Kann frei dissonante („atonale“) Musik heiter klingen?

  • Also von den angebotenen Optionen würde ich, wenn überhaupt, nur "bedrohlich" ankreuzen ("dramatisch" wiederum nicht).

    da bin ich doch sehr überrascht

    Zitat

    Die Adjektive, mit denen ich die Stimmung beschreiben würde, wären "unheimlich", "gruselig", "mysteriös", vielleicht noch "unruhig" oder "zynisch". Eventuell auch "ehrfürchtig" (mit Betonung auf "fürchtig"). Das klingt jetzt vielleicht ein bisschen pathetisch, aber frei dissonante Musik vermittelt mir fast immer eine irgendwie ehrfürchtige (zumindest jedenfalls unheimliche) Stimmung. Ich kann schwer beschreiben warum, aber diese "asonanten" Harmonien (damit meine ich, dass sie oft gemischt konsonant-dissonant sind und diese beiden Begriffe für mich hier daher irgendwie fehl am Platz sind) evozieren bei mir sehr oft das Erkennen oder Erleben von etwas Unaussprechlichem, vor dem das "lyrische Ich" des Stücks Furcht hat (eben im Sinne voh "Ehr-" oder vielleicht "Gottesfurcht"). Diese Grundstimmung ist für mich aufgrund der Harmonien fast immer latent dabei, völlig unabhängig von der sonstigen, etwa melodischen oder rhythmischen, Gestaltung des Stücks.

    das kann ich am besten bei Stücken wie den Klavierstücken op. 11 nachvollziehen. Dort scheint ja Tonalität noch relativ deutlich durch, was aber den darüber hinausgehenden Klängen eine umso größere Suggestivkraft der Eroberung eines unermeßlichen Raumes verleiht. Das ist für mich bei den Zwölftonkompositionen auch nicht gelöscht, kann aber "latent" sein (wie du es sagst), und dann (für mein Ohr) ggf. auch einem "heiteren" Charakter möglich machen.

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    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Ohne Katalog möglicher Ausdrucksbereiche höre ich das aber als völlig neutral, abstrakt, abgeklärt, interesselos wohlgefallend.

    geht dir das auch so bei "negativen" Ausdruckslagen, z.B. bei der Lichtspielszene?

    (Das Problem sehe ich jetzt vor allem bei "anmutig".)

    glaube ich, kann ich nachvollziehen. Erinnert mich an die Rätselhaftigkeit von Picassobildern schöner Frauen, die "in Wirklichkeit" schaurige Mißgeburten wären.

    Eine andere Schwierigkeit sehe ich beim "scherzando" (Schwierigkeit vergleichbar dem "Allegretto agitato" bei Beethoven). Ältere Musik, die ich als "heiter" bezeichnen würde (pradigmatisch Pastorale 1. Satz, sowie die beiden Beeth. Klaviersonaten op. 14) haben nicht das rhythmisch pointierte von Schönbergs Satz.

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    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Also ich empfinde Schönbergs Musik selten als "heiter", aber auch seine tonale größtenteils nicht. Das liegt für mein Empfinden aber eher an anderen Aspekten, z. B. an der Dichte des Satzes, die immer etwas pathetisch daher kommt.
    Am ehesten würde ich noch den Beginn des Klavierkonzerts nominieren, der ja im Manuskript auch mit "Life was so easy" beschriftet ist.

    Zur "Natürlichkeit": Dur-Moll-Tonalität ist selbstverständlich ein Produkt unserer Kultur. Der beste Beweis ist doch, dass es gar keine absolute "Dur-Moll-Tonalität" gibt, sondern dass Tonalität in einem stetigen Fluss war und ist. Die Tonalität von 1700 ist bspw. eine ganz andere als die von 1750.

    Die Obertonreihe andererseits aber ist selbstverständlich naturgegeben und unser Hörorgan ebenso, insofern ist diese Tatsache nicht vollkommen abstrakt. Um es mit einem Extrembeispiel auszudrücken: Ein lautes, auf eine bestimmte Weise sehr enges Intervall wird wohl jeder auf Dauer als sehr unangenehm empfinden, da beide Töne zusammen eine starke Schwebung ergeben. Ein reines Intervall mit einfachem Frequenzverhältnis klingt hingegen schwebungsfrei, statisch und damit weniger "anstrengend".

  • Ein lautes, auf eine bestimmte Weise sehr enges Intervall wird wohl jeder auf Dauer als sehr unangenehm empfinden, da beide Töne zusammen eine starke Schwebung ergeben. Ein reines Intervall mit einfachem Frequenzverhältnis klingt hingegen schwebungsfrei, statisch und damit weniger "anstrengend".

    Das könnte jetzt aber auch kulturell geprägt sein....

    viele Grüße

    Bustopher


    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • bei buddhistischen ritualgesängen sollte es auch zusammenklänge mit schwebungen geben, aber mit instabilen tonhöhen
    die sind aber auch nicht "anmutig"
    wäre interessant, wie es in der volksmusik aussieht

    This play can only function if performed strictly as written and in accordance with its stage instructions, nothing added and nothing removed. (Samuel Beckett)
    playing in good Taste doth not confit of frequent Passages, but in expressing with Strength and Delicacy the Intention of the Composer (F. Geminiani)

  • Die Obertonreihe andererseits aber ist selbstverständlich naturgegeben

    ich würde sagen "jein".
    Die "Obertonreihe" mit den idealisiert "einfachen" Proportionen tritt doch vorzugsweise(?) bei "länglichen" Tonerzeugern auf (Saiten, Luftsäulen). Und solche Tonerzeuger werden halt in der Musik bevorzugt vor Glocken etc mit "aharmonischen" Teiltönen. Diese Bevorzugung ist aber doch wiederum eine historisch-kulturelle Angelegenheit, wenn auch vielleicht anthropologisch fundiert durch die menschliche Luftröhre.

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    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Na, die Obertonreihe selbst ist schon naturgegeben.
    Das heißt ja nicht, dass besonders viele Klänge in der Natur vorkommen, deren Spektrum die Obertöne sauber auflistet.
    Aber so was wie Resonanzen kannst Du nicht als kulturell einstufen.

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  • Wie ist das eigentlich mit Debussy? Wäre das als mikrotonal oder polytonal einzustufen? Für mich klingt das extrem dissonant aber trotzdem sehr positiv.

    Im Zweifelsfall immer Haydn.

  • Na, die Obertonreihe selbst ist schon naturgegeben.

    ja, unter bestimmten Bedingungen kommt sie naturgegeben vor. Aber die Bevorzugung dieser Bedingungen (längliche Tonerzeuger) für "unsere" Musik ist nicht naturgegeben.

    Man kann daher nicht einfach sagen, daß die Eigenschaft der Töne, harmonische Teiltöne zu haben, naturgegeben wäre, denn diese Töne sind eben von uns auf die Eigenschaft hin optimiert, harmonische Teiltöne zu haben.

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    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


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  • Wie ist das eigentlich mit Debussy? Wäre das als mikrotonal oder polytonal einzustufen? Für mich klingt das extrem dissonant aber trotzdem sehr positiv.

    Mit dem Begriff "mikrotonal" werden ja meist Viertel- Achteltöne etc. eingestuft, während Debussy mit der traditionellen chromatischen Tonleiter arbeitet. .

    Davon abgesehen operiert Debussy immer noch primär mit Dreiklängen (und deren Erweiterungen) und allgemein terzgebundenen Akkorden, scharfe Dissonanzen sind bei ihm bei weitem nicht so stilprägend wie in der Wiener Schule oder später den Serialisten.

    zwischen nichtton und weißem rauschen

  • Komischerweise landen solche Diskussionen um den Vergleich zwischen atonaler und tonaler Musik immer bei den Evergreens Natur/Kultur, Obertonreihe etc.

    Dabei ist ein anderer Parameter der Fragestellung hier bisher noch kaum unter die Lupe genommen worden: das "Heitere", "Komische" etc. Was sind in der europäischen Musik insb. des 18.-20. Jahrhunderts eigentlich Merkmale musikalischer Komik bzw. eines heiteren Charakters von Musik? Und da ist doch wohl die Harmonik nur ein Mittel unter anderen. Spontan fallen mir viele andere Mittel ein: Tempo- oder Dynamikkontraste, Rhythmik, Stilwechsel, Instrumentation (z.B. bestimmte Kombinationen oder Instrumente, die in extremen Lagen spielen), Lautmalerei, schnelle Tonfolgen oder Tonrepetitionen ("Buffocharakter") usw. usw. Fast alles Genannte scheint mir doch prinzipiell in atonaler Musik genauso möglich zu sein wie in tonaler. Oder täusche ich mich?


    Viele Grüße

    Bernd

    .

  • Liebe Capricciosi,

    also ich finde den zweiten Satz des Bläserquintetts schon fröhlich. Wie soll man denn die einleitende Oboenmelodie sonst nennen? Und die Evokation von Heiterkeit über rhythmische Pointierung funktioniert bei mir schon, da ist mir die Tonalität dann egal. Allerdings wirken solche frei- und atonalen "fröhlichen" Stücke auf mich sehr schnell wuselig-cartoonig. Tiefe nachhaltige Freude drückt Moll in meinen Ohren besser aus.

    Liebe Grüße,
    Areios

    P.S. in Bezug auf Zwielicht: Zumal mir insbesondere unklar ist, was "Natur" oder Obertonreihen mit Heiterkeit zu tun haben sollen.

    "Wenn [...] mehrere abweichende Forschungsmeinungen angegeben werden, müssen Sie Stellung nehmen, warum Sie A und nicht B folgen („Reichlich spekulativ die Behauptung von Mumpitz, Dinosaurier im alten Rom, S. 11, dass der Brand Roms 64 n. Chr. durch den hyperventilierenden Hausdrachen des Kaisers ausgelöst worden sei. Dieser war – wie der Grabstein AE 2024,234 zeigt – schon im Jahr zuvor verschieden.“)."
    Andreas Hartmann, Tutorium Quercopolitanum, S. 163.

  • Und da ist doch wohl die Harmonik nur ein Mittel unter anderen. Spontan fallen mir viele andere Mittel ein: Tempo- oder Dynamikkontraste, Rhythmik, Stilwechsel, Instrumentation (z.B. bestimmte Kombinationen oder Instrumente, die in extremen Lagen spielen), Lautmalerei, schnelle Tonfolgen oder Tonrepetitionen ("Buffocharakter") usw. usw. Fast alles Genannte scheint mir doch prinzipiell in atonaler Musik genauso möglich zu sein wie in atonaler. Oder täusche ich mich?


    Nein, das tust Du nicht. Aufgrund vieler der von Dir genannten Merkmale empfinde ich das Stück als heiter, geradezu verspielt.

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Komischerweise landen solche Diskussionen um den Vergleich zwischen atonaler und tonaler Musik immer bei den Evergreens Natur/Kultur, Obertonreihe etc.

    Das ist nicht so komisch, da die Eingangsfrage dorthin ging.

    Zitat

    Dabei ist ein anderer Parameter der Fragestellung hier bisher noch kaum unter die Lupe genommen worden: das "Heitere", "Komische" etc. Was sind in der europäischen Musik insb. des 18.-20. Jahrhunderts eigentlich Merkmale musikalischer Komik bzw. eines heiteren Charakters von Musik? Und da ist doch wohl die Harmonik nur ein Mittel unter anderen. Spontan fallen mir viele andere Mittel ein: Tempo- oder Dynamikkontraste, Rhythmik, Stilwechsel, Instrumentation (z.B. bestimmte Kombinationen oder Instrumente, die in extremen Lagen spielen), Lautmalerei, schnelle Tonfolgen oder Tonrepetitionen ("Buffocharakter") usw. usw. Fast alles Genannte scheint mir doch prinzipiell in atonaler Musik genauso möglich zu sein wie in tonaler. Oder täusche ich mich?

    "Anmutig heiter" geht für mich nicht mit Instrumenten in extremen Lagen oder Tempo- und Dynamikkontrasten zusammen. Das Anmutige ist in der Moderne leider ziemlich gestorben und ich kenne auch kein atonales Stück, das es auszudrücken in der Lage wäre.

    This play can only function if performed strictly as written and in accordance with its stage instructions, nothing added and nothing removed. (Samuel Beckett)
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  • Das Anmutige ist in der Moderne leider ziemlich gestorben und ich kenne auch kein atonales Stück, das es auszudrücken in der Lage wäre.


    Ligeti Klavierkonzert 1. Satz? Natürlich ist der rhythmisch komplex, aber auch geradezu melodisch heiter, wie eine angenehme frische Sommerbrise - und für mich damit "anmutig". Ebenso diverse Stücke von Hans Werner Henze, die für meine Begriffe z. T. schon beinahe zu sehr in Klangschönheit baden.

    Es kommt ja auch darauf an, was man unter dem Begriff versteht. Wenn sich "leicht" mit in dem Begriff verstecken soll, so wäre z. B. auch die Renaissance-Polyphonie nicht unbedingt "anmutig".

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Stimmt, bei "anmutig" käme ich nicht auf die Idee, eine Vokalpolyphonie der Renaissance zu nominieren.
    Ich würde sofort im 18. Jahrhundert suchen gehen.

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