Thesen zur Rückschrittlichkeit der aktuellen Opernregie
1. These: Die Aufführung einer Oper ist ein Gesamtkunstwerk
Wagners Idee vom Musikdrama als Gesamtkunstwerk wird weithin operngeschichtlich als qualitativer Fortschritt verstanden. Dichtung, Musik und szenische Darstellung bilden danach eine untrennbare Einheit.
2. These: Opernregie und damit einhergehend Diskussionen zur Opernregie haben den Schritt zum Gesamtkunstwerk bisher nicht nachvollzogen.
Opernregie wie Diskussionen über sie bewegen sich typischerweise zwischen den Polen Werktreue und Regietheater. Bekanntermaßen möchte die eine Seite die Aufführung uraufführungsgebunden und im Rahmen des von Komponisten wie Librettisten Vorgegebenen erleben, dabei oft eine Aufführungstradition betonend, während die andere Seite die Herstellung eines aktuellen Zeit- und Gesellschaftsbezug als im eigentlichen Sinne werkgerecht versteht und auch Aufführungen, die persönliche Regieinterpretationen im Sinne von Werkbearbeitungen beinhalten, begrüßt.
Die Mittel der modernen Opernregie im Sinne des Regietheaters beschränken sich in der Regel auf die die szenische Darstellung. „Das sie Ort und Zeit des Librettos nicht buchstabengetreu umsetzen, ist ja so ziemlich die einzige Gemeinsamkeit“, heißt es insoweit treffend in einem aktuellen Thread; zu ergänzen wäre die Ausstattung. Vom begrifflichen Dreigestirn Dichtung, Musik und szenische Darstellung wird damit nur das letzte Drittel regiebearbeitet.
3. These: Weil Dichtung, Musik und szenische Darstellung eine untrennbare Einheit bilden, muss eine Opernregie, die das Untrennbare teilt, notwendig scheitern.
Ich bin nicht Wagnerianer genug, um diese Untrennbarkeit bzw. ihre argumentative Herleitung korrekt darzustellen, meine aber genug davon zu verstehen, um postulieren zu können, dass ein qualitativ hochwertiges Ganzes nur entstehen kann, wenn die Elemente der Oper aufeinander bezogen bleiben, weil die Teile nur so als Gesamtkunstwerk zusammenwirken können.
In der modernen Opernregie werden Dichtung und Musik einerseits und Opernregie andererseits notwendigerweise getrennt, weil sich die Aktualisierung der Oper typischerweise auf die szenische Darstellung beschränkt. Bei allem Bemühen um das Einfügen dieser Aktualisierung in Dichtung und Musik entsteht notwendigerweise ein Bruch, verliert die Aufführung ihren Charakter als Gesamtkunstwerk.
4. These: Der Einwand des Vorgegebenen - überzeugt nicht.
Das ewige Problem der Opernregie ist, dass die Musik vorgegeben ist und mit ihr auch weitestgehend das Libretto. Während es im Schauspiel alltäglich und weitestgehend anerkannt ist, das Original als Steinbruch zu verwenden, der neu zusammengesetzt werden kann, muss die Opernregie mit dem Vorgegebenen leben. Aufgabe der Opernregie muss es daher sein, den in der vorherigen These genannten Bruch weitestgehend zu vermeiden, indem eine Aktualisierung gefunden wird, die der Dichtung wie der Musik entspricht.
Muss es wirklich?
Beliebte Mittel, um dies zu erreichen sind neben der Verlagerung von Ort und Zeit sowie der ausgiebigen Verwendung von symbolischen Requisiten aller Art einschließlich der Ausstattung die Verwendung von Einlagen. Gemeint ist damit das Ausnutzen von Leerstellen bzw. von Pausen insbesondere vor und nach der eigentlichen Aufführung, zwischen den Akten und während der Ouvertüre, in denen szenische Ergänzungen pantomimisch oder immer häufiger videographisch dargestellt werden.
Meiner Meinung nach gehen diese Mittel bei Weitem nicht weit genug, handelt es sich bei ihnen allein um Behelfsmittel, die notwendig werden, weil die eigentliche Herausforderung der Regie nicht angenommen wird. Exemplarisch in die richtige Richtung weist für mich Konwitschny mit der berühmt-berüchtigten Einlage in den Meistersingern: "Sag mal Wolfgang, weißt du eigentlich, was du da singst?" (siehe z. B.: http://www.zeit.de/2002/46/Das_mu…_ausdiskutieren). Hier wird neben der Szene auch die Dichtung verändert und werden damit immerhin zwei Drittel des Weges beschritten.
5. These: Entsprechend der Gesamtkunstwerkkonzeption muss die Regie nicht nur die szenische Darstellung, sondern auch die
Dichtung und Musik verändern, um ein wirkliches Regie-Gesamtkunstwerk zu erschaffen.
Kunst darf alles. Regie ist Kunst. Wenn ein Regisseur daher das Projekt bzw. die künstlerische Idee verfolgt, auf der Basis des Steinbruchs einer bestimmten Oper ein neues Werk zu schaffen, kann ein wirkliches neues Regie-Gesamtkunstwerk nur erschaffen werden, wenn die Regie sich der Fesseln der Dichtung und der Musik entledigt, wenn sie also umdichtet, neu dichtet, um-musiziert und -komponiert oder mindestens neu zusammenstellt.
Dieser Herausforderung, dieser Überzeugung bin ich, muss die moderne Opernregie sich stellen. Ich hoffe weiterhin darauf, dass es geschieht.
6. These: Solches Musiktheater ist nicht unmöglich. Es existiert bereits, mindestens in Ansätzen .
Der Name David Marton fällt mir ein, wenn ich Beispiele geben soll. Ich kenne von ihm aus eigener Anschauung allein die im Hamburger Thalia Theater gegebene Krönung der Poppea. Ein wunderbares, äußerst gelungenes Potpourri aus diversen Stücken auf der Basis der Poppea. Musikalisch-theatralische Variationen nannte es seinerzeit das Hamburger Abendblatt. Das Publikum, mit und in ihm ich, war begeistert. (siehe hier: https://www.thalia-theater.de/de/extra/archi…nung-der-poppea)
Gruß, Thomas
(eine saubere Gestaltung von Absätzen kriege ich mit dem Editor leider nicht hin)