Zu den Libretti in der Opern-/Musikgeschichte – Beispiel: Goethe
Nun, mich würde einmal interessieren, wie man in diesem primär an der Musik interessierten Forum über Librettos – also die Texte von Opern – denkt.
Wobei ich hier weniger die alte Diskussion darüber entfachen möchte, ob in der Oper der Text oder die Musik der wichtigere Bestandteil sei – dies scheint mir doch sehr auch eine einfache Geschmacksfrage –, sondern ich bin ja noch neu hier und möchte erst einmal erfahren, ob hier auch gerne über eben die Texte von Opern diskutiert wird und natürlich auch das Zusammenspiel von Musik und Text.
Interessanterweise erscheinen Operntextbücher schon von der literarischen Seite her betrachtet schwierig. Als Lese-Literatur sind Libretti gleichsam unbekannt wie ungeliebt. Dazu wird den Libretto ganz häufig – ja fast schon in der Regel – ein literarischer Wert abgesprochen.
Wie man es vielleicht schon etwas herauslesen konnte, sehe ich die Dinge natürlich völlig anders. Es gibt ganz wunderbare Operntexte und Libretti mit einer ganz großen literarischen Bedeutung.
Um einen kleinen Einblick in meine Sichtweise zu geben und meinem Standpunkt nun auch eine kleine Grundlage zu geben, also:
Hier denke ich zum Beispiel an das viel kritisierte und regelrecht gescholtene "Zauberflöten"-Libretto, welches Schikaneder in Zusammenarbeit mit Mozart erdacht hatte. Dieses wird immerhin von Goethe, dem deutschen Dichterfürsten, verteidigt:
ZitatEr [Goethe] gibt zu, daß der bekannte erste Teil [also Schikaneders „Zauberflöte“] voller Unwahrscheinlichkeiten und Späße sei, die nicht jeder zurechtzulegen und zu würdigen wisse; aber man müsse doch auf alle Fälle dem Autor zugestehen, daß er im hohen Grade die Kunst verstanden habe, durch Kontraste zu wirken und große theatralische Effekte herbeizuführen. (Quelle: Johann Peter Eckermann "Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens")
Goethe erkennt hier also etwas in dem viel kritisierten Text der "Zauberflöte", was er zu würdigen weiß, aber dagegen vielen anderen einfach entgeht.
Goethe vergleicht dann sogar die künstlerische Intention seines Opus Magnum – seiner "Faust"-Dichtung, welche immerhin als das bedeutendste und meistzitierte Werk der deutschen Literatur gilt) – mit der "Zauberflöte", und wünscht sich für eben diese "Faust"-Dichtung:
ZitatUnd mehr habe ich nicht gewollt. Wenn es nur so ist, daß die Menge der Zuschauer Freude an der Erscheinung hat; dem Eingeweihten wird zugleich der höhere Sinn nicht entgehen, wie es ja auch bei der ›Zauberflöte‹ und andern Dingen der Fall ist. (Quelle: Johann Peter Eckermann "Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens")
Ja – Goethe war derart inspiriert von Schikaneders und Mozarts Zauberoper, dass er sich sogar an eine eigene "Zauberflöte" machte: "Die Zauberflöte II" – Diese sollte die Geschehnisse aus dem Originalstück fortsetzen.
Ich denke, Goethes Zitate zur "Zauberflöte" über das "zu würdigen wisse[n]" und den "höhere[n] Sinn" zeigen, dass er damit nicht – wie gerne behauptet – nur kommerzielle Gedanken verband, sondern durchaus ideelle.
Im Übrigen erklärte Goethe im Gespräch mit Eckermann:
Zitat»Doch«, sagte ich, »gebe ich die Hoffnung nicht auf, zum ›Faust‹ eine passende Musik kommen zu sehen.«
»Es ist ganz unmöglich«, sagte Goethe. »Das Abstoßende, Widerwärtige, Furchtbare, was sie stellenweise enthalten müßte, ist der Zeit zuwider. Die Musik müßte im Charakter des ›Don Juan‹ sein; Mozart hätte den ›Faust‹ komponieren müssen. Meyerbeer wäre vielleicht dazu fähig, allein der wird sich auf so etwas nicht einlassen; er ist zu sehr mit italienischen Theatern verflochten.« (Quelle: Johann Peter Eckermann "Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens")
Tatsächlich legen durchgehender Reim und Rhythmik der "Faust"-Dichtung eine Vertonung nahe. Was hätte die "Faust"-Dichtung dann also durch Mozart werden können? Ein Libretto?!? Goethe nähert sich in "Faust I" immer mehr dem Musiktheater, der Operntradition an; bis es sich in "Faust II" in eine regelrechte Oper auflöst:
Zitat»Es wird«, sagte ich, »auf der Bühne einen ungewohnten Eindruck machen, daß ein Stück als Tragödie anfängt und als Oper endigt. Doch es gehört etwas dazu, die Großheit dieser Personen darzustellen und die erhabenen Reden und Verse zu sprechen.« – »Der erste Teil«, sagte Goethe, »erfordert die ersten Künstler der Tragödie, sowie nachher im Teile der Oper die Rollen mit den ersten Sängern und Sängerinnen besetzt werden müssen. Die Rolle der Helena kann nicht von einer, sondern sie muß von zwei großen Künstlerinnen gespielt werden; denn es ist ein seltener Fall, daß eine Sängerin zugleich als tragische Künstlerin von hinlänglicher Bedeutung ist.« (Quelle: Johann Peter Eckermann "Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens")
Führwahr ist der "Helena"-Akt etwas ganz besonderes, wie hier aus Schillers Brief an Goethe zum Thema des "Helena"-Aktes, hervorgeht:
ZitatGelingt Ihnen diese Synthese des Edeln mit dem Barbarischen, wie ich nicht zweifle, so wird auch der Schlüssel zu dem übrigen Theil des Ganzen gefunden seyn, und es wird Ihnen alsdann nicht schwer seyn, gleichsam analytisch von diesem Punkt aus den Sinn und Geist der übrigen Partien zu bestimmen und zu vertheilen: denn dieser Gipfel, wie Sie ihn selbst nennen, muß von allen Punkten des Ganzen gesehen werden und nach allen hinsehen. (Quelle: "Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe")
Und hier lässt sich der Bogen wieder zur "Zauberflöte" spannen, denn der "Helena"-Akt, dieser "Gipfel" der "Faust"-Dichtung, lässt sich als geistige Fortführung von Goethes "Zauberflöte II" verstehen. Dort bei seiner Beschäftigung mit der "Zauberflöte" findet Goethe ein Gegensatz-Paar – Tamino und Pamina (z.B. wie hier in der Abbildung, wo Tamino scheinbar aus Vernunftsgründen seine Gefühle unterdrückt, um den Ordensregeln der weisen Männer zu entsprechen; und Pamina, für die Liebe/Gefühl alles ist, nach ihrer Verstoßung von ihren Gefühlen überwältigt, bald einen Selbstmordversuch begehen wird – ergo: Gefühl vs Vernunft) – und löst ihre Gegensätze in einem geflügelten Kindersegen auf.
Ebenso werden dann später das Gegensatz-Paar Helena und Doktor Faust (z.B. das Edle vs das Barbarische; das Antike/Griechische vs das Mittelalterliche/Deutsche; das Unsterbliche/Gottähnliche vs das Sterbliche/Menschliche; das Weibliche vs das Männliche) ihre Gegensätze auflösen und verbinden (sexuelle Vereinigung), und aus dieser Verbindung erwächst ihr Sohn, mit Flügeln scheint er etwas Höheres zu sein (Synthese), wie hier der Euphorion als Allegorie deutsch-griechischer Poesie (dt. Faust und gr. Helena) in der Abbildung von Wilhelm Kaulbach.
Ich denke, dass soll an dieser Stelle nun wirklich reichen. Ich hoffe, meine Sichtweise ist so einigermaßen deutlich geworden.
Und ist es nicht erstaunlich, dass das bedeutendste Werk deutscher Literatur so nah an einem Libretto angelegt ist, der oft so gering geschätzten Literatur-Gattung?
Jetzt möchte ich ja vor allem wissen, wie Ihr über solche Gedanken und Theorien denkt; und ob Diskussionen über Libretti, über Texte, hier auch Interesse finden.
Zum Abschluss noch ein kleines, aber äußerst denkwürdiges Zitat von Goethe:
ZitatDiese reine Opernform, welche vielleicht die günstigste aller dramatischen bleibt, war mir so eigen und geläufig geworden, daß ich manchen Gegenstand darin behandelte. (Quelle: Goethe "Tag- und Jahreshefte")
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