Thesen zur Rückschrittlichkeit der aktuellen Opernregie

  • Wenn ich ins Theater oder in die Oper gehe und gerade keine Uraufführung läuft, dann sehe ich dort Kunstwerke aus einer vergangenen Zeit

    Du siehst im Theater eine Aufführung einer vergangenen Zeit? Das interessiert mich: Erzähl doch mal, wie es so war in vergangenen Zeiten! Und im welchem Theater man dieses Wunder eines Zeitsprungs erleben kann.

    Christian

  • Wunder eines Zeitsprungs

    na ja, von solchen Zeitsprungwundern leben wir. Gegenwart pur ohne in ihr enthaltene Vergangenheit wäre völlig leer.

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    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Streiten wir hier grad um Kaisers Bart?

    Letzten Samstag war ich in Heidelberg im Theater. Es gab den Sommernachtstraum von Shakespeare. (War großartig, aber das nur nebenbei.)

    Zwei kühne Thesen hierzu:

    1) Ich habe die Aufführung eines Stücks erlebt, das "aus einer anderen Zeit" stammt, nämlich um 1600.
    2) Die Aufführung fand "in unserer Zeit" statt, nämlich vor ein paar Tagen.

    Große Kunst habe ich in zweierlei Hinsicht erlebt, einmal das beeindruckende Werk eines Dichters, der das vor ca. 420 Jahren geschaffen hat, dann das beeindruckende Werk der Mitglieder eines Theaterensembles (nicht zu vergessen all die, die sonst noch mitgewirkt haben, Technik usw.), die das 2017 geschaffen haben.

    Erlebt habe ich aber nicht zwei Werke, sondern ein Werk.

    Komisch, wa'?

    :wink:

    PS: Oder waren's drei Werke? Denn Pyramus und Thisbe gab's auch noch, wurde an Ort und Stelle gedichtet(?), einstudiert und aufgeführt.

    Es grüßt Gurnemanz

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    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Wie man immer wieder sieht, geht es nicht im des Kaisers Bart. Es geht um nicht weniger als um die Frage, was Theater ist, und von diesem Punkt ausgehend, um die Frage, ob es eine Pflicht zur Treue irgendeinem Werk gegenüber geht.

    Da das Theaterkunstwerk andere Werke in sich aufnehmen kann (aber keineswegs auf die angewiesen ist), kann es tatsächlich sein, dass man mehrere Werke simultan rezipiert, die gemeinsam ein weiteres, eben das Theaterkunstwerk bilden. Allerdings geschieht das nur dann, wenn die Ebenen nicht verschmelzen und zu dem werden, was unter Opernfreunden gern als »Gesamtkunstwerk« bezeichnet wird. Aber wie genau die Struktur des Theaterkunstwerks beschaffen ist, ist eine Frage des Stils und ggf. der künstlerischen Entscheidungen. Letztendlich sieht man selbst im Falle der strikten Anwendung der Verschmelzungsästhetik mehrere Werke, nur eben in einem Kuddelmuddel, in dem kein Einzelnes mehr zu erkennen ist.

    Es geht nicht um des Kaisers Bart, denn es ist von grundlegender Bedeutung, ob ich das Theater zur Reproduktion von etwas schon Vorhandenem verpflichte (was nebenbei nicht geht, denn das schon Vorhandene müsste Theater sein, damit das Theater es reproduzieren kann, eine Dichtung oder eine Komposition ist aber kein Theater), oder ob es als Kunst betrachtet wird, die eigenständige Kunstwerke hervorbringt. (In Wahrheit wird das Theater übrigens in Diskussionen wie ein Dienstleister betrachtet, der gefälligst zu liefern hat, was man gewünscht hat. Daher das Überwiegen von absolut gesetzten Geschmacksurteilen und die damit einhergehende immer wieder auftauchende Behauptung, der eigene Geschmack sei der der Mehrheit – was, nebenbei bemerkt, auch gar kein Argument für die Gültigkeit eines auf ihm beruhenden Urteils ist. Man denke an die Fliegen...)

  • Es geht um nicht weniger als um die Frage, was Theater ist, und von diesem Punkt ausgehend, um die Frage, ob es eine Pflicht zur Treue irgendeinem Werk gegenüber geht.

    wenn ich den Fadenersteller recht verstanden habe, hat er versucht, diese Fragestellung mal zu verändern, und er hat vertreten, daß die "Untreue" dem Werk gegenüber beim RT halbherzig ist únd nicht weit genug geht.

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    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


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    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Wie man immer wieder sieht, geht es nicht im des Kaisers Bart. Es geht um nicht weniger als um die Frage, was Theater ist, und von diesem Punkt ausgehend, um die Frage, ob es eine Pflicht zur Treue irgendeinem Werk gegenüber geht.


    Die Diskussion darüber, was den nun das Werk ist, gab es hier schon verschiedenerorts, z. B. hier.

    Ich zitiere daraus mal:

    Ein Werk kann nicht identisch mit einer Partitur sein, denn ein erklingendes Musikstück hat völlig andere Eigenschaften als eine Partitur (zB eine zeitliche Ausdehnung, besteht nicht aus Papier und Druckerschwärze usw.).
    Abgesehen davon gab und gibt es natürlich unzählige Musikwerke, zu denen keine schriftlichen Aufzeichnungen vorliegen.

    Im Thread weitere Verlinkungen und Bemühungen, das Thema begrifflich zu fassen.

    Gruß
    MB

    :wink:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Es geht nicht um des Kaisers Bart, denn es ist von grundlegender Bedeutung, ob ich das Theater zur Reproduktion von etwas schon Vorhandenem verpflichte [...], oder ob es als Kunst betrachtet wird, die eigenständige Kunstwerke hervorbringt.

    Mit der Alternative bin ich nicht einverstanden: Theater ist nach meinem Verständnis beides: sowohl Reproduktion von Vorhandem also auch Produktion von Neuem. Beides gegeneinander auszuspielen, indem man behauptet, nur eines davon gelte, habe ich als "Streit um des Kaisers Bart" bezeichnet.

    Von einem "Gesamtkunstwerk" oder gar einem "Kuddelmuddel" würde ich nicht sprechen, denn ich kann Dichtung und Aufführung nach wie vor unterscheiden. Sie sind eben beides: eins und zwei. Auch wenn Anhänger formaler Logik hier die Stirne runzeln mögen, aber auf deren Reduktion von Realität mag ich mich hier nicht einlassen.

    Analoges gilt m. E. für die Aufführung musikalischer Werke, z. B. in Konzerten.

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

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    Helmut Lachenmann

  • Das Theater kann verwenden, was es will und für angemessen erachtet. Alte Musik, neue Musik, gar keine Musik, es ist egal. Es ist nie dazu da, irgendetwas Altes auszuführen.


    tut es aber, wenn es sich Wagner Rheingold vorknöpft.

    Theater ist kein Museum, sonst hieße es ja »Museum« und nicht »Theater«.


    ich schlage mal den Begriff "Museumstheater" vor. Gegenbegriff wäre "avantgardistisches Theater", und sog. "Regietheater" wäre so ein lausiger Zwitter.

    als ich in einem Museum für antike Kunst als Mensch von heute unterwegs bin und nicht als Mensch der Antike. Ich sehe also diese Kunstwerke mit den Augen eines Menschen von heute und kann gar nicht anders, das heißt ich sehe nicht, was die Zeitgenossen des Künstlers gesehen haben


    genau, und so wie ich als moderner Mensch dennoch mit Gewinn in einem Antikenmuseum unterwegs bin, kann ich mir auch als moderner Mensch eine museumstheatralische Aufführung mit Gewinn zu Gemüte führen.

    denn eine heutige originalgetreue Rekonstruktion einer Aufführung von 1876 (die ganz und gar unmöglich ist), würde sehr alt und sehr veraltet aussehen


    in gewisser Weise ja, es geht aber darum, diese alten Werke als alte zu rezipieren, weil es eben alte Werke sind und dieser Sachverhalt auf keine Weise ausgelöscht werden kann. OK, jetzt kommt das Argument mit der Gegenwärtigkeit des Theaterkunstwerkes, daß ein anderes (u.U. "altes") Kunstwerke verwenden kann, aber gegenwärtig bleibt. Ich behaupte, beim musiktheatralischen Werk zumindest geht das nicht, denn "Musik gewinnt immer", d.h. die Musik geht niemals so in etwas anderem auf, daß z.B. ihre Eigenschaft alt zu sein ausgelöscht wäre, d.h. wenn die Musik alt ist, dann ist das Gamze alt, da hilft nichts.

    Allerdings muß man hier erwähnen, daß sich bei alten Sachen (insbesondere Musik) etwas Wunderbares begeben kann, nämlich daß diese Musik quasi ihren eigenen Zuhörer mitbringt, und daß ich in dem Augenblick, in dem ich alte Musik höre, ich ungeachtet dessen, daß ich moderner Mensch bin und bleibe, doch zugleich in gewissem (und veränderlichen) Maße quasi Mensch der Vergangenheit werde.

    Zitat

    wäre also von dem, was diese Aufführung damals war, nämlich avantgardistisches Theater Lichtjahre entfernt.


    klar, und wenn man avantgardistisches Theater will, muß man avantgardistisches Theater machen. Und das geht nicht, wenn man dazu einen Wagnerschinken heranzieht, sondern da muß man selber ran.

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    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


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    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Mit der Alternative bin ich nicht einverstanden: Theater ist nach meinem Verständnis beides: sowohl Reproduktion von Vorhandem also auch Produktion von Neuem. Beides gegeneinander auszuspielen, indem man behauptet, nur eines davon gelte, habe ich als "Streit um des Kaisers Bart" bezeichnet.

    Das verstehe ich nicht. Was soll das sein, was da reproduziert wird? Eine Reproduktion von irgendetwas setzt zweierlei voraus: Das Reproduzierte muss vorhanden sein, und die Reproduktion muss von gleicher Art wie das Repdoduzierte sein. Da Theater nicht vorhanden ist, wenn die Vorstellung beendet ist, ist die erste Voraussetzung nicht gegeben. Theater kann aber auch nicht die Reproduktion der Dichtung sein, weil die Reproduktion der Dichtung eine Dichtung wäre und kein Theater. Darüber hinaus kann es nicht grundlegend zum Theater gehören, das es Werke reproduziert, weil es sonst ohne solche Werke nicht existieren könnte, was offensichtlich der Fall ist.

  • [...] wenn man avantgardistisches Theater will, muß man avantgardistisches Theater machen. Und das geht nicht, wenn man dazu einen Wagnerschinken heranzieht, sondern da muß man selber ran.

    Es gibt aber jede Menge Beispiele für "avantgardistisches Theater" (was genau das sein soll, wäre noch zu klären, aber ich lasse das mal hier beiseite), das "Wagnerschinken heranzieht", sprich: Aufführungen von Wagner-Opern (zahlreiche Besprechungen von solchen findest Du in Capriccio ohne größere Suchaktion). Also geht das doch, wovon Du behauptest, das ginge nicht.

    Abgesehen davon: Den Begriff "Museumstheater" finde ich einfach nur dämlich - tut mir leid, wenn ich das so drastisch sage. Argonaut hat schlicht recht, wenn er feststellt, daß Theater Theater ist und kein Museum. Umgekehrt gilt das natürlich auch.

    Aber klar: Es ist möglich, in Museen Theateraufführungen zu veranstalten und im Theater Museumsausstellungen abzuhalten. Auch gibt es immerhin Theatermuseen. Aber auch das sind Museen und keine Theater.

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

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    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • genau, und so wie ich als moderner Mensch dennoch mit Gewinn in einem Antikenmuseum unterwegs bin, kann ich mir auch als moderner Mensch eine museumstheatralische Aufführung mit Gewinn zu Gemüte führen.

    Niemand bezweifelt, dass sich das Theater überholter künstlerischer Mittel bedienen kann. Aber dann ist es trotzdem gegenwärtiges Theater und eben kein altes. Also modernes Theater, was sich der Mittel einer anderen Zeit bedient. Etwa wie sich Strawinsky in einigen Werken der Mittel der Barockmusik bedient, ohne deshalb aber Barockmusik zu schreiben. Das Erwünschte, nämlich eine Aufführung, die nicht aus unserer Zeit ist, wird man nicht erreichen (abgesehen von der Frage, wie sinnvoll das wäre). Noch einmal zum Unterschied von Theater und Museum: Im Museum betrachte ich Werke einer vergangenen Zeit, die von Künstlern hergestellt wurden, die sich der künstlerischen Mittel ihrer Zeit bedienten. Was die Vertreter der »Werktreue« sich wünschen, ist eine zeitgenössische Kunst, die sich der Mittel einer vergangenen Zeit bedient. Das ist also kein Museum. Es kann kein Theatermuseum im eigentlichen Sinne geben, weil Theater per definitionem immer gegenwärtig ist. (Darum werden in einem Theatermuseum auch keine alten Aufführungen gezeigt, sondern Gegenstände, die eine Ahnung davon geben, wie das gewesen sein könnte, die aber kein Theater sind. Die Bezeichnung ist deshalb etwas irreführen.)

    in gewisser Weise ja, es geht aber darum, diese alten Werke als alte zu rezipieren, weil es eben alte Werke sind und dieser Sachverhalt auf keine Weise ausgelöscht werden kann. OK, jetzt kommt das Argument mit der Gegenwärtigkeit des Theaterkunstwerkes, daß ein anderes (u.U. "altes") Kunstwerke verwenden kann, aber gegenwärtig bleibt. Ich behaupte, beim musiktheatralischen Werk zumindest geht das nicht, denn "Musik gewinnt immer", d.h. die Musik geht niemals so in etwas anderem auf, daß z.B. ihre Eigenschaft alt zu sein ausgelöscht wäre, d.h. wenn die Musik alt ist, dann ist das Gamze alt, da hilft nichts.

    Wenn es Dich nicht langweilt, wenn ich immer dasselbe schreibe (vermutlich nicht, weil Du es ja nicht liest), mich langweilt es. Darum lasse ich es, bis Du Dich herbeilässt, auf meine Argumente einzugehen.

  • Das verstehe ich nicht. Was soll das sein, was da reproduziert wird? Eine Reproduktion von irgendetwas setzt zweierlei voraus: Das Reproduzierte muss vorhanden sein, und die Reproduktion muss von gleicher Art wie das Repdoduzierte sein. Da Theater nicht vorhanden ist, wenn die Vorstellung beendet ist, ist die erste Voraussetzung nicht gegeben. Theater kann aber auch nicht die Reproduktion der Dichtung sein, weil die Reproduktion der Dichtung eine Dichtung wäre und kein Theater. Darüber hinaus kann es nicht grundlegend zum Theater gehören, das es Werke reproduziert, weil es sonst ohne solche Werke nicht existieren könnte, was offensichtlich der Fall ist.

    Vielleicht wäre "Realisierung" ein treffender Ausdruck als "Reproduktion"? Das Theaterstück (z. B. der Sommernachtstraum) existiert schließlich bereits (hier: seit über 400 Jahren), unabhängig davon, ob es heute aufgeführt wird oder nicht. Wer mag, kann sich den Text des Dramas vornehmen und ihn lesen.

    Ein Theater, das sich dieses Stücks annimmt und auf die Bühne bringt, "reproduziert" bzw. besser "realisiert" es damit, womit wieder ein eigenes Werk entsteht. Nennen wir es einfach: Shakespeares Sommernachtstraum am Theater Heidelberg, Regie: Holger Schultze. Oder so, wie das Theater es selbst anpreist:

    Zitat von Theater Heidelberg

    Mit Ein Sommernachtstraum (A Midsummer Nightʼs Dream, 1595) inszeniert Holger Schultze die berühmteste, motivreichste, zauberhafteste Komödie aus dem großen Shakespeare-Kosmos.

    Dieser Satz ist doch eigentlich völlig klar und verständlich, oder nicht?

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

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    Helmut Lachenmann

  • Ich halte das nicht für eine gute Idee. Das Werk Shakespeares ist eine Dichtung. Die muss nicht realisiert werden. Das Werk ist ja schon da und also wirklich (jedenfalls in dem Maße, in dem überhaupt irgendetwas wirklich ist). Und wie soll es aussehen, wenn eine Dichtung verwirklicht wird? Inwiefern ist dann das Theater die wirkliche Wirklichkeit der Dichtung? Und wenn Theater die Verwirklichung von Dichtungen (oder Kompositionen) ist, wie kann es dann ohne eine zu verwirklichende Dichtung existieren, was ja ganz offensichtlich der Fall ist?
    Es lässt sich nicht ändern: Dichtung oder Musik und Theater sind verschiedene Künste. Eine Dichtung ist kein Theater, Theater ist keine Dichtung. Es führt auch kein Weg vom einen zum anderen, so wenig ein Gemälde Musik werden kann, auch wenn man Musik (oder ein Gedicht) schreiben kann, das von einem Gemälde inspiriert ist und dieses in gewissem Sinne zum Gegenstand hat. Regers sinfonische Dichtung nach Böcklins »Toteninsel« ist dennoch nicht Böcklins »Toteninsel«, und die »Toteninsel« ist auch keine Musik, sie wird auch durch Reger nicht »verwirklicht«. Es handelt sich um zwei verschiedene Kunstwerke. Wobei das Theaterkunstwerk die Eigenschaft hat, andere Kunstwerke in sich aufnehmen zu können (obwohl es auch ohne sie auskommen kann). Das ändert nichts daran, dass es andere sind, die aus anderen Gattungen stammen.

  • In Eile grad nur soviel:

    Inwiefern ist dann das Theater die wirkliche Wirklichkeit der Dichtung?

    Insofern, als das von Shakespeare verfaßte Theaterstück zweifellos darauf zielt, auf der Bühne aufgeführt zu werden. Das hat es mit Musikstücken gemeinsam, auch die wollen gespielt sein, das ist ihr Zweck; sie werden damit "wirklich", d. h., sinnlich wahrnehmbar.

    Und wenn Theater die Verwirklichung von Dichtungen (oder Kompositionen) ist, wie kann es dann ohne eine zu verwirklichende Dichtung existieren, was ja ganz offensichtlich der Fall ist?

    Natürlich geht Theater auch ohne vorgegebene Dichtungen/Kompositionen, z. B. Stegreiftheater und alles, was auf Improvisation fußt. Ich nehme an, Du könntest leicht Beispiele von Theateraufführungen geben, die ohne aufgeschriebenen Text auskommen. Mir fällt noch Kabarett ein (obwohl auch hier normalerweise Texte vorher verfaßt werden, z. B. von den Darstellern selber).

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

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    Helmut Lachenmann

  • Den Begriff "Museumstheater" finde ich einfach nur dämlich - tut mir leid, wenn ich das so drastisch sage


    danke, das ermutigt mich, den Begriff zu verwenden - bei klugen Begriffen bin ich leicht etwas zaghaft, weil ich fürchte, der paßt dann nicht zu mir ... ;)

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    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


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    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • [...] bei klugen Begriffen bin ich leicht etwas zaghaft, weil ich fürchte, der paßt dann nicht zu mir ... ;)

    Wir könnten uns freilich darauf verständigen, hier nur noch dummes Zeug zu schreiben (sofern nicht schon geschehen).

    :D

    Es grüßt Gurnemanz

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    Helmut Lachenmann

  • Insofern, als das von Shakespeare verfaßte Theaterstück zweifellos darauf zielt, auf der Bühne aufgeführt zu werden. Das hat es mit Musikstücken gemeinsam, auch die wollen gespielt sein, das ist ihr Zweck; sie werden damit "wirklich", d. h., sinnlich wahrnehmbar.

    Ich glaube nicht, dass das stimmt. Ein Drama von Shakespeare oder sonstwem ist eine Dichtung, die man lesen kann. Und wenn ich sie lese, nehme ich sie sinnlich wahr (wie denn sonst). Das Theaterkunstwerk aber ist nicht von Shakespeare, war es auch nicht zur Zeit, als er seine Stücke vermutlich selbst in Szene gesetzt hat, weil ein Theaterkunstwerk so gut wie immer – außer in dem extrem seltenen Fall eines Einpersonenstücks, das vom Darsteller allein und ohne jede Hilfe ausgearbeitet wird – eine Gemeinschaftsarbeit. Und heute ist Shakespeare schon gar nicht mehr der Autor des Theaterkunstwerks, weil er dafür leben müsste. Er ist der Dichter, und eine Dichtung ist kein Theater. Vielmehr kann das Theater (muss aber nicht) auch Dichtungen in sich aufnehmen. Es ist aber – ich wiederhole mich – nicht die Umsetzung der Dichtung, sonst könnte es ohne eine Dichtung, die es umsetzt, nicht existieren. Was aber ganz ohne Zweifel möglich ist. Wenn man den Blick aus den »fensterlosen Häusern«, wie Brecht die Theater genannt hat, herausgleiten lässt und mal in die Welt schaut, wird man schnell sehen, dass der absolut überwiegende Teil theatralischer Ereignisse ganz und gar ohne Dichtung auskommt und ein weiterer großer Teil keine bereits vorhandene Dichtung verwendet. Man sieht dann schnell, dass der Fall, den wir hier diskutieren, ein sehr seltener Ausnahmefall ist. (Nebenbei: Nicht einmal das Theater der Antike oder das der Shakespeare-Zeit verstand sich als Umsetzung einer Dichtung, wenngleich der dichterische Wert der Dramen schon seinerzeit sehr geschätzt wurde.)

  • Insofern, als das von Shakespeare verfaßte Theaterstück zweifellos darauf zielt, auf der Bühne aufgeführt zu werden. Das hat es mit Musikstücken gemeinsam, auch die wollen gespielt sein, das ist ihr Zweck; sie werden damit "wirklich", d. h., sinnlich wahrnehmbar.


    Obacht: Musik und Drama sind hier zwei sehr verschiedene Disziplinen! Das Drama kann als solches gelesen und als literarisches Werk (!) ästhetisch rezipiert werden. Ich kann mit Gewinn den "Faust" lesen, ohne auf eine Aufführung angewiesen zu sein. Ich kann ja auch einen Roman lesen und damit eine ästhetische Erfahrung eingehen, ohne auf eine Aufführung oder Verfilmung des Romans angewiesen zu sein. Dementsprechend sind einige Dramen dann auch so beschaffen, dass sie ohne Eingriffe z. B. aufgrund ihrer Länge kaum für eine Aufführung taugen würden.

    Bei der Musik ist das anders. Natürlich kann ich Partituren studieren, aber dies bleibt natürlich ein Studium und stellt keine ästhetische Erfahrung dar. Die ästhetische Erfahrung erfolgt erst in dem Moment, wo jemand die Musik spielt und damit zur Aufführung bringt.

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Ich bin nicht überzeugt, dass man das so sagen kann. Um ein Drama mit Gewinn lesen zu können, muss ich zunächst einmal kein Analphabet sein und außerdem über gewisse technische Kenntnisse verfügen, die für das sinnvolle Lesen eines Dramas (im Unterschied zu einem Gedicht oder einem Roman, die andere Techniken erfordern) erforderlich sind. Das ist beim Lesen einer Partitur nicht anders: Ich muss Noten lesen können und die Technik beherrschen, die für das Lesen einer Partitur nötig ist. Ich sehe da zwar einen quantitativen, aber keinen qualitativen Unterschied. Tatsächlich kann das Lesen einer Partitur, dem der es kann, durchaus einen großen ästhetischen Genuss bereiten, der so manches Mal den beim Hören einer Aufführung übersteigt.
    (Bis hierher geht es, weiter möchte ich mich bei dem Thema nicht wagen, hier beginnt für den Theaterwissenschaftler das dünne Eis. Ob sich die Partitur zur Aufführung verhält wie das Drama zum Theater, ist eine Frage, die ich nicht beantworten kann – und will, weil ich es vorziehe, mich zu Dingen zu äußern, von denen ich etwas verstehe, zu solchen aber, von denen ich wenig oder nichts verstehe, zu schweigen.)

  • Tatsächlich kann das Lesen einer Partitur, dem der es kann, durchaus einen großen ästhetischen Genuss bereiten, der so manches Mal den beim Hören einer Aufführung übersteigt.

    Da gibt es mindestens einen bekannten Fall: Johannes Brahms war der festen Auffassung, den Don Giovanni Mozarts könne man sich bestmöglich nur durch den Lesen der Partitur erschließen. Keine Aufführung könne solchen Genuss verschaffen. - Bis er eine Aufführung unter Gustav Mahler erlebte.

    Aber: Argonaut hat Recht - genauso, wie man sich viele Aspekte eines Schauspiels durch bloßes Lesen erschließen kann, genauso kann man dies (grundsätzlich) bei einer Oper. Lediglich einer Frage der Fertigkeit des "Lesens".

    (Ob eine gute Wiedergabe des Schauspiels oder der Oper mir vielleicht Aspekte nahebringt, die ich aus mir selbst nicht wahrgenommen habe, steht freilich auf einem anderen Blatt.)

    Gruß
    MB

    :wink:

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