Hermann Scherchen- der "Wüstling"

  • Hermann Scherchen- der "Wüstling"

    Da es zu ihm noch keinen Thread gibt, möchte ich gern einen eröffnen.
    Dazu muss ich nicht nacherzählen, was in Wikipedia doch recht erschöpfend nachzulesen ist:
    https://de.wikipedia.org/wiki/Hermann_Scherchen

    Worauf dort nicht eingegangen wird, sind seine Interpretationen.
    Scherchen befasste sich mit Musik aus alles Epochen, im Repertoire fehlt weder Gabrieli noch Purcell im Bereich der "Alten Musik", besonders am Herzen aber lag ihm die sogenannte "Neue Musik". So hat er zahllose Werke aus der Taufe gehoben von Komponisten wie Xenakis, Henze etc., auch darüber kann man in Wiki nachlesen.

    Nur nicht darüber, wie er es tat.
    Reagierte ein Publikum ablehnend, meinte er, es sei die Musik nicht verstanden worden, also müsse man sie nochmals spielen.

    Bekannt, zumindest der Mythos, ist sein Beethoven- Zyklus aus Lugano aus dem Jahre 1965. Der harrt noch immer einer Wiederveröffentlichung.
    Kaum sonst kann man Scherchens Leistung besser festmachen: Metronomangaben werden sehr genau beachtet, doch nie stoisch "maschinell", immer mit Leben erfüllt. Das unterscheidet seine Lesart von der Leibowitz'.
    Musik muss an die Substanz gehen bei ihm, alles andere ist falsch.
    Und jeder der Beethoven- Sinfonien stellte er in Lugano '65 ein Werk gegenüber der "Neuen Musik", was leider untergeht, kapriziert man sich auf seine Beethoven- Lesart.

    So musiziert er auch die durchaus anfechtbaren Aufnahmen der Haydn- Sinfonien, in denen er vorwegnimmt, was Harnoncourt später wortreich versucht: Haydn als Neutöner, der von CPE Bach beeinflusst, eine Musik schafft, die in Beethoven fortgesetzt, aber nicht revolutioniert wird.

    Scherchens Mahler aber ist eine eigene Sache.
    Vieles ist immer "zu" schnell oder zu" langsam um dem heute tradierten Geschmack zu genügen, er liest Mahler eigentlich stets aus Sicht der Neuen Musik. Damit verstörend, Dissonanzen hervorhebend, "Kuschelklänge" sind nicht in seinem Repertoire.
    Er forciert oder dehnt unendlich, man muss dem folgen wollen.
    Für mich aber gesprochen: so unmittelbar, auch hässlich, dafür direkt und anspringend habe ich Mahlers Sinfonien nie sonst gehört. Gegenentwurf zu Bernsteins menschelnder Art.

    Scherchens Repertoire umfasst aber weitaus mehr, sein Berlioz ist hörenswert, weil er auch hier "ans Eingemachte" geht, viel weiter als Monteux oder Ansermet.
    Immer ist das "Seelenmusik", nicht nur ein Bild davon. Sein Haydn ausbrechend aus der Tradition des dienenden Hofcompositeurs.

    Mir erschloss Scherchen Malipiero und Dallapiccola als wirklich hörenswerte, auch "schöne" Musik. Keine Angst vor neuen Klängen, das habe ich an seinen Aufnahmen und Mitschnitten gelernt.

    Scherchen hat mich sehr geprägt, vor allem im Offensein für Fremdes, Neues.
    Welch anderen Respekt kann ich noch ausdrücken?

    Herzliche Grüße,
    Mike

    "Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst." Voltaire

  • Vielen Dank, lieber Hempel, für Deine schöne Vorstellung eines bedeutenden Dirigenten, dessen Arbeiten es sicher verdient haben, näher beachtet und gewürdigt zu werden!

    Vor Jahren gab es eine Zeit, in der ich ein begeisterter Scherchen-Fan war und viele seiner Aufnahmen erworben habe. Daß er momentan nicht mehr so sehr in meinem Focus steht, ist nicht das Ergebnis nachlassender Wertschätzung, sondern liegt schlicht daran, daß andere Themen sich in den Vordergrund gespielt haben.

    Seine Art der Interpretation könnte man vielleicht als "rasiermesserscharf" bezeichnen; er hat oft versucht, das Extreme aus den Partituren herauszulesen, sei es, daß er extrem schnell, sei es, daß er extrem langsam spielen ließ, bei Mahler (wie von Dir erwähnt) und auch z. B. bei Haydn und Bach.

    Ein Beispiel, das Scherchen nicht nur als Dirigenten, sondern auch als Bearbeiter zeigt:

    Bachs Kunst der Fuge für Orchester bearbeitet. Schroff, deutlich, spannend - und sehr, sehr streng: J. S. Bach als gnadenlos unerbittlicher Übervater! Scherchens eigene Fassung, die keinen Wert auf Schönklang legt und ganz darauf setzt, in unterschiedlichen instrumentalen Kombinationen (Bläser, Streicher, einzeln, zusammen, auch Cembalo solo) das kontrapunktische Geflecht bloßzulegen. Dabei leidenschaftlich, packend, niemals kalt. Sehr eindrucksvoll!

    Demnächst gern mehr, wenn es sich ergibt.

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Ich habe einige Scherchen - Schätze in meinen Beständen, u.a. den ganzen Lugano Beethoven, die DG Haydn Box, Berlioz' Requiem, Mahler, ... Aber den nachhaltigsten Eindruck hat auf mich der Mitschnitt der Probe zur 5. Sinfonie Beethovens gemacht. Ein langer Monolog über Beethoven und deutsche Kultur in italienischer Sprache am Anfang, danach wird die Sinfonie durchgespielt und Scherchen brüllt (ein anderes Wort wäre nicht treffend) seine Anweisungen ("non ritardando") ins laut spielende Orchester.

  • Ich möchte auf die leider noch in Mono eingespielten Werke von Max Reger hinweisen, die er exzellent eingespielt hat und von CPO veröffentlicht worden sind. Sie sind bei JPC günstig zu erwerben.

    Sonst habe ich mit Scherchen wenig am Hut. Ich komme mit seiner Lesart nicht zurecht.

    Viele Grüße sendet Maurice

    Musik bedeutet, jemandem seine Geschichte zu erzählen und ist etwas ganz Persönliches. Daher ist es auch so schwierig, sie zu reproduzieren. Niemand kann ihr am Ende näher stehen als derjenige, der/die sie komponiert hat. Alle, die nach dem Komponisten kommen, können sie nur noch in verfälschter Form darbieten, denn sie erzählen am Ende wiederum ihre eigene Geschichte der Geschichte. (ist von mir)

  • Ich würde ihn nicht als Wüstling bezeichnen wollen, eher als Berserker.

    Sein Einsatz für die Moderne ist legendär, auch seine Eitelkeit und Bedeutungshuberei (siehe Canetti. Das Augenspiel Seite 44ff)

    Das ändert aber nix daran, dass er viele verzopfte Klassiker mit frischer Luft erfüllte, eben Haydn, Bach und auch Beethoven.
    Ich schätze seine Interpretation von Haydn 88 weit mehr als als die von Furtwängler.

    Dass er Abseitiges nicht liegen lies, Gliere, ist ebenfalls bemerkenswert. Außerdem hatte er großen Anteil an dem Westminster Katalog der 50iger Jahre.

    Sein Mahler ist seltsam schwankend. Man vergleiche mal die drei verfügbaren Aufnahmen der 7.: 1950 live, 1953 Studio und 1965 Live. Die Studioaufnahme ist so wie es von Gielen quasi später "nachgespielt" wurde, die beiden anderen fallen aus dem Rahmen, die Aufnahme aus Toronto hat zudem eine Portion Wahnsinn getankt.

    Sein Beethoven aus Lugano erscheint viel "moderner" vom Zuschnitt als vieles, das wir heute hören (müssen), ist es aber dann leider doch nicht, denn Scherchen leistet sich die eine oder andere Freiheit, die die Sache zwar erst spannend macht, die man heute aber nicht mehr torerieren dürfte.
    Witzig, dass er sich zeitlebens als Kommunist betrachtete und vor dem Orchester den "großen Diktator" spielte.
    Naja, so war er eben.
    Gruß aus Kiel

    "Mann, Mann, Mann, hier ist was los!"

    (Schäffer)

  • vielleicht...

    ...als Ergänzung
    Walldorff`s Kalenderblätter - edited

    >hatte in der Vergangenheit ab und an ein Problem mit dieser Art Eigenwerbung ... aber warum eigtl. :) .. steckt schließl. ne Menge Arbeit drin!<

    :wink:

    Das TV gibt mehr 'Unterhaltung' aus, als es hat - in der bürgerl. Gesetzgebung nennt man das 'betrügerischen Bankrott' Werner Schneyder Es ging aus heiterem Himmel um Irgendwas. Ich passte da nicht rein. Die anderen aber auch nicht. FiDi über die Teilnahme an seiner ersten (und letzten) Talkshow

  • Brüder, zur Sonne, zur Freiheit

    1917 lernte Hermann Scherchen in russischer Gefangenschaft das dortige Arbeiterlied "Smelo, towarischtschi, w nogu" kennen, von dem er eine deutschsprachige Fasung anfertigte, die 1920 in Berlin das erstemal aufgeführt wurde. Scherchen zeichnete sich dabei auch für den Text verantwortlich.

    //http://www.youtube.com/watch?v=sJ4ZKzO4YJA

    Spartacus

    Für Monika

  • Was mich immer schon gewundert hat , ist das Nichtvorhandensein eines Shostakovich-Werks in Scherchens Diskographie . Wenn ich es recht erinnere, war er früh auf Shostakovich aufmerksam geworden . Ich wüßte aber nicht, irgendwo gelesen zu haben, daß er etwas von ihm dirigierte . Obschon er doch sonst so ziemlich alles probierte, was manchmal (?) ziemlich daneben ging, wie z.B. Bruckners Zweite. ( Da steht er neben Toscanini , während Erich Kleiber und Fritz Busch lieber den Stab vom Prof.Dr.h.c.Anton Bruckner ließen ) . Hat jemand gesicherte Erkenntnisse ?

    Good taste is timeless "Ach, ewig währt so lang " "But I am good. What the hell has gone wrong?" A thing of beauty is a joy forever.

  • Sah gerade meine Scherchen- Discographie durch und die ist sehr umfangreich. Aber stimmt: ein DSCH ist nicht darunter.
    Erinnere mich auch nicht, in all den Büchern je davon gelesen zu haben- was aber nun keine gesicherten Angaben sind.
    Jemand anderes weiß vielleicht mehr?

    Herzliche Grüße,
    Mike

    "Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst." Voltaire

  • Aber stimmt: ein DSCH ist nicht darunter.
    Erinnere mich auch nicht, in all den Büchern je davon gelesen zu haben- was aber nun keine gesicherten Angaben sind.
    Jemand anderes weiß vielleicht mehr?

    schwer zu sagen.....eine Erklärung könnte vermutlich sein, dass ihm von den zeitgenössischen Notenquälern DSCHs Mucke nicht besonders spannend und wichtig genug war und er sich stärker für z.B. Schönbergs, Weberns, Bergs, Nonos, Stockhausens, Dallapiccolas Fetzigkeiten interessierte und engagierte....

    „Ein Komponist, der weiß, was er will, will doch nur was er weiß...“ Helmut Lachenmann

  • schwer zu sagen.....eine Erklärung könnte vermutlich sein, dass ihm von den zeitgenössischen Notenquälern DSCHs Mucke nicht besonders spannend und wichtig genug war und er sich stärker für z.B. Schönbergs, Weberns, Bergs, Nonos, Stockhausens, Dallapiccolas Fetzigkeiten interessierte und engagierte....

    Scherchen hat ja nicht nur Kompositionen der Schönberg-Schule (+ Tradition) dirigiert, sondern z.B. auch Werke von Stravinsky & Prokofiev.

    Nur weil etwas viel Arbeit war und Schweiß gekostet hat, ist es nicht besser oder wichtiger als etwas, das Spaß gemacht hat. (Helge Schneider)

  • Scherchen hat alles Mögliche dirigiert, aber bei den offiziellen Aufnahmen dürfte auch relevant gewesen sein, was die damaligen Nischenlabel wie Westminster aufnehmen wollten/brauchten. Das muss nicht unbedingt die Vorlieben des Dirigenten reflektieren. D.h., man kann aus den Stücken, die er etliche Male aufgenommen hat, wohl recht zuverlässig vermuten, dass ihm diese Stücke wichtig waren, z.B. h-moll-Messe, Kunst der Fuge, Beethoven-Sinfonien. Aber nicht viel aus diskographischen Lücken, die in den 1950ern alle möglichen Ursachen haben konnten.

    Ehrlicherweise muss man auch sagen, dass, nicht zuletzt wohl aufgrund der Produktionsbedingungen, viele Aufnahmen deutliche hörbare Probleme, spiel- und klangtechnischer Art aufweisen. Z.B. sind die Chöre (was allerdings kein Alleinstellungsmerkmal ist und auch weit renommiertere Aufnahmen der 50er und 60er betrifft) ziemlich mittelmäßig, was im Falle des Mozart-Requiem und der Bach-Passionen und h-moll-Messe sehr schade ist. Die Matthäuspassion (ca. 1953) ist leider schwer zu finden, ein paar Solo-Sänger sind auch nicht ideal, ein paar sehr exzentrische Tempi (O Mensch bewein und Schlusschor) aber abgesehen davon, ist es eine hochdramatische Aufnahme, die auch, anders als viele andere historische Aufnahmen, praktisch ungekürzt ist (es fehlt evtl. mal eine zweite Choralstrophe). Die Johannespassion ist klanglich besser, aber anderweitig nicht so interessant (und vermutlich noch schwerer zu finden).

    Meine Empfehlungen nachfolgend unter Berücksichtigung auch der Klangqualität; davon ist nicht alles einzeln zu kriegen, ob z.B. das Haydn-set lohnt, muss jeder selber wissen; ich finde die "Londoner" größtenteils eher enttäuschend. Die schon genannte #88 ist eine faszinierenden Aufnahme mit dem langsamen Satz etwa im halben üblichen Tempo (und den rustikalen Dudelsackeffekten im Trio deutlicher als in den meisten anderen Aufnahmen), die #44 klanglich schwach und mit störenden Hornpatzern, 45 und 49 sehr gut, die 80 und 92 jedenfalls auch sehr hörenswert.

    Händel: Concerti op.6 (Messiah hat Scherchen zweimal aufgenommen; ich habe eine davon gehört, die war mir zu exzentrisch und klanglich zu schlecht)
    Bach: Kunst der Fuge (Westminster stereo 1965, oben schon gezeigt), Matthäuspassion, h-moll-Messe (1959), (Brandenburgische Konzerte (Westminster (Wiener Staatsopernsolisten) 1960) zu langsam und enttäuschend)
    Haydn s.o. + stereo "Militärsinfonie" (1958, auf EMI Great Conductors)
    Mozart: Requiem (stereo, die mono kenne ich nicht)
    Beethoven: stereo Eroica (1958), 8. (1954, beide Westminster), restliche Sinfonien fallen dagegen etwas ab; Ouvertüren
    Berlioz: Fantastique und besonders Harold (Nixa)
    Mahler: 2. (stereo 1958) und 7. (1953, beide Westminster) (die Westminster Studio 1. und 5. finde ich weniger interessant, für Scherchen relativ moderat; ich kenne allerdings die wilden, teils gekürzten Mitschnitte diverser Sinfonien nicht)

    edit: Diskographie (keine Ahnung, wie genau und vollständig) "http://www.fonoteca.ch/ourOffer/discographies/Scherchen.pdf

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Ein Problem bei Scherchens Diskographie, auf das Kater Murr hinweist, sind die Mehrfacheinpielungen . Die Kunst der Fuge hat Scherchen mind. 5 Mal eingespielt, 4 davon mit seinem Arrangement . So wie bei Kater Murr geschehen ,mit Verweis auf die Abbildung ,ist es deutlich . Ansonsten sollte Orchester ,Datum oder Label genannt werden . Haydn Sinfonie No.100/Stereo ist nur die 3.Einspielung mit dem Vienna State Opera Orchestra, die beiden anderen mit dem Vienna Symphony Orchestra und dem Philharmonic Symphony Orchestra of London aka Royal Philharmonic Orchestra sind es nicht . Von den Brandenburgischen Konzerten existieren 2 Aufnahmen, von Beethovens Sinfonie No.2 mind. 5, usw . Und die Interpretationen haben eine gute Bandbreite .

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  • edit: Diskographie (keine Ahnung, wie genau und vollständig) "http://www.fonoteca.ch/ourOffer/discographies/Scherchen.pdf

    Seltsamerweise fehlt in der Liste Schönbergs op. 16 vom 8. März 1957 mit dem SO des Bayrischen Rundfunks auf ner CD von Orfeo. Die dort ebenfalls enthaltenen Aufnahmen der Opern Erwartung op. 17 & Die Glückliche Hand op. 18 werden allerdings genannt.

    Nur weil etwas viel Arbeit war und Schweiß gekostet hat, ist es nicht besser oder wichtiger als etwas, das Spaß gemacht hat. (Helge Schneider)

  • Und die Interpretationen haben eine gute Bandbreite .

    Och, das ist aber sehr liebenswürdig formuliert.
    Vor allem, wenn ich mir Mahler 5 anschaue, wo er mal schnell das Scherzo auf knapp 5 Minuten zusammen strich.
    Ja, der traute sich noch was oder war es Wahnsinn?
    Gruß aus Kiel

    "Mann, Mann, Mann, hier ist was los!"

    (Schäffer)

  • In der Studio-Aufnahme 1953 ist das Scherzo der 5. Mahler komplett. Ich vermute daher, dass die massiven Schnitte bei einigen Live-Aufnahmen den Umständen (welchen auch immer, nicht genug Probezeit?) geschuldet waren, nicht der Überzeugung, dass man diese Stücke besser kürzen sollte.
    Denn bei den Bach-Passionen oder Messiah ist Scherchen für 1950er, in denen dort Kürzungen durchaus üblich waren, ziemlich komplett.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • "Das Werk, das er aufführt, auf alle Fälle komplexer Natur, erfordert von ihm, daß er scharf aufpaßt. Geistesgegenwart und Raschheit gehören zu seinen kardinalen Eigenschaften. Über Gesetzesbrecher muß er mit Blitzeseile herfallen. Die Gesetze werden ihm an die Hand gegegben als Partitur. Andere haben sie auch und können seine Durchführung kontrollieren, aber er ganz allein bestimmt, und er allein richtet auf der Stelle über Fehler. Daß dies öffentlich geschieht, in jeder Einzelheit allgemein sichtbar, gibt dem Dirigenten ein Selbstgefühl eigener Art. Er gewöhnt sich daran, immer gesehen zu werden, und er kann es immer schwerer entbehren."
    (Elias Canetti, "Der Dirigent" in "Masse und Macht").

    Doc Stänker hat oben bereits darauf hingewiesen, dass Canetti mit dieser allgemeinen Beschreibung der Rolle des Dirigenten ganz konkret Scherchen meint. In seiner Autobiografie schildert Canetti seinen tiefen Hass gegen Scherchen. Canetti ist es allerdings gelungen, in dem kurzen Kapitel "Der Dirigent" über den Anlass für seinen persönlichen Hass hinaus, das Bild eines autoritären Charakters im Zeitalter des Kulturbetriebs zu zeichnen. Ich finde es in der Verallgemeinerung treffend, weiß allerdings nicht, ob er der realen Person Scherchen damit nicht Unrecht tut.

    Scherchen war ein Mythos. Es wurde eine zeitlang verbreitet, dass man Beethoven nicht anders spielen und auch hören dürfe als in den Interpretationen von Scherchen. Allerdings legte man sich nicht so ganz präzise fest, welche Interpretationen denn nun gemeint waren. Und beim näheren Hinsehen und Hinhören stellte sich heraus, dass Scherchen nicht nur sehr viel sondern auch öfters die gleichen Werke auf Tonträger dokumentiert hat - und es gibt selbst bei Beethoven die riesigen Unterschiede, die andere hier schon benannt haben. Vieles an Scherchens Beethoven überzeugt - auch bei ganz unterschiedlicher Herangehensweise. Aber es stimmt einfach nicht, dass er Beethoven stets exakt nach den Metronomangaben gespielt habe - es sei denn, er habe die Metronomangaben jedesmal anders interpretiert.

    In Liveaufnahmen von unauffälligem traditionellem Repertoire kann man auch einen ungemein schlampigen Dirigenten hören: z.B. Mozart Serenaden und die A-Dur Sinfonie KV 201 aus Prag - diesmal mit einem hervorragenden Orchester, das er bei bei seinen Studioproduktionenin der Regel nicht zur Verfügung hatte. Die in vier Sätzen brutal gekürzte, im Adagietto aber extrem überdehnte Aufnahme von Mahlers Fünfter ist bereits genannt worden. Aber auch seine Studioaufnahmen der Concerti grossi von Händel sind schlicht unsäglich langweilig, ganz zu schweigen von Geminiani. Einige Tschaikowski-Aufnahmen unter Scherchen haben sicherlich Anrecht auf einen Platz ganz vorne in der Liste der schlechtesten Einspielungen der Schallplattengeschichte.

    Man könnte den Mythos Scherchen als grotesken Irrtum abtun, wären da nicht die Aufnahmen seiner Uraufführungen, seine Live-Aufnahmen von Werken der Wiener Schule, einiges von Mahler, Berlioz und sicherlich auch Beethoven. Auch einige Verrücktheiten, wie den - gekürzten - Ilya Murometz von Glière oder eine Sinfonie von Kalinikov.

    Und er hat zumindest zwei überragende Schüler hervorgebracht: Karel Ancerl und Ernest Bour. Vergleicht man allerdings die beiden mit Scherchen, kommt man auf den Gedanken, dass Canetti ihn doch zutreffend charakterisiert haben könnte, aber die Verallgemeinerung falsch ist.

  • Und er hat zumindest zwei überragende Schüler hervorgebracht: Karel Ancerl und Ernest Bour.

    Nebst Igor Markevitch. Den er als Dirgenten ja bekanntlich als begabtesten Kompositionsschüler verlor. Nebst "schlechten" Schülern wie Helmut Koch.

    Aber insgesamt, lieber Uliwer, danke für Deinen Beitrag- der auch ein wenig erklärt, warum ich Scherchen einen "Wüstling" nannte und nicht einen Maßlosen. Manches ist, wie Du schreibst, wirklich: schlecht und schlampig dirigiert.
    Insbesondere sein Mozart lässt mich immer wieder erschauern, darunter die Konzerte für zwei und drei Klaviere.

    Jetzt aber eine Frage: ich nehme an, dass Scherchen zu "Neuer Musik" Zugang hatte- kann mir jemand erklären, warum sein Bartok, speziell die Klavierkonzerte mit der Farnady, so nichtssagend bleiben?
    Höre ich das verkehrt?
    Oder sind die so "nebenbei" aufgenommen wie sie wirken?
    Herrje, da klingt ja sein Berlioz fesselnder als sein Bartok!?!
    Oder unterliege ich da dem selben Trugschluss wie sein Label Westminster, dass Scherchen= Moderne schon aufgehen würden?

    Ich schätze Scherchen wirklich sehr, aber manche seiner Aufnahmen lassen mich völlig ratlos zurück, darunter sein Bartok.
    Hörte vor einigen Tagen Dallapiccolas: "Die Gefangenen" live aus Münschen von 1956. Das ist wiederum sehr spannend, fesselt und lässt nicht leicht los.
    Manch anderes, auch der Moderne zurechnen, überzeugt mich unter seinem Dirigat so gar nicht- andere hier auch nicht. Wo ist das Problem?
    Für eine Antwort dankbar: Mike

    "Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst." Voltaire

  • Ich schätze Scherchen wirklich sehr, aber manche seiner Aufnahmen lassen mich völlig ratlos zurück, darunter sein Bartok.

    Hörte vor einigen Tagen Dallapiccolas: "Die Gefangenen" live aus Münschen von 1956. Das ist wiederum sehr spannend, fesselt und lässt nicht leicht los.
    Manch anderes, auch der Moderne zurechnen, überzeugt mich unter seinem Dirigat so gar nicht- andere hier auch nicht. Wo ist das Problem?

    Das ist doch nicht so selten jetzt. Wie bei jedem anderen Dirigentn auch wird man mit einem Teil seiner Aufnahmen sehr gut zurecht kommen, doch dann gibt es eben Einspielungen, die einfach einen selbst nicht ansprechen, bzw. die dem Dirigenten (und dem Orchester natürlich) gut gelingen. Ich selbst finde seine Reger-Einspielungen sehr gut, aber sonst tue ich mir schwer mit ihm. Seine Fünfte Mahler (mit dem Orchester der Wiener Staatsoper) habe ich schon lange weg gegeben, ich konnte damit damals nicht anfangen.

    Viele Grüße sendet Maurice

    Musik bedeutet, jemandem seine Geschichte zu erzählen und ist etwas ganz Persönliches. Daher ist es auch so schwierig, sie zu reproduzieren. Niemand kann ihr am Ende näher stehen als derjenige, der/die sie komponiert hat. Alle, die nach dem Komponisten kommen, können sie nur noch in verfälschter Form darbieten, denn sie erzählen am Ende wiederum ihre eigene Geschichte der Geschichte. (ist von mir)

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