Gustav Mahler: Das klagende Lied

  • Gustav Mahler: Das klagende Lied

    Der 1860 geborene, in Iglau aufgewachsene Gustav Mahler, seit 1875 Musikstudent am Wiener Konservatorium, machte sich 1878 daran, inspiriert unter anderem von Märchen von Ludwig Bechstein und den Brüdern Grimm, eine Märchen-Kantate für Soli, Chor und Orchester auf eigene Texte zu komponieren. 1880 wurde die dreiteilige Komposition („Waldmärchen“, „Der Spielmann“ und „Hochzeitsstück“) abgeschlossen. 1881 reichte der Komponist das ambitionierte, an die 70 Minuten lange Werk beim Beethoven-Preis der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien ein, die Jury (unter anderem mit dem Kritiker Hanslick und dem Komponisten Brahms) verweigerte eine Prämierung allerdings. Mahler schlug daraufhin eine Kapellmeisterkarriere ein, nur mehr nebenbei komponierend.

    1896 bezeichnete Mahler „Das klagende Lied“ in einem Brief selbstbewusst als sein „Opus 1“. Er eliminierte in einer neuen Revision 1898 den ersten Teil „Waldmärchen“ endgültig und brachte die nun zweiteilige Neufassung (1899 erstmals gedruckt) am 17.2.1901 mit den Wiener Philharmonikern im Musikverein zur Uraufführung.

    Die erste Aufnahme der Fassung aus dem Jahr 1899 entstand 1951 mit Zoltan Fekete und den Wiener Symphonikern (Mercury). Eine dreiteilige Mischfassung wurde 1970 unter der Leitung von Pierre Boulez erstmals für die Schallplatte aufgenommen (Sony). Die erste Aufnahme der Originalfassung aus dem Jahr 1880 entstand erst im Oktober 1997 mit Kent Nagano und dem Hallé Orchestra (Erato).

    Gustav Mahler führt die Hörerschaft mit diesem Werk in eine hochromantisch-symphonisch-kantatenhafte Märchenwelt. Solisten, Chor und Orchester erzählen die Geschichte dramatisch und liefern dabei sowohl die Naturstimmung als auch die Psychologie des Geschehens (Einsatz der direkten Rede der Flöte!) mit.

    „Waldmärchen“: Wer im Wald eine rote Blume findet, dem winkt der Königsthron an der Seite der Königin. Zwei Brüder gehen auf die Suche – einer findet die Blume, der andere erschlägt ihn.

    „Der Spielmann“: Aus einem Knochen schnitzt ein Spielmann im Wald eine Flöte – und diese erzählt, spielt man auf ihr, die tragische Geschichte.

    „Hochzeitsstück“: Zur Hochzeit ist der Spielmann zur Stelle. Der König selbst spielt die Flöte, womit er entlarvt wird. Die Königin bricht zusammen, ja das ganze Schloss versinkt daraufhin.

    Mahler antizipiert in dieser hochromantischen Kantate bereits vielfach Kompositionstechniken seiner Symphonien: Wechsel Dur-Moll, Horn-Fanfaren, Marschelemente, Volksliedanklänge, Melancholie, Leitmotive, der Einsatz eines Fernorchesters, Charakterkontraste (Kain-Abel!), die Gegenüberstellung Naturidylle – menschliche Grausamkeit, das Schaurige und Makabre, der Eintritt des Jenseitigen ins Geschehen, Einflüsse Mendelssohns, Webers und Wagners.

    Mich haben bei der akustischen Erstbegegnung via Tonträger besonders die Passagen fasziniert, in denen Mahler mit seinen schon hier raffinierten Klangwirkungen das Jenseitige ins Geschehen einbringt, im „Waldmärchen“ die rätselhaft-geheimnisvolle Stimmung nach dem Mord zwischen der vorletzten und letzten Strophe, beim „Spielmann“ der märchenhaft-mystische „Bericht“ der Flöte und beim „Hochzeitsstück“ des Königs Vorahnung der Entlarvung sowie erneut wenn die Flöte „spricht“, durch den Spielmann wie durch den König selbst – atmosphärisch ganz starke Momente. Auch die Stimmung ganz am Ende, wenn die Lichter erloschen sind, vor dem Schlussakkord, strahlt eine eigene Aura aus.

    Persönliche Höreindrücke:

     

    Giuseppe Sinopoli hat im November 1990 in der Watford Town Hall in London die Fassung von 1899 mit dem 1. Teil der Urfassung davor (also die Fassung wie sie auch Boulez 1970 aufnahm) mit dem Philharmonia Orchestra, Cheryl Studer, Waltraud Meier, Reiner Goldberg, Thomas Allen (dieser nur im „Waldmärchen“) und dem Shin-Yuh Kai Chorus aufgeführt, der Mitschnitt liegt auf CD vor (gehört aus der 15 CD Box DGG 471 451-2, Spieldauer 65:04 Minuten). Ich finde Sinopoli hat ein feines Gespür für die Psychologie der Musik, sie dominiert spannend über allfällig Plakatives. Bin damit schon einmal für die dreiteilige Fassung gewonnen.

     

    Am 28.7.2011 eröffneten Pierre Boulez und die Wiener Philharmoniker mit einem Konzert im Großen Festspielhaus die Salzburger Festspiele 2011 nach Alban Bergs „Lulu-Suite“ und „Der Wein“ mit Mahlers „Klagendem Lied“. Der Mitschnitt dieses Konzerts auf CD und DVD (CD DGG 477 9891 ohne Bergs „Der Wein“, DVD C-major 710908) schließt nach der viersätzigen Mahler Zehnten mit Daniel Harding im 21. Jahrhundert eine weitere Lücke der Gustav Mahler Diskografie des Orchesters, diesfalls ja sogar des Uraufführungsorchesters, mit dem Boulez im Gegensatz zu seiner Erstaufnahme nur die 1899 gedruckte und 1901 erstmals aufgeführte Fassung ohne das „Waldmärchen“ dirigierte (Spieldauer 35:36 Minuten). Hier sangen Dorothea Röschmann, Anna Larsson, Johan Botha (letzterer so wie ich es höre inniger und wärmer als Goldberg bei Sinopoli) sowie die Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor. Boulez lässt das klanglich räumlich akustisch nahezu cinemascope-artig aufgefächerte Orchester (Konzertmeister Volkhard Steude, neben ihm Konzertmeisterin Albena Danailova) seinen Klangluxus voll ausspielen, dabei genau auf die Differenzierungen der Klangschichten achtend, womit er eine andere spannende Intensität als Sinopoli erzeugt (zu hören von CD genauso wie von der DVD). Das Fernorchester ist in der Fernsehaufnahme als solches besonders differenziert zu hören, nicht aber zu sehen; wenn es spielt, wird der Dirigent gezeigt. Mit oder ohne „Waldmärchen“? Gerade die zuvor genannte Passage vor der Schlussstrophe im „Waldmärchen“ hätte ich auch mit den Wiener Philharmonikern gerne gehört, inhaltlich „reicht“ aber wohl auch diese von Mahler gewünschte gekürzte Fassung (so mein persönlicher Eindruck).

    Literaturgrundlagen: Die Begleittexte zu den CDs und zur DVD, außerdem Kralik/Heller: Gustav Mahler (Wien 1968), Schreiber: Mahler (Reinbek bei Hamburg 1971), Blaukopf: Gustav Mahler oder Der Zeitgenosse der Zukunft (Kassel 1989), Fischer: Gustav Mahler – Der fremde Vertraute (Wien 2003), Sponheuer/Steinbeck: Mahler Handbuch (Stuttgart 2010), Floros: Gustav Mahler (München 2011).

    Was mich betrifft: Nun gespannte Vorfreude auf die für den 8.9.2017 angekündigte Neuerscheinung mit Cornelius Meister und dem ORF Radio Symphonieorchester Wien (Capriccio).

    Weiteres zum Werk und zu Aufnahmen des Werks - gerne hier rein.

    Herzliche Grüße
    AlexanderK

  • Bei mir stehen zwei Aufnahmen der 1898/1899er Fassung . Fritz Mahler dirigiert das Hartford Symphony Orchestra , es singen Margaret Hoswell (Sopran), Lili Chookasian (Alt), und Rudolf Petrak (Tenor) . Ein absolut hervorragender privater Transfer der Vanguard LP VSD-2044, aufgenommen 1959, durch Joachim Wagner .( 1. Stereo-Einspielung des Werks ). Mahler by Mahler .
    Und die 1967 entstandene Aufnahme mit dem New Philharmonia Orchestra und dem als Mahler-Spezialisten bekannten Wyn Morris . Solisten :Teresa Zylis-Gara (Sopran ),Anna Reynolds ( Mezzo-Sopran), und Andor Kaposy(Tenor). Meine Beschränkung auf diese beiden Aufnahmen ist eine bewußte .

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    Ergänzing : Fritz Mahler 1960 live aus Rom : https://www.youtube.com/watch?v=TVysulRw_c0

    Good taste is timeless "Ach, ewig währt so lang " "But I am good. What the hell has gone wrong?" A thing of beauty is a joy forever.

  • Kennengelernt habe ich das Klagende Lied (zweite Fassung ohne Waldmärchen) als Beifang zu Bernard Haitinks erster Aufnahme von Mahlers Dritter (Philips, 1966):

    Heather Harper (Sopran), Norma Procter (Alt), Werner Hollweg (Tenor); Niederländischer Rundfunkchor (Einstudierung Meindert Boekel); Concertgebouw Orchester (Philips, 1973).

    Später legte ich mir die bereits erwähnte Ersteinspielung der 1880er Fassung zu:

    Eva Urbanová (Sopran), Jadwiga Rappé (Alt), Hans Peter Blochwitz (Tenor), Håkan Hagegård (Bass); Solisten der Wiener Sängerknaben: Terence Way (Sopran), Otto Jaus (Alt); Hallé Orchester & Chor (Einstudierung Keith Orrell); Kent Nagano (Erato / elatus, 1997 / 2002).

    Ewig nicht gehört, aber hat mir damals spontan in beiden Aufnahmen gefallen.

    Nur weil etwas viel Arbeit war und Schweiß gekostet hat, ist es nicht besser oder wichtiger als etwas, das Spaß gemacht hat. (Helge Schneider)

  • Vielen Dank für die weiteren Aufnahme-Hinweise!

    Gestern am Neuerscheinugstag bei Beck am Rathauseck in München gekauft (herzlicher Gruß an Knulp, :) ). Es ist eine Liveaufnahme aus dem Wiener Konzerthaus vom 1. und 2.12.2016. Cornelius Meister dirigiert das ORF Radio Sinfonieorchester Wien, und es singen Simone Schneider, Tanja Ariane Baumgartner, Torsten Kerl, Adrian Eröd, zwei Solisten des Tölzer Knabenchors sowie die Wiener Singakademie (CD Capriccio C5316, Spieldauer 60 ½ Minuten). Meister wählte die Fassung, die auch Sinopoli vorlegte: Das „Waldmärchen“ von 1880 und die beiden anderen Teile von 1899 – also die Mischfassung. Es ist so wie ich es höre eine Aufnahme, die Gustav Mahlers dramatisch-psychologische Tonsprache eindringlich zu vermitteln versteht. Das Orchester zeigt sich meinem Hörempfinden nach als sensibles Mahler-Orchester. Erneut erstaunen (mich) Mahlers Antizipationen späterer Werke, etwa beim Anfang des 2. Teils (Beginn 2. Symphonie) oder beim Anfang des 3. Teils (Finale 1. und 7. Symphonie). Die Sopranistin singt in der Höhe mit etwas viel Vibrato, das ist das einzig Störende (für mich). Interessant ist, dass Meister die Flöte durch Knabenstimmen sprechen lässt, das gibt dem Ganzen eine eigene Dimension.

    Herzliche Grüße
    AlexanderK

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