen und hören seit zig Jahrtausenden Musik, aber nur in einer Periode von ca. knapp 500 Jahren wurde/wird dabei Dur-Moll-Tonalität verwendet (zumindest gilt dies für den sogenannten "abendländischen" Kulturraum - ich behaupte nicht, mit jeder Musikkultur der Welt vertraut zu sein). Ganz so naturgegeben kann diese also wohl kaum sein.

    Tatsächlich ist die Beschränkung auf exakt 12 Töne eine einigermaßen willkürliche Angelegenheit (Der selige Prof. Vogel bekam bei der Nennung von Schoenbergs Namen immer einen ganz komischen Gesichtsausdruck).


    Eine wirklich fantastische Erkenntnis - die willkürlich gewählte Kompositionsmethode der Dodekaphonie verwendet eine willkürliche Anzahl von Tönen (übrigens kommen in dodekaphon komponierten Stücken potenziell mehr als 12 Töne vor, aber dies nur am Rande). Ich gehe einfach mal davon aus, dass der "selige Prof. Vogel" auch noch fundierte Beiträge für sein Fach geleistet hat. Ansonsten müsste man bei Nennung seines Namens ja geradezu einen ganz komischen Gesichtsausdruck bekommen. :D

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Eine wirklich fantastische Erkenntnis - die willkürlich gewählte Kompositionsmethode der Dodekaphonie verwendet eine willkürliche Anzahl von Tönen (übrigens kommen in dodekaphon komponierten Stücken potenziell mehr als 12 Töne vor, aber dies nur am Rande).

    soweit ich mal in Schriften von Martin Vogel hineingeschaut habe, vermute ich, daß er etwa folgendes meint:

    "Unser" Tonsystem enthält nicht nur die 12 verschiedenen Töne, die auf dem Klavier vorhanden sind. Eine 12tonreihe ist insofern willkürlich, als eben die Zahl der 12 Töne willkürlich ist. Ein besseres Klavier hätte vielleicht 36 verschiedene Töne oder 52 per Oktave (ich glaube, Vogel hat auch Instrumente entworfen, die nach seinen Vorstellungen rein oder zumindest reiner gestimmt waren). Dann wäre eine Reihenmusik auch mit 36 oder 52 Tönen zu machen.

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    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • soweit ich mal in Schriften von Martin Vogel hineingeschaut habe, vermute ich, daß er etwa folgendes meint:

    "Unser" Tonsystem enthält nicht nur die 12 verschiedenen Töne, die auf dem Klavier vorhanden sind. Eine 12tonreihe ist insofern willkürlich, als eben die Zahl der 12 Töne willkürlich ist. Ein besseres Klavier hätte vielleicht 36 verschiedene Töne oder 52 per Oktave (ich glaube, Vogel hat auch Instrumente entworfen, die nach seinen Vorstellungen rein oder zumindest reiner gestimmt waren). Dann wäre eine Reihenmusik auch mit 36 oder 52 Tönen zu machen.


    Natürlich hätte man auch eine Reihentechnik entwickeln können, die z. B. 14 Töne vorsieht. Aber: die Reihentechnik ist eine willkürlich gewählte Methode, die primär der materialökonomischen Selbstdisziplinierung des Komponisten dient - sozusagen eine Navigationshilfe im nicht-tonalen Klangraum (Schönberg war ja dagegen, dass man seine dodekaphonen Stücke nach der Reihe und ihren verschiedenen Gestalten absucht). Dass in einer willkürlich gewählten Methode eine willkürlich gewählte Zahl auftaucht, ist m. E. so aussagekräftig wie "der Papst ist katholisch".

    LG :wink:

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  • Dass in einer willkürlich gewählten Methode

    ich weiß nicht, ob Schönberg mit dem "willkürlich" so einverstanden wäre. Aus S. Perspektive könnte ich mir eine Argumentation vorstellen, die auf eine Art Optimierung der Faktoren Naturtonbezogenheit, Transponierbarkeit und Faßlichkeit (begrenzte Anzahl der Tonorte pro Oktav) hinausläuft. Das mathematische Optimum der Zahl Zwölf (besonders hohe Anzahl von Teilern) käme sicher auch hinzu.

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    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


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  • Nicht die Dur/Moll-Tonalität ist naturgegeben, sondern die Tonintervalle, wie sie sich aus der Unterteilung einer Saite oder eines Rohres ergeben. S. Obertonreihe.

    Die zwölf ist ja auch von der Klaviatur her gegeben, der sich das Notensystem irgendwann angepasst hat. Trotzdem sind nicht alle 12 Abstände immer gleich, ich glaube, nicht einmal auf einem korrekt gestimmten Klavier sind zwei benachbarte Töne exakt 100 Cent auseinander (weiß da jemand genauer Bescheid?).

    Schoenberg aber fordert eine solche "Gleichberechtigung" der Töne. Das ist schon eine von pyhsikalischen Gegebenheiten abstrahierende Willkürlichkeit. Eine Bewertung hat daraus Vogel abgeleitet, ich nicht. Ich wollte nur darauf hinaus, dass das menschliche Gehör dazu neigt, sich Tonintervalle in Richtung auf die "Naturgegebenheiten" hin zurechtzuhören (Intervalle der Obertonreihe) und mich auf den einschlägigen Teil von Meliones Beitrag bezogen. Die so zurechtgehörten Intervalle "tonal" zu deuten gehört in die Abteilung Sozialisation; das Zurechthören selber jedoch nicht.

    Bernd

    Fluctuat nec mergitur

  • Aus S. Perspektive könnte ich mir eine Argumentation vorstellen, die auf eine Art Optimierung der Faktoren Naturtonbezogenheit, Transponierbarkeit und Faßlichkeit (begrenzte Anzahl der Tonorte pro Oktav) hinausläuft.

    Das hat Symbol ja passend als "materialökonomische Selbstdisziplinierung" bezeichnet. Nur die Naturtonbezogenheit paßt da nicht hinein, insofern die Gleichberechtigung der (dodekaphonischen) Töne den aus der Naturtonreihe erwachsenden (Vogelschen) "Tonbeziehungen" widerspricht.


    BTW: Vogels "Naturinstrumente" hatten ja den Zweck, sich den aus der Obertonreihe erwachsenden Intervallen besser annähern zu können. Die 36 Töne einer solchen Klaviatur wären also keineswegs "gleichberechtigt" im Sinne Schoenbergs gewesen; eine Reihenbildung daraus wäre ihm sicherlich ebenso absurd vorgekommen wie die Dodekaphonie.

    Bernd

    Fluctuat nec mergitur

  • Nicht die Dur/Moll-Tonalität ist naturgegeben, sondern die Tonintervalle, wie sie sich aus der Unterteilung einer Saite oder eines Rohres ergeben. S. Obertonreihe.


    Das verstehe ich jetzt nicht. Schönberg hat doch am tradierten Tonvorrat und damit an den üblichen Intervallen nie etwas geändert. Vierteltöne u. ä. gibt es bei ihm m. W. nicht - wohl aber (laut wikipedia, mir selbst war das bisher nicht klar) bei den alten Griechen, deren Musik Herr Vogel wohl ausgiebig erforscht hat.

    Abgesehen davon ist mir unverständlich, wieso bei einem Kunstwerk (das per definitionem artifiziell sein muss) Argumente der Naturbezogenheit eine Rolle spielen sollen. Es ist vollkommen unnatürlich, dass Leute zwei Stunden in einem von Menschen gebauten Raum sitzen, um einem oder mehreren anderen Menschen dabei zuzusehen und -zuhören, wie er/sie von Menschen gebaute Instrumente nach von Menschen verfassten Vorschriften bedient/bedienen. Wir nennen das üblicherweise "Konzert"... :D Und in diesem höchst artifiziellen Rahmen sollen auf einmal bestimmte Bezüge der dargebotenen Klänge zur Obertonreihe von entscheidender Bedeutung sein?

    Schoenberg aber fordert eine solche "Gleichberechtigung" der Töne. Das ist schon eine von pyhsikalischen Gegebenheiten abstrahierende Willkürlichkeit.


    Das ist aber ein ästhetisches Postulat Schönbergs, kein physikalisches. Schönberg bestreitet nicht, dass eine Sekunde als Intervall anders klingt als eine Terz. Er bestreitet aber, dass die musiksemantische Konnotation dieser beiden Intervalle zwangsweise unterschiedlich sein muss.

    LG :wink:

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  • Das verstehe ich jetzt nicht. Schönberg hat doch am tradierten Tonvorrat und damit an den üblichen Intervallen nie etwas geändert.

    Der tradierte Tonvorrat von 12 Tönen ist eine Hilfskonstruktion. Der tatsächliche Tonvorrat ist größer (nochmal: eine von Streichern rein intonierte Terz ist ein anderes Intervall als die eines Klaviers). Die (nur scheinbar) 12 Töne sind insofern nicht "gleichberechtigt". Das sieht bei Schoenberg anders aus.

    Abgesehen davon ist mir unverständlich, wieso bei einem Kunstwerk (das per definitionem artifiziell sein muss) Argumente der Naturbezogenheit eine Rolle spielen sollen.

    Mir auch, habe ich auch nicht gefordert (ich zucke bei einschlägiger Verwendung von "Natürlichkeit" auch innerlich zusammen). Das physikalische Material des musikalischen Kunstwerks (Schallwellen) jedoch ist zwangsläufig naturbezogen; darum ging es mir hier. Ausgangspunkt war Meliones Tendenz, sich bei Schoenberg tonale Bezüge zurechtzuhören. Meine These: da geht es nicht (nur) um tonale Bezüge (das wäre in der Tat eine Sache der Gewöhnung/Sozialisation), sondern um die physisch gegebene Tendenz des Gehörs, sich Naturintervalle zurechtzuhören.

    Bernd

    Fluctuat nec mergitur

  • Eine Abfolge von Tönen ist eine Abfolge von Tönen - wie auch immer. Musik als solche ist a priori nicht heiter oder traurig oder sonst irgend etwas: Welche Stimmungen wir mit welcher Art der Abfolge assoziieren, ist eine Frage der Hörerfahrung und Musiksozialisation - ist also mithin gelernt. Wenn wir z.B. punktierte Rhythmen auf beschränktem Naturtonvorrat mit aufsteigenden Intervallen als "kriegerisch" oder "festlich" (oder - bei Hörnern - auch als "im Wald") empfinden, dann beruht das auf der jahrhundertelangen Verwendung von Blechblasinstrumenten für einschlägige Anlässe, nicht darauf, daß punktierte Rhythmen auf beschränktem Naturtonvorrat per se "kriegerisch" etc. wären. Bei "heiteren", "traurigen" o.ä. Assoziationen ist das ebenso. Kleine Kinder (mit noch sehr marginaler Musiksozialisation) etwa empfinden rasche Stücke eher als fröhlich und langsame eher als traurig - Dur/moll oder abfallende kleine Intervalle und was es der Stilmittel hinsichtlich der Stimmungstypisierung noch alles gäbe, ist für sie (noch) nebensächlich.
    Also: die Frage wäre zunächst dahingehend zu stellen, welche weiteren Stilmittel atonale Musik (über ihre Atonalität hinaus!) verwendet, um als "heiter", "düster" oder was auch immer zu gelten - einschlägige (und hinreichende!) Standardisierung der Stilmittel und Hörerfahrung vorausgesetzt. Nur: Gibt es bei atonaler Musik überhaupt eine entsprechende Typisierung der Stilmittel hinsichtlich bestimmter Stimmungen? Wenn es die nicht gibt, dann ist die Eingangsfrage mit einem klaren "Nein" zu beantworten, dann ist eine Assoziation mit bestimmten Stimmungen nicht möglich, weil - s.o. - die ja erst einmal erlernt werden muß und zum Lernen braucht es zwingend wiederkehrende Muster, die in einem bestimmten Kontext unverändert bleiben.

    viele Grüße

    Bustopher


    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • Der tradierte Tonvorrat von 12 Tönen ist eine Hilfskonstruktion. Der tatsächliche Tonvorrat ist größer (nochmal: eine von Streichern rein intonierte Terz ist ein anderes Intervall als die eines Klaviers). Die (nur scheinbar) 12 Töne sind insofern nicht "gleichberechtigt". Das sieht bei Schoenberg anders aus.


    Ich verstehe es immer noch nicht, was an der Sommerhitze im Südwesten liegen mag. :D Die von Schönberg verwendeten Reihen bestehen aus 12 Tönen, das ist klar. Aber: ich einem dodekaphon konstruierten Stück können doch mehr als diese 12 Töne auftreten, da die Reihe sowie ihre drei Alternativgestalten auf jedem der 12 Töne beginnen können. Der Ton cis ist auch bei Schönberg ungleich dem Ton des, auch wenn beide Töne auf dem Klavier halt identisch klingen.

    Bei wikipedia findet man eine m. E. recht instruktive Erläuterung von Schönbergs Klavierstück op. 33a (https://de.wikipedia.org/wiki/Zw%C3%B6lftontechnik). Dort sieht man sehr schön, dass die auf es einsetzende Umkehrung den Ton des beinhaltet, während in der auf b beginnenden Grundform ein cis auftaucht - zwei verschiedene Töne! Auf dem Klavier ist das klanglich wurscht, aber Schönberg unterscheidet diese Töne.

    LG :wink:

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  • Menschen machen und hören seit zig Jahrtausenden Musik, aber nur in einer Periode von ca. knapp 500 Jahren wurde/wird dabei Dur-Moll-Tonalität verwendet (zumindest gilt dies für den sogenannten "abendländischen" Kulturraum - ich behaupte nicht, mit jeder Musikkultur der Welt vertraut zu sein). Ganz so naturgegeben kann diese also wohl kaum sein.

    Relativ naturgegeben scheint mir aber, daß Töne verschiedenes Gewicht haben sollen und dürfen: also so etwas wie Grundtöne und immer wiederkehrende Intervalle (und sei es auch nur auf ein Stück bezogen) scheint mir schon, unabhängig vom Tonvorrat und ob der für uns "tonal" klingt, in der Natur menschlichen Musizierens zu liegen.
    Auch, daß für bestimmte Stücke aus dem Tonvorrat, den eine Musikkultur insgesamt ihr eigen nennt, eine Auswahl getroffen wird, scheint mir bis zu Schönberg:

    Schoenberg aber fordert eine solche "Gleichberechtigung" der Töne.

    ein durchgehendes Prinzip zu sein.

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • Aber: ich einem dodekaphon konstruierten Stück können doch mehr als diese 12 Töne auftreten, da die Reihe sowie ihre drei Alternativgestalten auf jedem der 12 Töne beginnen können. Der Ton cis ist auch bei Schönberg ungleich dem Ton des, auch wenn beide Töne auf dem Klavier halt identisch klingen.

    Dann wäre aber der Begriff "Dodekaphonie" keine wirklich korrekte Bezeichnung. Also daß es um 12 Töne geht, scheint mir doch recht evident. Wie wollte man auch eine "Gleichberechtigung" herstellen zwischen 12 (?) Tönen und ihren (mit Doppel-Bs und Doppel-#s) doch in die zig gehenden enharmonischen Verwechselungen?

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • Dann wäre aber der Begriff "Dodekaphonie" keine wirklich korrekte Bezeichnung. Also daß es um 12 Töne geht, scheint mir doch recht evident. Wie wollte man auch eine "Gleichberechtigung" herstellen zwischen 12 (?) Tönen und ihren (mit Doppel-Bs und Doppel-#s) doch in die zig gehenden enharmonischen Verwechselungen?


    Die 12 Töne bilden die Reihe, die wiederum in ihren 48 (4 x 12) Erscheinungsformen auftreten kann. Es ist aber eben nicht so, dass das gesamte Stück lediglich aus 12 Tönen besteht. Bei op. 33a habe ich vorhin nochmal nachgesehen. Da gibt es z. T. sogar in identischer Tonlage die Töne cis und des, auch wenn sie klanglich auf dem Klavier natürlich gleich sind.

    Die Gleichberechtigung der Töne ist lediglich insofern gegeben, dass über einen langen Zeitaum alle Töne statistisch bedingt ungefähr gleich häufig erklingen. Es kann aber sozusagen "lokal" zu Akkumulationen von Tönen im Verlauf des Stückes kommen.

    LG :wink:

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