Synthese aus HIP und Subjektivismus

  • Synthese aus HIP und Subjektivismus

    Paradoxerweise gibt es bei modernen Beethoven-Interpretationen eine Tendenz zur Zuspitzung, Rauheit, Beschleunigung. Seien es reine HIP-Interpretationen oder konventionelles Sinfonieorchester, das an den Früchten der historischen Informiertheit gekostet hat. Gardiner hat in der Bonus-CD seines Beethovenzyklus schön dargelegt, wie etwa in der Achten, der transparente Klang seines "Revolutionsorchesters" dem Revolutionär Beethoven entgegenkäme. Möglichst jedes Orchester, das heute Beethoven, Haydn, Mozart etc. spielt, versucht möglichst "transparent" zu spielen, viele Interpretationen werden als besonders "federnd", vielleicht "kantig", vielleicht "mit Spannkraft" etc etc gelobt. Man distanziert sich möglichst von "glatten" großorchestralen Interpretationen.

    Und jetzt zu dem eingangs genannten Paradoxon: Wenn doch die neue Interpretationstechnik so revolutionär aufgeraut, drahtig, scharf, schroff etc klingt: Warum werden dann eigentlich fast alle "hippen" Aufnahmen von Beethovens Neunter als zu schwachbrüstig, zu leicht, als Fehlinterpretation bemäkelt? Warum klingt dann der Kopfsatz der Eroica in modernen Interpretationen zwar oft transparent und sportlich und dauer-schroff aaaaaber: letztlich oft langweilig? Die ungeheuerlichen Ballungen schroffer Akkorde Beethovens? Die zwei Knaller-Akkorde zu Beginn!? Piff-Paff, jam da dam. Klingt halt so. Spielen wir sportlich wie ein Federballspiel. Man hört den Federball flitzen aber es kommt keiner ins Schwitzen. Keiner ringt mit den elementaren Urkräften. Es gibt HIP-Aufnahmen, die paradoxerweise von vorne bis hinten letztlich doch eher glatt klingen. Dem unvollendeten späten Harnoncourt-Beethoven-Zyklus wäre es zuzutrauen gewesen, den neueren Gardiner-Liveaufnahmen auch, aber wer knetet denn heute schon noch in den ungeheuerlichen Akkorden der Eroica-Durchführung wie ein Toscanini, Furtwängler oder Giulini? (Thielemann und Pletnjow versuchen es auf die altmodische Art, enttäuschen aber auch um so mehr). Gibt es die modernen Furtwänglers, die "historisch informiert" noch eine Eroica-Durchführung als elementaren Kampf mit subjektiven (verpönten) dirigentischen Stilmitteln aus Granit herausmeißeln? Oder habt ihr gar nicht den Eindruck, dass in modernen Beethoveninterpretationen ein Element oft fehlt?

    Ins Gebüsch verliert sich sein Pfad, hinter ihm schlagen die Sträuche zusammen.

  • Taruskin hat das schon vor fast 30 Jahren, als allerdings erst zwei oder drei "HIP"-Einspielungen vorlagen, festgestellt: "Resisting the Ninth" (Volltext findbar).

    Edit: Der Text ist auch in dem Sammelband "Text and Act" (Oxford 1995) mit weiteren (oft etwas zu polemischen) Texten Taruskins (fast immer über Aufführungspraxis) enthalten.

    Einiges davon vertieft noch die Einwände, die in dem Text zur 9. anklingen. Der generelle Vorwurf Taruskins an den größeren Teil der HIPisten der 1970er-90er ist, dass sie Bach zwar nicht "wie Brahms" spielen (so wie es Furtwängler oder Casals gemacht hatten), aber eben auch nicht unbedingt "wie Bach", sondern wie neoklassizistischen Stravinsky. Das ist natürlich überspitzt, aber man kann diese Entwicklung anhand Tendenzen im 20. Jhd. durchaus nachvollziehen. Einmal hat er z.B. einen längeren Vergleich von Bachs 5. Brandenburgischen Konzert. Da findet man um 1950 zwar noch vereinzelt "organische" (=perennial-romantische) Aufführungen (Fischer und Furtwängler), aber es dominieren schon die distanziert-trockenen.

    Diese Beobachtung traf damals aber auch schon nicht auch z.B. Harnoncourt zu, der bei dem besagten Bach-Vergleich die flexibelste und "romantischste" Interpretation seit Furtwängler lieferte.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Ich habe generell den Eindruck, daß dieser Vorwurf der Schwachbrünstigkeit usw. nur von denen stammt, die Toscanini, Furtwängler usw. im Ohr haben; dieses ausladene Element der Wucht und Intensität hat HIP eigentlich nie adaptiert. Hogwoods 9. ist Klanglichkeit und Eleganz, aber eben nicht elementar; hat übrigens nichts mit der Besetzung zu tun - wäre das entscheidend, wieso wirft man dann neueren Interpretationen auf modernen Instrumenten vor, sie seien schwachbrünstig?

    Der Punkt ist doch: sind die älteren Einspielungen eigentlich nicht zu forsch, zu wuchtig? Ist ein Furtwängler oder Bernstein nicht noch weiter von Beethoven entfernt?

    "Interpretation ist mein Gemüse." Hudebux

    "Derjenige, der zum ersten Mal anstatt eines Speeres ein Schimpfwort benutzte, war der Begründer der Zivilisation." Jean Paul

    "Manchmal sind drei Punkte auch nur einfach drei Punkte..." jd

  • Man wirft das vermutlich einigen Interpretationen auf modernen Instrumenten auch vor.
    Mal abgesehen von Details: Es ist kaum zu bestreiten, dass für viele HIP-Musiker (und auch Hörer) der letzten ca. 40-50 Jahre der "antiromantische" Gestus durchaus wichtig ist. Und zwar nicht nur als "soziologische" Absetzung vom Klassik-Establishment. Klar, das betrifft Stücke weniger, die vom üblichen Betrieb vor HIP mehr oder minder vernachlässigt wurden, aber es betrifft ganz sicher z.B. die Matthäuspassion und die Sinfonien Beethovens. Nun ist die 9. Sinfonie 1825 aber fraglos eines der monumentalsten Musikstücke überhaupt gewesen und sie ist bis heute eine der längsten und aufwendigsten Sinfonien (auch wenn in Umfang und Monumentalität von einigen Bruckners, Mahlers usw. inzwischen übertroffen). Auch wenn man Beethoven nicht einfach als Romantiker einordnen kann, ist sie jedenfalls auch ein "Gründungsdokument" der folgenden Romantik.

    Etwas vereinfacht lautet die Grundidee der historisierenden Aufführungspraxis (und Ende der 1980er wurde das tatsächlich nicht selten so geäußert, Taruskin hat entsprechende Belege), dass irgendwann im späteren 19. Jhd. nahezu alle vorhergehende Musik "wagnerisiert" oder "brahmsisiert" worden ist und dass man nun den Firnis von 150 oder mehr Jahren abkratzen muss. Das Problem, auf das Taruskin hinweist, ist, dass man in den (naturgemäß immer lückenhaften) Belegen und Berichten keinen Bruch findet, ab dem Beethoven oder auch Mozart "wagnerisiert" wurden. Und er macht geltend, dass andererseits die "HIP-Ästhetik" überraschend ähnlich den Vorstellungen Stravinskys einer möglichst "objektiven", "trockenen" Interpretation seiner neoklassizistischen Werke sind. Diese Stravinsky-Ästhetik wurde aber bewusst als "ideologischer" Gegensatz zur Spätromantik entwickelt. Die Romantik entwickelte sich u.a. als Reaktion von Beethovens 9. Wie plausibel ist es, dass für Beethovens 9. eine Stravinsky-Ästhetik historisch angemessen ist...? Oder andersrum: Wir wissen nicht genau, wie weit Furtwängler von Beethoven entfernt ist. Zumindest historisch ist aber die Aufführungspraxis von Musikern, die Ende des 19. Jhds. "sozialisiert" wurden, erst einmal näher an Beethoven dran als eine bewusst konträre Ästhetik eines Teils der neuen Musik der 1920er und 30er. Sicher hat sich zwischen 1825 und 1885 einiges getan und Beethovens Musik wurde vielleicht in manchen Aspekten "wagnerisiert". Aber es spricht sehr wenig dafür, dass die Ästhetik von 1925 (und die nach Taruskin davon beeinflusste HIP-Deutung ca. 1990) magischerweise näher an 1825 liegt als die Vorstellungen von 1885.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • und wer kann nun beweisen, dass toskanini/furtwängler näher am 1885-klang dran waren als gardiner und norrington?
    wenn gardiner die partituranweisungen von beethoven (und von brahms) befolgt und instrumente der zeit verwendet, warum ist das ergebnis dann "strawinsky-ästhetik"?
    die "sportlichen" tempi sind von beethoven, nicht von strawinsky oder gardiner.

    This play can only function if performed strictly as written and in accordance with its stage instructions, nothing added and nothing removed. (Samuel Beckett)
    playing in good Taste doth not confit of frequent Passages, but in expressing with Strength and Delicacy the Intention of the Composer (F. Geminiani)

  • Vielleicht ist auch ein Aspekt, dass die Musiker vor 200 Jahren im Durchschnitt einfach technisch weniger versiert waren als heutige Musiker. Die Paganini Capriccen bspw. muss eigentlich jeder Absolvent einer Musikhochschule spielen können. Das wäre zu Paganinis Lebzeiten ja völlig undenkbar gewesen. Dementsprechend müssen die Werke damals einfach rauer geklungen haben als unter Böhm und Karajan.

    Im Zweifelsfall immer Haydn.

  • Das wäre zu Paganinis Lebzeiten ja völlig undenkbar gewesen.

    Ist das zutreffend? War es nicht Paganini, der zweifelte, Locatelli spielen zu können?

    In mir geht die Idee um, dass Musiker heute universell perfekt sind, die damaligen aber spezifisch.
    Keine endgültige Aussage, denn zu Händels Zeiten griff der Trompeter zum Horn, der Oboist zur Blockflöte....wie selbstverständlich.

    Der Grundgedanke des Threads beschäftigt mich aber.
    Mich stört ja die "Stromlinienförmigkeit" Beethovens in Leibowitz' Aufnahme, lässt mich der Mitschnitt Scherchens von 65 aus Lugano auf der Stuhlkante sitzen.

    Gegen meine Überzeugung müsste Savall mit der "Eroica" mich langweilen- tut sie nicht, sie fesselt mich von vorn bis hinten.
    Brüggen nimmt die Metronomangaben weitaus weniger genau, seine "Eroica" dauert länger als 50 Minuten. Langweilig trotzdem nicht.

    Hörte zuletzt die Bremer mit Järvi von LP- hatte keinen Sex dabei, war aber nicht wirklich wach und begeistert.
    Mit Sex bei Beethoven, vielleicht besser?
    Hier nur wieder: versteht ein Dirigent das Maßlose dieser Musik, benötigt dazu aber nicht mehr als das Notierte, dann ist das Ergebnis so ständig überraschend wie bei Scherchen 65.
    Wie bei Savall, oder, etwas anders geartet voller Empathie wie bei Frans Brüggen.

    Herzliche Grüße,
    Mike

    "Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst." Voltaire

  • Mit Sex bei Beethoven, vielleicht besser?

    Na, da haben wir doch ein interessantes Thema für einen neuen Thread! Wir werden das zuhause jedenfalls schon mal ausprobieren...Man möge die Erotica spielen... :rolleyes:

    Der Threadtitel suggeriert ja, dass sich HIP und Subjektivismus gegenseitig ausschließen, zumindest aber Gegensätze bilden. Da habe ich schon meine Zweifel. Es gibt ja auch von HIP-Hohepriestern durchaus subjektivistisch geprägte Deutungen, gerade bei Beethoven - mir fielen da spontan Herreweghe, Hogwood oder die erwähnten Savall und Brüggen ein. Auch das Mozartspiel des Pianisten Kristian Bezuidenhout ist m.E. durchaus subjektivistisch.

    Ob man eine HIP-Interpretation als "schwachbrüstig" oder "leichtgewichtig" empfindet, hängt m.E, eher von der Qualität der Aufführung sowie von der eigenen allgemeinen Einstellung zur HIP ab. Unüberwindbare Widersprüche sehe ich nicht. Und bei "traditionellen" Aufführungen überkommen mich mindestens genau so häufig Zweifel, ob nicht hinsichtlich Pathos, Klangmasse und großorchestraler Wucht zu dick aufgetragen wird.

    Die Gesamtkonzeption einer Interpretation muss halt stimmig sein.

    Cheers,

    Lavine :wink:

    “I think God, in creating man, somewhat overestimated his ability."
    Oscar Wilde

  • Ich zitierte nur Frau Karoline Stöhr ("...hat sich geschickt aus der Atmosphäre gezogen") aus dem "Zauberberg" ;)

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