Kann frei dissonante („atonale“) Musik heiter klingen?

  • Die 12 Töne bilden die Reihe, die wiederum in ihren 48 (4 x 12) Erscheinungsformen auftreten kann. Es ist aber eben nicht so, dass das gesamte Stück lediglich aus 12 Tönen besteht. Bei op. 33a habe ich vorhin nochmal nachgesehen. Da gibt es z. T. sogar in identischer Tonlage die Töne cis und des, auch wenn sie klanglich auf dem Klavier natürlich gleich sind.

    Das ist doch Semantik. :) Du definierst "cis" und "des" als zwei verschiedene Töne, die gleich klingen, und sagst, dass es deshalb in zwölftönigen Stücken mehr als zwölf Töne gibt. Schönberg (und ich) würden indes "cis" und "des" (im Kontext der gleichstufigen Stimmung) als zwei verschiedene Schreibweisen desselben Tons definieren. Zwölftonreihen beinhalten immer zwölf Töne, die aber je nach Kontext in einer bestimmten Schreibweise einfacher zu lesen sind und deshalb nicht immer in derselben Schreibweise gesetzt werden.

    Schönberg hat übrigens, während er seine Suite, Op. 29 komponierte, an einer neuen Notenschrift speziell für Zwölftonkompositionen getüftelt, in der es für jeden Ton nur eine Schreibweise gibt. So sehen die ersten sechs Takte des zweiten Satzes der Suite in dieser Notenschrift aus: http://archive.schoenberg.at/compositions/s…_resize:100_pr_

  • Die 12 Töne bilden die Reihe, die wiederum in ihren 48 (4 x 12) Erscheinungsformen auftreten kann. Es ist aber eben nicht so, dass das gesamte Stück lediglich aus 12 Tönen besteht. Bei op. 33a habe ich vorhin nochmal nachgesehen. Da gibt es z. T. sogar in identischer Tonlage die Töne cis und des, auch wenn sie klanglich auf dem Klavier natürlich gleich sind.

    Für mich klingt das insofern inkonsequent, als ohne tonale Bezugsrahmen eigentlich die Begründung dafür wegfällt, daß gleichklingende Töne verschieden heißen. Es kann zur Verständlichkeit beitragen, um z.B. Erscheinungsformen der Reihe besser zu erkennen,also um charakteristische Intervalle sichtbar zu machen. Aber: entweder "Komposition mit 12 nur aufeinander bezogenen Tönen" oder mehr als 12 Töne. Selbst die Namen der Intervalle sind ja abgeleitet aus den Stufen diatonischer Leitern, insofern ist es ohne Tonleitern (die von Grundtönen ausgehen) komplett egal, ob ein Intervall eine verminderte Septime, eine große Sexte oder was auch immer ist. Insofern kann auch die Benennung nicht ernsthaft implizieren, daß es um mehr als 12 Töne geht. Auch fischt ja jeder Musiker, der auf einem bundlosen Saiteninstrument etwa cis und des verschieden spielen wollte, im Trüben, weil er keinen Rahmen hat, auf den bezogen er sinnvoll höher oder tiefer intonieren kann.
    Oder es müßte dafür noch ein extra Regelwerk geben.
    Oder ist es tatsächlich auch in der Musik der 2.Wiener Schule so gemeint, daß ein b tiefer klingen soll als ein ais? Für mich geraten da sofort Kategorien aus der Tonalität hinein und erzeugen Unklarheiten, denn nur aus tonalen Bezügen ist die Verschiedenheit der enharmonisch verwechselten Töne bzw der aus ihnen gebildeten Intervalle erklärbar. Aber vielleicht mache ich da auch einen Denkfehler ...

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • Zwölftonreihen beinhalten immer zwölf Töne, die aber je nach Kontext in einer bestimmten Schreibweise einfacher zu lesen sind und deshalb nicht immer in derselben Schreibweise gesetzt werden.

    das ist für mich nachvollziehbar und logisch.

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    daß Alles für Freuden erwacht

  • Das ist doch Semantik. :) Du definierst "cis" und "des" als zwei verschiedene Töne, die gleich klingen, und sagst, dass es deshalb in zwölftönigen Stücken mehr als zwölf Töne gibt. Schönberg (und ich) würden indes "cis" und "des" (im Kontext der gleichstufigen Stimmung) als zwei verschiedene Schreibweisen desselben Tons definieren. Zwölftonreihen beinhalten immer zwölf Töne, die aber je nach Kontext in einer bestimmten Schreibweise einfacher zu lesen sind und deshalb nicht immer in derselben Schreibweise gesetzt werden.


    Nein, es ist keine Semantik, sondern eine Tatsache, dass ein cis kein des ist. Beide können allerdings gleich klingen, wenn ein Instrument entsprechender Stimmung (z. B. ein Klavier) verwendet wird oder auf einem Instrument (wie z. B. einem Streichinstrument) in entsprechender Stimmung gespielt wird. Im übrigen habe ich nur auf die These reagiert, dass Schönberg mit seiner Technik von Natur aus unterschiedliche Töne artifiziell gleichgemacht habe. Diesen Vorwurf sollte man wohl eher Klavierbauern und -stimmern unterbreiten. ;)

    Zwölftonreihen beinhalten immer zwölf Töne, die aber je nach Kontext in einer bestimmten Schreibweise einfacher zu lesen sind und deshalb nicht immer in derselben Schreibweise gesetzt werden.


    Die Lesbarkeit als Motivation für die unterschiedliche Notation heranzuziehen halte ich für sehr fraglich. Lesbarkeit hat noch nicht mal tonal schreibende Komponisten interessiert, die Doppelalterationen statt nicht-alterierter Noten in Klavierstücken notiert haben (ich behaupte mal, dass man ein d tendenziell schneller begreift als ein cisis, es sei denn, dass der Kontext im Akkord das cisis schnell und klar erkennbar macht). Die haben die kompliziertere Schreibweise gewählt, weil sie formal korrekt und folgerichtig ist, und weil ein cisis nunmal kein d ist. Ebenso liegt die Vermutung nahe, dass Schönberg des statt cis hingeschrieben hat, wenn sich das des aus der gerade verwendeten Form der Reihe logisch ergeben hat. Diese These müsste man aber natürlich mal etwas konsequenter überprüfen. Das Notenbild einer atonalen Komposition ist für eher herkömmlich trainierte Nicht-Spezialisten zunächst immer eine Herausforderung, ob da nun cis oder des steht.

    Schönberg hat übrigens, während er seine Suite, Op. 29 komponierte, an einer neuen Notenschrift speziell für Zwölftonkompositionen getüftelt, in der es für jeden Ton nur eine Schreibweise gibt. So sehen die ersten sechs Takte des zweiten Satzes der Suite in dieser Notenschrift aus: http://archive.schoenberg.at/compositions/s…_resize:100_pr_


    Was er nicht allzu lange durchgehalten hat. Nach op. 29 hat Schönberg noch etwa ein weiteres Vierteljahrhundert komponiert, und zwar in traditioneller Notation. Nun muss man bedenken, dass Schönberg auch ein (offensichtlich ziemlich begabter) Erfinder gewesen ist. Es ist insofern zweifelhaft, ob er mit dieser Notation (Dein Link geht übrigens bei mir nicht) musikästhetischen Überzeugungen gefolgt ist oder einfach Spaß am Tüfteln hatte. Und noch etwas: op. 29 beinhaltet ein Klavier, weshalb die anderen (intonationsmäßig variablen) Instrumente sich der Stimmung des Klaviers anpassen müssen. Deswegen gilt für dieses Stück ohnehin, dass cis wie des klingen muss, und zwar für alle Instrumente (da das Klavier sich nicht anpassen kann). Das wiederum würde diese "Einheitsnotation" sinnvoll erscheinen lassen, da diese z. B. die Streicher daran erinnern würde, nicht etwa die Kreuze hoch und die bs tief zu nehmen (was die sonst ganz gerne machen).

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Nein, es ist keine Semantik, sondern eine Tatsache, dass ein cis kein des ist

    Schönberg selbst nennt die Zwölftonkomposition bekanntlich in beabsichtigter Umständlichkeit Methode der Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen. Darin ist schon impliziert, daß es sich bei cis/des nur um einen Unterschied der Schreibweise handelt, bei deren Verwendung selbstverständlich die übersichtliche Lesbarkeit eine Rolle spielt.


    Man könnte nur sehr spekulativ (aber legitim) darüber nachsinnen, ob in dieser "übersichtlichen Lesbarkeit" sich so etwas wie eine untergründige Tendenz zur quasi tonalen Interpretation bemerkbar macht (ähnlich der Grundtönigkeit, die Melione ansprach), oder vielleicht mit dieser gleichbedeutend ist. Man wird ja doch lieber die Quart es - as anstelle der übermäßigen Terz es - gis notieren, bzw. wenn doch es - gis notiert wird, wird es vielleicht an anderen Zusammenhängen liegen. Solche Überlegungen hätten Schönberg sicher nicht gestört, da er ja die Frage der Harmonie nicht für erledigt betrachtet hat, sondern Erkenntnisse späterer Zeiten durchaus für möglich hielt.

    ---
    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Die Lesbarkeit als Motivation für die unterschiedliche Notation heranzuziehen halte ich für sehr fraglich. Lesbarkeit hat noch nicht mal tonal schreibende Komponisten interessiert, die Doppelalterationen statt nicht-alterierter Noten in Klavierstücken notiert haben (ich behaupte mal, dass man ein d tendenziell schneller begreift als ein cisis, es sei denn, dass der Kontext im Akkord das cisis schnell und klar erkennbar macht). Die haben die kompliziertere Schreibweise gewählt, weil sie formal korrekt und folgerichtig ist, und weil ein cisis nunmal kein d ist.


    Dazu zitiere ich Schönberg aus seiner Harmonielehre (erschienen 1911): "[...] In anderen Fällen ist es, wenn man sich nicht in den heute [also 1911, Anm. Melione :D ] müßigen Streit über Orthographie einlassen will, zweckmäßig, enharmonisch zu verwechseln und beispielsweise c - es - as statt c - es - gis zu schreiben, obwohl die Regel für die Alterierung gewöhnlich so gegeben wird [...]: die Alterierung wird ausgedrückt, indem man vor das gleiche Notenzeichen das entsprechende Versetzungszeichen setzt. Ich ziehe es vor, an Stelle eines komplizierten Notenbildes, das oft durch diese pedantische Genauigkeit entsteht, jenes Zeichen zu setzen, das auf einen bekannten Akkord zurückführt. Das wird bei den meisten dieser Akkorde möglich sein. In andern Fällen wird man eventuell auf die Stimme Rücksicht nehmen und wenigstens sie einfach darstellen."

    Und an späterer Stelle: "Ich habe es in den letzten Beispielen mit der Orthographie geflissentlich meist so gehalten, wie die üblichen Vorschriften es verlangen. Ich wollte damit zeigen, wie wenig sie selbst [also die Orthographie, Anm. Melione] ausreicht die Abstammung zu erklären, wie sehr sie aber die Lesbarkeit erschwert. Nur wo ich mich selbst schon gar nicht mehr ausgekannt hätte, habe ich enharmonisch verwechselt. Man wird mir's zugute halten müssen, dass ich diese Frage mit solcher Leichtfertigkeit behandle, denn ich bin stolz darauf. Ich bin stolz darauf, daß ich dem, was meist das Um und Auf der Akademiker bildet, nicht einen Augenblick ernsthaften Nachdenkens gewidmet habe, sondern unmittelbar von der Voraussetzungslosigkeit aus zur Erkenntnis übergegangen bin. Zur Erkenntnis, daß hier ein unlösbares Problem vorliegt, an dessen Vorhandensein die Unzulänglichkeit unserer Notenschrift schuld ist."

  • Dazu zitiere ich Schönberg aus seiner Harmonielehre (erschienen 1911): "[...] In anderen Fällen ist es, wenn man sich nicht in den heute [also 1911, Anm. Melione :D ] müßigen Streit über Orthographie einlassen will, zweckmäßig, enharmonisch zu verwechseln und beispielsweise c - es - as statt c - es - gis zu schreiben, obwohl die Regel für die Alterierung gewöhnlich so gegeben wird [...]: die Alterierung wird ausgedrückt, indem man vor das gleiche Notenzeichen das entsprechende Versetzungszeichen setzt. Ich ziehe es vor, an Stelle eines komplizierten Notenbildes, das oft durch diese pedantische Genauigkeit entsteht, jenes Zeichen zu setzen, das auf einen bekannten Akkord zurückführt. Das wird bei den meisten dieser Akkorde möglich sein. In andern Fällen wird man eventuell auf die Stimme Rücksicht nehmen und wenigstens sie einfach darstellen."

    Und an späterer Stelle: "Ich habe es in den letzten Beispielen mit der Orthographie geflissentlich meist so gehalten, wie die üblichen Vorschriften es verlangen. Ich wollte damit zeigen, wie wenig sie selbst [also die Orthographie, Anm. Melione] ausreicht die Abstammung zu erklären, wie sehr sie aber die Lesbarkeit erschwert. Nur wo ich mich selbst schon gar nicht mehr ausgekannt hätte, habe ich enharmonisch verwechselt. Man wird mir's zugute halten müssen, dass ich diese Frage mit solcher Leichtfertigkeit behandle, denn ich bin stolz darauf. Ich bin stolz darauf, daß ich dem, was meist das Um und Auf der Akademiker bildet, nicht einen Augenblick ernsthaften Nachdenkens gewidmet habe, sondern unmittelbar von der Voraussetzungslosigkeit aus zur Erkenntnis übergegangen bin. Zur Erkenntnis, daß hier ein unlösbares Problem vorliegt, an dessen Vorhandensein die Unzulänglichkeit unserer Notenschrift schuld ist."


    Ganz so leicht gebe ich mich nicht geschlagen - ich kann ziemlich stur sein. :D

    Der von Dir zitierte Text bezieht sich ja offensichtlich auf Stellen, an denen auf enharmonische Verwechslung aus rein akademischen Gründen verzichtet wird - wo also die Notation tatsächlich "Orthographie" ist. Hier erweist Schönberg sich als praxisorientiert.

    Schönberg war aber Streicher, er war Cellist. Streicher wachsen gleichsam damit auf, Hochalterationen (Kreuze) eher hoch zu intonieren und Tiefalterationen (bs) eher tief. Mein Geigenlehrer hat sich deswegen gerne mal beklagt, dass er für seine Ohren leicht unsauber spielen müsse, wenn er eine Klavierbegleitung hatte.

    Vor diesem Hintergrund fällt es mir schwer zu glauben, dass Schönberg mal eben in Bausch und Bogen gis gleich as setzt. In einem bestimmten Kontext mag dies gehen (z. B. bei Stücken für bzw. mit Klavier), und dann setzt er Lesbarkeit an erste Stelle.

    Für diese Lesbarkeit gilt aber, wie Du zitierst: "Ich ziehe es vor, an Stelle eines komplizierten Notenbildes, das oft durch diese pedantische Genauigkeit entsteht, jenes Zeichen zu setzen, das auf einen bekannten Akkord zurückführt. Das wird bei den meisten dieser Akkorde möglich sein." Mit Verlaub: was soll denn in einem atonal-dodekaphonen Stück "auf einen bekannten Akkord" zurückführen? Inwiefern soll die Notation von des statt cis die Lesbarkeit verbessern? Mein heute unternommener Blick in die Noten von op. 33a hat auf jeden Fall nicht suggeriert, dass das des aufgetaucht ist, weil man dann auf einmal alles leicht erfasst hätte. Wenn dem so wäre, dann müsste Schönberg sich doch eigentlich direkt zu Beginn entscheiden, ob er alle Alterationen hoch oder tief notiert, dann müsste sich der Spieler nämlich nicht permanent umgewöhnen. Stattdessen wechselt er immer wieder zwischen Kreuzen und bs hin und her. In Takt 30 steht in der rechten Hand das des in einem Akkord mit einem fis (und einem c). Wenn Schönberg es einfach lesbar machen wollte, warum hat er dann nicht das des zum cis oder das fis zum ges gemacht? Dann würde der Spieler nämlich sofort sehen, dass das auf dem Klavier einfach eine Quinte ist, an die unten als Dissonanz ein c drangepappt worden ist.

    Nun noch zu zabkis Verweis auf Schönbergs Bezeichnung "Methode der Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen". Es heißt eben nicht "Methode der Komposition mit nur zwölf aufeinander bezogenen Tönen". Schönbergs Bezeichnung ist einfach Vornehmsprech für die Reihe (also statt "Methode der Komposition mit Reihen aus zwölf Tönen"). Der Vorteil seiner Bezeichnung ist, dass sie ohne den damals noch nicht gängigen Begriff der "Reihe" auskommt und stattdessen deutlich macht, was das eigentlich ist - nämlich zwölf nur aufeinander (und nicht auf eine Tonika) bezogene Töne.

    LG :wink:

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  • Vor diesem Hintergrund fällt es mir schwer zu glauben, dass Schönberg mal eben in Bausch und Bogen gis gleich as setzt.

    Habe in der Harmonielehre noch mehr zur Enharmonik gefunden:

    "An gewissen Stellen des Quintenzirkels muß eine sogenannte enharmonische Verwechslung eintreten. Diese beruht auf dem Umstand, daß in unserer Notenschrift bekanntlich jede Tonhöhe je durch zwei oder mehrere Schriftzeichen ausgedrückt werden kann. So ist cis gleich des, fis gleich ges, f gleich eis oder geses usw. Ebenso verhält es sich mit Akkorden (dis - fisis - ais ist gleich es - g - b, h - dis - fis ist gleich ces - es - ges etc.), mit ganzen Tonarten (Ges-Dur = Fis-Dur, as-Moll = gis-Moll, Des-Dur = Cis-Dur etc.) und auch mit Tonfolgen (ein Gang dis - fis - e - cis - dis z. B. lautet enharmonisch verwechselt es - ges - fes - des - es). Der Zweck dieser enharmonischen Verwechslungen ist in erster Linie, der Lesbarkeit durch ein möglichst einfaches Notenbild entgegenzukommen, und erst in zweiter Linie die sogenannte Orthographie. Wo im Laufe eines Satzes [...] sich ein zu kompliziertes Notenbild einstellt, wird zur enharmonischen Verwechslung am besten ein Punkt zum Wenden benützt, wo ein mehrdeutiger Akkord eine andere Schreibweise zuläßt. Ich finde, man muß mit der sogenannten Orthographie nicht allzu ängstlich sein. Das wesentlichste scheint mir das einfache Notenbild. Wenn behauptet wird, der Zweck und Sinn der Orthographie sei, die Abstammung der Akkorde zu zeigen, so finde ich dagegen, daß bei einfachen Vorgängen die Abstammung auch ohne verzwicktes Notenbild klar ist; bei komplizierten aber, da wo sich der Sinn des Vorgangs eher dem Leser als dem Spieler erschließt, finde ich die Rücksicht auf den Spieler wichtiger, ziehe daher das einfache Notenbild unbedingt vor. [...] In sehr komplizierten Fällen ist es oft kaum möglich, wirklich Einfaches zu finden. Das liegt an der Unzulänglichkeit unserer Schrift, die von der C-Dur-Skala ausgeht, statt von der chromatischen Skala, die cis (des) nicht für einen selbständigen Ton ansieht, sondern von c (oder d) abgeleitet, und ihm deshalb auch keine eigene Stellung im Raum und keinen eigenen Namen gibt. [... I]n der temperierten Skala sind doch die Oktaven, vor allem die Oktaven, rein, also wird H-Dur wirklich mit Ces-Dur als identisch angenommen [...]."

    Und später, im Kapitel "Die chromatische Skala als Grundlage der Tonalität": "Material aller durch Verbindung von Tönen erzeugter Gestalten ist eine Reihe von 12 Tönen. (Daß hier 21 Notennamen stehen und daß sie von c aus dargestellt sind, entspricht und rührt her von unserer unvollkommenen Notenschrift; eine vollkommenere wird nur 12 Notennamen kennen und für jeden ein selbständiges Zeichen setzen.)"

    Mit Verlaub: was soll denn in einem atonal-dodekaphonen Stück "auf einen bekannten Akkord" zurückführen?

    Dort natürlich nichts; 1911 hatte Schönberg ja auch noch keine Zwölftonreihen erfunden.

    Mein heute unternommener Blick in die Noten von op. 33a hat auf jeden Fall nicht suggeriert, dass das des aufgetaucht ist, weil man dann auf einmal alles leicht erfasst hätte. Wenn dem so wäre, dann müsste Schönberg sich doch eigentlich direkt zu Beginn entscheiden, ob er alle Alterationen hoch oder tief notiert, dann müsste sich der Spieler nämlich nicht permanent umgewöhnen. Stattdessen wechselt er immer wieder zwischen Kreuzen und bs hin und her.

    Was ist denn deine Hypothese dazu, warum er das macht, wo du doch einräumst, dass zumindest in einem Klavierstück cis und des gleich "klingen"? Ich kann dir heute nachmittag übrigens gerne mal ein paar Stellen aus zwölftönigen Stücken von Schönberg herausschreiben, wo selbst bei gleicher Reihenform an verschiedenen Stellen unterschiedlich enharmonisch verwechselt wird.

  • Was ist denn deine Hypothese dazu, warum er das macht, wo du doch einräumst, dass zumindest in einem Klavierstück cis und des gleich "klingen"?


    Meine Hypothese ist, dass ihm die formale Ableitung eines bestimmten Klangs - besonders in einem atonalen Stück - eben doch nicht vollkommen unwichtig war. Also hat er wohl bei dodekaphoner Technik zum Teil Wert darauf gelegt, dass die Reihe nachvollziehbar bleibt, auch wenn er vom Spieler oder Hörer ja gerade nicht erwartet hat, dass diese die Reihen suchen. Trotzdem sollte vielleicht das Konstruktionsprinzip ableitbar bleiben.

    Mein oben zitiertes Beispiel aus op. 33a habe ich übrigens recht leicht gefunden: ich habe das pdf von hinten angefangen nach einem Akkord mit des durchzusehen, da in der Analyse in den von Schönberg bevorzugten Reihen cis und des aufgetaucht sind. Nach etwa einer knappen Minute hatte ich das Ding, und das war dann auch gleich ein instruktives Beispiel, in dem Schönberg darauf verzichtet, eine normale reine Quinte als reine Quinte zu notieren. Ich war dann ehrlich gesagt zu faul, die Umgebung auf die verwendeten Reihen zu untersuchen, und bin mir auch nicht sicher, ob ich dafür hinreichend geübt wäre. Aber: entweder hatte ich Glück (dann sollte ich vielleicht mal Lotto spielen :D ), oder es ist tatsächlich ziemlich leicht, beim dodekaphonen Schönberg Stellen zu finden, in denen er die formale Herleitung über die Lesbarkeit stellt.

    Dass er in der Harmonielehre so gar nicht erwähnt, dass die von Dir zitierten Prämissen letztlich eine bestimmte Stimmung erfordern, wundert mich dann doch etwas. Schönberg war ja ein extrem versierter Theoretiker und Lehrer - geht er darauf wirklich überhaupt nicht ein?

    Was auch noch interessant wäre: Schönberg hat ja für seine kompositorische Arbeit Reihentafeln verwendet. Wenn er sich auf 12 Töne insgesamt beschränken möchte, dann wäre es doch logisch, dass in diesen Reihentafeln die Töne, die nicht in der Grundform der Reihe auftreten, direkt enharmonisch verwechselt und damit angeglichen werden - so dass man in den Reihentafeln in der Gesamtsumme tatsächlich nur 12 Töne findet. Töne im Stück, die diesem Vorrat nicht entsprechen, würden dann im Kompositionsprozess durch enharmonische Verwechslung im Sinne der Lesbarkeit entstehen. Man sollte also wirklich mal in seine eigenen Tafeln sehen und überprüfen, ob er bereits in der Notation der Reihen durch enharmonische Verwechslung die Zahl 12 eingehalten hat oder manche Reihentafeln in Summe mehr als 12 Töne aufweisen.

    Was auch noch interessant wäre: wie verhält es sich mit der enharmonischen Verwechslung in den dodekaphonen Streichquartetten 3 und 4, in denen ja nur Instrumente mitspielen, die die zu verwechselnden Töne durch Intonation problemlos unterscheiden könnten? Da die Streicher im Quartett meist einstimmig und aus Einzelstimmen spielen, wäre das Lesbarkeits-Argument dort ja eigentlich nicht wirklich zwingend.

    Ich kann dir heute nachmittag übrigens gerne mal ein paar Stellen aus zwölftönigen Stücken von Schönberg herausschreiben, wo selbst bei gleicher Reihenform an verschiedenen Stellen unterschiedlich enharmonisch verwechselt wird.


    Das wäre einerseits sehr interessant, andererseits glaube ich Dir das auch ohne Beleg.

    Ich möchte vielleicht nochmal daran erinnern, was der Ausgangspunkt dieser Diskussion gewesen ist. Das war die Schönberg-Kritik von Vogel, die sich auf die "Tongleichmacherei" bezogen hat. Die hat aber nichts mit der dodekaphonen Technik zu tun, sondern mit der Stimmung. Schönbergs dodekaphone Technik erlaubt es prinzipiell, Stücke mit insgesamt mehr als 12 Tönen zu erzeugen. Ebenso könnte ein Derivat der Schönberg-Technik theoretisch sogar erlauben, Reihen mit mehr als 12 Tönen zu verwenden, was dann aber den Nachteil hätte, dass manche Töne der Reihe ähnlich bzw. auf dem Klavier sogar gleich klängen - was wiederum das Schönberg-Postulat der Nicht-Wiederholung (das ja einen gewissen Sinn hat) aushöhlen würde.

    LG :wink:

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  • Der von Dir zitierte Text bezieht sich ja offensichtlich auf Stellen, an denen auf enharmonische Verwechslung aus rein akademischen Gründen verzichtet wird - wo also die Notation tatsächlich "Orthographie" ist. Hier erweist Schönberg sich als praxisorientiert.


    Meliones Zitat scheint sich auf einen tonalen Kontext zu beziehen, ich denke aber, da´dennoch Rückschlüsse auf atonale Notation möglich sind. Vielleicht könnte Melione die Stelle angeben? Am besten mit Kapitelnummer, wegen der verschiedenen Auflagen.

    Schönberg war aber Streicher, er war Cellist. Streicher wachsen gleichsam damit auf, Hochalterationen (Kreuze) eher hoch zu intonieren und Tiefalterationen (bs) eher tief. Mein Geigenlehrer hat sich deswegen gerne mal beklagt, dass er für seine Ohren leicht unsauber spielen müsse, wenn er eine Klavierbegleitung hatte.


    Soweit ich da informiert bin - bitte ggf. korrigieren - gibt es bei den Streichen in der Intonation zwei ganz verschiedene Tendenzen. Die eine ist die sog. "expressive", melodisch orientierte Intonation, insb. Leittöne werden verengt, was darauf hinausläuft, daß erhöht notierte Tönen eher höher, erniedrigt notierte Töne eher tiefer intoniert werden. Die andere Richtung ist an der harmonischen "Reinheit" der Intervalle und Akkorde orientiert, da werden dann erhöht notierte Töne eher tiefer und erniedrigt notierte Töne eher höher gespielt. z.B. in der reinen Terz e - gis ist gis etwas tiefer als in der temperierten Stimmung. Beide Arten dürften aber bei atonaler Musik auf größere Probleme stoßen - Leittöne im eigentlichen Sinne gibt es nicht, und ob man unter atonalen Bedingungen mit einer "reinen" Stimmung durchkommen kann, ist mir auch zweifelhaft.

    In Schönbergs Umkreis wurde die Orientierung der Intonation auch von reiner Streichermusik an der gleichschwebend temperierten Stimmung vertreten (Kolisch-Quartett), auch für die tonale Musik zumindest seit Haydn.

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    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


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  • Schönberg glaubt mit anderen Worten also fest daran, dass frei dissonante Musik auch anmutig und heiter klingen kann. Muss man wohl so stehenlassen, wenn ich es auch für mich selbst absolut nicht unterschreiben kann – und das als jemand, der diese Musik von ganzem Herzen liebt und begeistert anhört, gerade auch weil sie für mich gruselig-unheimlich klingt.

    Ich vermute, es hängt damit zusammen, dass meine tonal sozialisierten Ohren derart voreingenommen sind, dass für mich persönlich Schönbergs zwölftönige Musik (und die meiste frei dissonante Musik im Allgemeinen) nicht hundertprozentig ihr erklärtes Ziel erfüllt, Tonalität zu vermeiden.

    Ich finde die Frage interessant und habe noch keine Antwort für mich gefunden. Anmutig und heiter auf atonal gelingt Schönberg nicht, in meinen Ohren. Klar - verglichen zur Katastrophenästhetik anderer Schönbergwerke schon, aber nicht verglichen zu manchem Neoklassizismus der Zeit.
    Hauer ist eher meditativ-sphärisch. Wirklich anmutig-heiter auf atonal geht wahrscheinlich nicht, wenn man atonal im Sinne von Wiener Schule nimmt, also mit dem Tonsystem der 12 temperierten Halbtöne und mit massenhaft klingenden Dissonanzen und unter Vermeidung von offenen Konsonanzen.

    This play can only function if performed strictly as written and in accordance with its stage instructions, nothing added and nothing removed. (Samuel Beckett)
    playing in good Taste doth not confit of frequent Passages, but in expressing with Strength and Delicacy the Intention of the Composer (F. Geminiani)

  • In Schönbergs Umkreis wurde die Orientierung der Intonation auch von reiner Streichermusik an der gleichschwebend temperierten Stimmung vertreten (Kolisch-Quartett), auch für die tonale Musik zumindest seit Haydn.


    Das ist interessant, das war mir bisher ehrlich gesagt nicht bekannt. Mein Geigenlehrer hat sich auf die russische Geigentradition berufen, womit er tendenziell wahrscheinlich eher auf der expressiven Seite stand. Auch Kreisler schätzte er meiner Erinnerung nach sehr.

    Wenn Schönberg die "Klavier-Stimmung" als das Nonplusultra angesehen haben sollte, so würde dies natürlich seine Haltung zu enharmonischen Verwechslungen erklären. Das belegt aber einmal mehr, dass die von Vogel angemerkte "Tongleichmacherei" nichts mit der Dodekaphonie zu tun hat, denn offensichtlich vertritt Schönberg die genannten Positionen ja auch für tonale sowie frei-atonale Werke (Melione hat bereits darauf hingewiesen, dass die zitierten Einträge in der Harmonielehre deutlich vor der Entwicklung der Dodekaphonie verfasst worden sind). Wie bereits gesagt: es liegt an der Stimmung, nicht an der Zwölftontechnik.

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Mein Geigenlehrer hat sich auf die russische Geigentradition berufen, womit er tendenziell wahrscheinlich eher auf der expressiven Seite stand.

    Ich glaube, Dein Geigenlehrer ist inzwischen auch schon historisch, da jüngere Geiger aufwachsen mit historischer Aufführungspraxis und Neuer Musik im Studium, die dürfen nicht permanent ihre hoch-fisse und tief-bs spielen wie ein paar Generationen vorher.

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  • Ich glaube, Dein Geigenlehrer ist inzwischen auch schon historisch, da jüngere Geiger aufwachsen mit historischer Aufführungspraxis und Neuer Musik im Studium, die dürfen nicht permanent ihre hoch-fisse und tief-bs spielen wie ein paar Generationen vorher.


    Da dürftest Du richtig liegen - ich habe lange nichts mehr von ihm gehört und befürchte, dass er wahrscheinlich nicht mehr lebt. Mein Unterricht ist ja schon einige Jahre her...

    LG :wink:

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  • Die Lesbarkeit als Motivation für die unterschiedliche Notation heranzuziehen halte ich für sehr fraglich. Lesbarkeit hat noch nicht mal tonal schreibende Komponisten interessiert, die Doppelalterationen statt nicht-alterierter Noten in Klavierstücken notiert haben (ich behaupte mal, dass man ein d tendenziell schneller begreift als ein cisis, es sei denn, dass der Kontext im Akkord das cisis schnell und klar erkennbar macht).

    Hallo,

    Doppelkreuze und -b's sind zumindest in manchen Fällen durchaus leichter lesbar, z. B. bei einem Pendeln zwischen Gis und Fisis in der Tonart Gis-Moll:
    Bei der aufgeschriebenen Tonfolge "Gis-Fisis-Gis-Fisis-Gis-Fisis" genügt es hier, innerhalb eines Taktes vor das erste Fisis ein Doppelkreuz zu setzen. Bei Gis-G-Gis-G-Gis-G müsste man dagegen vor jedes G ein Auflösungszeichen setzen, vor jedes Gis dann wieder ein Kreuz, wodurch das Notenbild unnötig mit Vorzeichen aufgeladen wird.
    Ebenso, wie eine chromatisch absteigende Tonleiter mit vorgezeichneten b's (C-H-B-A-As-G...) leichter notierbar ist als eine mit Kreuzen, (C-H-Ais-A-Gis-G) da man sonst laufend Auflösungzeichen setzen müsste.

    zwischen nichtton und weißem rauschen

  • Doppelkreuze und -b's sind zumindest in manchen Fällen durchaus leichter lesbar, z. B. bei einem Pendeln zwischen Gis und Fisis in der Tonart Gis-Moll:
    Bei der aufgeschriebenen Tonfolge "Gis-Fisis-Gis-Fisis-Gis-Fisis" genügt es hier, innerhalb eines Taktes vor das erste Fisis ein Doppelkreuz zu setzen. Bei Gis-G-Gis-G-Gis-G müsste man dagegen vor jedes G ein Auflösungszeichen setzen, vor jedes Gis dann wieder ein Kreuz, wodurch das Notenbild unnötig mit Vorzeichen aufgeladen wird.
    Ebenso, wie eine chromatisch absteigende Tonleiter mit vorgezeichneten b's (C-H-B-A-As-G...) leichter notierbar ist als eine mit Kreuzen, (C-H-Ais-A-Gis-G) da man sonst laufend Auflösungzeichen setzen müsste.


    Das meine ich ja, dass Doppelalterationen in manchen Zusammenhängen besser zu erfassen sind. Auf Deine sehr schönen Beispiele bin ich dabei ehrlich gesagt nicht gekommen, ich dachte eher an dominantische Akkorde.

    Nehmen wir mal As-Dur als Dominante zu Des-Dur. Der As-Dur-Septnonakkord lautet as-c-es-ges-bb. Für die None sollte man hier m. E. auf jeden Fall das doppelt tiefalterierte h notieren - ein enharmonisch eingebrachtes a würde wohl eher irritieren, da man dann die Terzschichtung nicht mehr sofort sieht. Wenn die Doppelalterationen hingegen im Notensatz zu dicht werden, ist die vereinfachte Notation m. E. potenziell überlegen, ebenso ggf. in kantablen Linien.

    Die dis-moll-Fuge aus dem WTK 1 ist ein Stück, welches ich irgendwie in der Kategorie "weniger Doppelalterationen wären nett" abgespeichert habe (das müsste ich anhand der Noten mal überprüfen, die Erinnerung kann ja auch täuschen).

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Meine Lieblingsstelle für Doppelalterationen ist das "Poco lento"-Zwischenspiel in Ernest Chaussons Klavierauszug seines "Poéme" für Violine und Orchester: notiert in Ges-Dur, also 6 Vorzeichen, dazu in 9 Takten noch 18 Doppel-b, 11 einfache b und 7 Auflösungszeichen (siehe http://ks.imslp.net/files/imglnks/…op.25_Poeme.pdf, dort auf Seite 8, ab Ziffer 14). Ob man so etwas bequemer findet als eine enharmonisch vereinfachte Schreibweise, hängt wohl von den Gewohnheiten und vor allem der Erfahrung ab. Ich musste das mal spontan aus einer Ausgabe spielen, bei der ab dem dritten Takt (bb-Dur) in A-Dur weitergemacht wurde, was mich dann endgültig verwirrt hat. Bei der originalen Schreibweise muss ich mich immer nur ein bisschen konzentrieren. Dadurch erlebt man die folgende Entspannung bei der Rückung nach d-moll dann viel unmittelbarer :) .

    Christian

  • Anmutig und heiter auf atonal gelingt Schönberg nicht, in meinen Ohren.

    um mal zum eigentlichen Fadenthema zurückzukehren -

    Frage an die, die wie putto sagen, "heiter gelänge ihnen nicht auf atonal zu hören".

    Würdet ihr euch nicht zutrauen, beim zweiten Satz des Bläserquintetts eine Multiple-choice-Frage richtig zu beantworten, die etwas so lautete:

    Welchen Ausdruck würdest du diesem Stück zubilligen:

    a) traurig, verzweifelt
    b) furios
    c) heiter, fröhlich
    d) idyllisch, verträumt
    e) dramatisch, bedrohlich


    ich denke, ich würde schon auf c) tippen.

    Wenn ihr euch das zutrauen würdet - inwiefern erfaßt die Multiple-choice-Frage nicht das, was die Ohren im gegebenen Fall können? Anders gefragt, welchen Anspruch an das, was es hieße "ich kann 'heiter' auf atonal hören" geht über die Multiple-choice-Frage hinaus?

    Tut mir leid, meine Frage ist irgendwie etwas verschraubt geraten.

    Etwas anderes:

    Meliones Frage verallgemeinert - inwieweit ist überhaupt "richtig" atonale Musik geeignet, "positive" Gemüts- oder Empfindungslagen auszudrücken - wie fröhlich, gelassen, freudig erregt, triumphal ...

    Weiter:

    Falls atonale Musik das nicht kann, wie sind dann entsprechende Vorschriften der Komponisten zu verstehen? - wie die in Meliones Beispiel ("Anmutig und heiter, scherzando"), - verlangt der Komponist hier Unmögliches (für die Musik unmöglich, und/oder für die Interpreten unmöglich)? Oder wären die Vorschriften karikaturartig zu verstehen? Oder ...?

    ---
    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).


  • Also von den angebotenen Optionen würde ich, wenn überhaupt, nur "bedrohlich" ankreuzen ("dramatisch" wiederum nicht). Die Adjektive, mit denen ich die Stimmung beschreiben würde, wären "unheimlich", "gruselig", "mysteriös", vielleicht noch "unruhig" oder "zynisch". Eventuell auch "ehrfürchtig" (mit Betonung auf "fürchtig"). Das klingt jetzt vielleicht ein bisschen pathetisch, aber frei dissonante Musik vermittelt mir fast immer eine irgendwie ehrfürchtige (zumindest jedenfalls unheimliche) Stimmung. Ich kann schwer beschreiben warum, aber diese "asonanten" Harmonien (damit meine ich, dass sie oft gemischt konsonant-dissonant sind und diese beiden Begriffe für mich hier daher irgendwie fehl am Platz sind) evozieren bei mir sehr oft das Erkennen oder Erleben von etwas Unaussprechlichem, vor dem das "lyrische Ich" des Stücks Furcht hat (eben im Sinne voh "Ehr-" oder vielleicht "Gottesfurcht"). Diese Grundstimmung ist für mich aufgrund der Harmonien fast immer latent dabei, völlig unabhängig von der sonstigen, etwa melodischen oder rhythmischen, Gestaltung des Stücks. Warum, wüsste ich selber gerne. Jedenfalls sind solche Harmonien für mich persönlich mit "heiterer" oder "witziger" Musik völlig inkongruent, was sich in Schönbergs Oper "Von heute auf morgen", Op. 32 bei mir am deutlichsten niederschlägt.

    Etwas anderes:

    Meliones Frage verallgemeinert - inwieweit ist überhaupt "richtig" atonale Musik geeignet, "positive" Gemüts- oder Empfindungslagen auszudrücken - wie fröhlich, gelassen, freudig erregt, triumphal ...


    Für mich persönlich: gar nicht. Bei mir kommen solche Stimmungen nur bei tonaler Musik zustande, eigentlich sogar nur bei Musik, deren Tonika in Dur steht (ich sage der Sicherheit halber mal dazu, mit ganz wenigen Ausnahmen, wenn mir auch grade keine bei der Hand ist).

    Weiter:

    Falls atonale Musik das nicht kann, wie sind dann entsprechende Vorschriften der Komponisten zu verstehen? - wie die in Meliones Beispiel ("Anmutig und heiter, scherzando"), - verlangt der Komponist hier Unmögliches (für die Musik unmöglich, und/oder für die Interpreten unmöglich)? Oder wären die Vorschriften karikaturartig zu verstehen? Oder ...?


    Dass zumindest Schönberg seine dergestalten Partiturvorschriften nicht karikaturartig verstanden hat, habe ich ja schon im Eingangspost zu beweisen versucht. Ich würde aber sagen, dass Schönberg den Interpreten und/oder Hörern hier nichts Unmögliches abverlangt, sondern nur den (mutmaßlich) meisten. Da er selbst seine Musik offenkundig als heiter zu empfinden vermocht hat, gehe ich davon aus, dass das auch anderen möglich ist (was hier im Thread ja auch schon mehrfach bestätigt wurde). Das sind wohl eben diejenigen Menschen, die von dissonanten Harmonien (oder asonanten, mir gefällt meine Wortschöpfung :) ) zu abstrahieren vermögen, bzw. für die offenkundig die Harmonien entweder gar nicht oder zumindest deutlich weniger als für mich Einfluss auf die empfundene Stimmung eines Musikstücks haben.

  • Ja, natürlich.
    Ohne Katalog möglicher Ausdrucksbereiche höre ich das aber als völlig neutral, abstrakt, abgeklärt, interesselos wohlgefallend.
    Schönberg wird es schon als ungemein fröhlich empfunden haben, und wenn ich wochenlang nur das Bläserquartett hören würde, käme ich wohl auch dahin. Aber das Stück existiert nunmal nicht für sich alleine.

    (Das Problem sehe ich jetzt vor allem bei "anmutig".)

    This play can only function if performed strictly as written and in accordance with its stage instructions, nothing added and nothing removed. (Samuel Beckett)
    playing in good Taste doth not confit of frequent Passages, but in expressing with Strength and Delicacy the Intention of the Composer (F. Geminiani)

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