Hermann Scherchen- der "Wüstling"
Da es zu ihm noch keinen Thread gibt, möchte ich gern einen eröffnen.
Dazu muss ich nicht nacherzählen, was in Wikipedia doch recht erschöpfend nachzulesen ist:
https://de.wikipedia.org/wiki/Hermann_Scherchen
Worauf dort nicht eingegangen wird, sind seine Interpretationen.
Scherchen befasste sich mit Musik aus alles Epochen, im Repertoire fehlt weder Gabrieli noch Purcell im Bereich der "Alten Musik", besonders am Herzen aber lag ihm die sogenannte "Neue Musik". So hat er zahllose Werke aus der Taufe gehoben von Komponisten wie Xenakis, Henze etc., auch darüber kann man in Wiki nachlesen.
Nur nicht darüber, wie er es tat.
Reagierte ein Publikum ablehnend, meinte er, es sei die Musik nicht verstanden worden, also müsse man sie nochmals spielen.
Bekannt, zumindest der Mythos, ist sein Beethoven- Zyklus aus Lugano aus dem Jahre 1965. Der harrt noch immer einer Wiederveröffentlichung.
Kaum sonst kann man Scherchens Leistung besser festmachen: Metronomangaben werden sehr genau beachtet, doch nie stoisch "maschinell", immer mit Leben erfüllt. Das unterscheidet seine Lesart von der Leibowitz'.
Musik muss an die Substanz gehen bei ihm, alles andere ist falsch.
Und jeder der Beethoven- Sinfonien stellte er in Lugano '65 ein Werk gegenüber der "Neuen Musik", was leider untergeht, kapriziert man sich auf seine Beethoven- Lesart.
So musiziert er auch die durchaus anfechtbaren Aufnahmen der Haydn- Sinfonien, in denen er vorwegnimmt, was Harnoncourt später wortreich versucht: Haydn als Neutöner, der von CPE Bach beeinflusst, eine Musik schafft, die in Beethoven fortgesetzt, aber nicht revolutioniert wird.
Scherchens Mahler aber ist eine eigene Sache.
Vieles ist immer "zu" schnell oder zu" langsam um dem heute tradierten Geschmack zu genügen, er liest Mahler eigentlich stets aus Sicht der Neuen Musik. Damit verstörend, Dissonanzen hervorhebend, "Kuschelklänge" sind nicht in seinem Repertoire.
Er forciert oder dehnt unendlich, man muss dem folgen wollen.
Für mich aber gesprochen: so unmittelbar, auch hässlich, dafür direkt und anspringend habe ich Mahlers Sinfonien nie sonst gehört. Gegenentwurf zu Bernsteins menschelnder Art.
Scherchens Repertoire umfasst aber weitaus mehr, sein Berlioz ist hörenswert, weil er auch hier "ans Eingemachte" geht, viel weiter als Monteux oder Ansermet.
Immer ist das "Seelenmusik", nicht nur ein Bild davon. Sein Haydn ausbrechend aus der Tradition des dienenden Hofcompositeurs.
Mir erschloss Scherchen Malipiero und Dallapiccola als wirklich hörenswerte, auch "schöne" Musik. Keine Angst vor neuen Klängen, das habe ich an seinen Aufnahmen und Mitschnitten gelernt.
Scherchen hat mich sehr geprägt, vor allem im Offensein für Fremdes, Neues.
Welch anderen Respekt kann ich noch ausdrücken?
Herzliche Grüße,
Mike