Daniel Barenboim - als Pianist, Dirigent und Institution

  • Zu Barenboims politischem Engagement möchte ich eigentlich nichts schreiben, da der Musiker Barenboim nicht dadurch besser oder schlechter wird, dass er für Frieden in Nahost wirbt. Ebenso wird er nicht dadurch besser oder schlechter, dass er vor vielen Jahren seine todkranke Frau betrogen hat...

    Kommen wir also zum Musiker Barenboim - für den ich Christian Köhns Einschätzung vom größten lebenden Musiker durchaus plausibel finde. Barenboim ist aus meiner Sicht der einzige lebende dirigierende Instrumentalist, der es sowohl als Solist als auch als Dirigent zu absolutem Weltruhm gebracht hat.

    Barenboims Klavierspiel war in jungen Jahren vielleicht weniger umstritten. Seine frühen Aufnahmen der Mozart-Konzerte liebe ich, ebenso seine Brahms-Aufnahmen mit du Pre. Vor ca. 15 Jahren habe ich ihn mal live im Recital mit Beethovens op. 109, 110 und 111 gehört. Das war durchaus beeindruckend, wenn auch beileibe nicht so unglaublich und überwältigend wie z. B. Sokolovs kürzlich gehörte Darbietung von op. 111. Ein guter Freund von mir, auf dessen musikalische Meinung ich sehr viel gebe, hat Barenboim ein paar Jahre später mit einem Beethoven-Programm gehört und war maßlos enttäuscht. Ähnliches habe ich zu seiner Darbietung des WTK vor einigen Jahren gehört. Andererseits finde ich seine noch recht junge Aufnahme der Schubert-Sonaten beeindruckend. Im Sommer 2015 spielte Barenboim an einem Abend beide Brahms-Konzerte. Auch wenn ich seine Darbietung nicht vollständig überzeugend fand, so habe ich doch den allergrößten Respekt vor der Bewältigung dieser pianistischen Herkules-Aufgabe. Auf diesem Niveau muss man in Barenboims Alter erstmal noch spielen können.

    Der Dirigent Barenboim ist bei mir vor allem mit seinen Wagner-Interpretationen sehr positiv vermerkt, und außerdem schätze ich sein Engagement für Neue Musik. So war Barenboim z. B. gut mit Boulez befreundet und hat einige seiner "Notations" in den Orchester-Fassungen uraufgeführt. Das Konzert zur Eröffnung des Boulez-Saals in Berlin fand ich bemerkenswert, vor allem wegen der Darbietungen von Bergs Kammerkonzert und von Boulez' Klangwunder "Sur incises".

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Zu Barenboims politischem Engagement möchte ich eigentlich nichts schreiben, da der Musiker Barenboim nicht dadurch besser oder schlechter wird, dass er für Frieden in Nahost wirbt. Ebenso wird er nicht dadurch besser oder schlechter, dass er vor vielen Jahren seine todkranke Frau betrogen hat...

    Ich finde es vorsichtig gesagt nicht ganz abwegig, von der Kunst eine gesellschaftliche Ausstrahlung zu erwarten, die über das rein Ästhetische hinausgeht. Insofern sehe ich schon einen Unterschied zwischen seinem (rein privaten) Eheleben und seinem politischen Engagement. "Der Musiker" mag davon unabhängig sein, "der Künstler" ist es keineswegs. Zumal seine politischen Aktivitäten ja fast immer in einem musikalischen Kontext stattfinden (Divan-Orchester, Konzert in Ramallah, Wagner in Israel, Barenboim-Said-Akademie usw.). Insofern stimme ich dieser Überlegung von Tichy1988 (die er allerdings anders meinte) durchaus zu:

    Vielleicht ist er auch der Typ Musiker, den die heutige Zeit braucht

    Christian

  • Ich finde es vorsichtig gesagt nicht ganz abwegig, von der Kunst eine gesellschaftliche Ausstrahlung zu erwarten, die über das rein Ästhetische hinausgeht. Insofern sehe ich schon einen Unterschied zwischen seinem (rein privaten) Eheleben und seinem politischen Engagement. "Der Musiker" mag davon unabhängig sein, "der Künstler" ist es keineswegs. Zumal seine politischen Aktivitäten ja fast immer in einem musikalischen Kontext stattfinden (Divan-Orchester, Konzert in Ramallah, Wagner in Israel, Barenboim-Said-Akademie usw.).


    Das ist sicherlich zutreffend, ich hatte etwas anderes gemeint (und hätte es vielleicht präziser und dann letztlich doch auch ausführlicher schreiben sollen).

    Bereits im Threadtitel taucht ja der Begriff "Institution" auf. Ich finde ehrlich gesagt, dass man Barenboim damit überhöht. Barenboim ist fraglos politisch engagiert, und ich erkenne an, dass sein Ansinnen grundsätzlich nobel ist. Dass seine Aktivitäten den musikalischen Kontext meist nicht verlassen, finde ich positiv - mich stört das Möchtegern-Politiker-Gehabe von Leuten wie Bob Geldof oder Bono, die nie demokratisch gewählt worden sind, sich aber trotzdem als politische Entitäten jenseits ihrer künstlerischen Tätigkeit verstehen.

    Sieht man hinter Barenboims nobles Ansinnen und betrachtet die Details, so finde ich durchaus, dass man seine politische Haltung auch kritisch sehen kann - weil sie ziemlich naiv ist. Barenboim hat sich z. B. bisher kaum zum leider weit verbreiteten Judenhass im arabischen Kulturraum geäußert, und alles, was man ihm als Juden als Parteinahme für Israel auslegen könnte, vermeidet er. Da finde ich einen Morrissey, der den zunehmenden antiisraelischen Tendenzen im United Kingdom mit mutigen proisraelischen Statements begegnet, eigentlich mutiger (wiewohl besagter Morrissey zu anderen Themen leider auch viel Unfug redet).

    Aber zurück zur "Institution". Zu diesem Begriff gehört für mich eine gewisse moralische Unangreifbarkeit, und ich bin mir nicht sicher, ob man diese bei Barenboim feststellen kann. Daher mache ich es mir einfach: es ist mir tendenziell egal, ob er moralisch nun unangreifbar ist oder nicht, ob er eine "Institution" ist oder nicht - er ist ein bedeutender Musiker, und in diesem Forum ist das für mich der wesentliche Aspekt seines Wirkens. Sein politisches Engagement könnte man in einem Politik-Forum genauer unter die Lupe nehmen, seine persönliche Lebensführung vielleicht in einem Forum für eheliche Treue (wenn es denn so etwas geben sollte).

    LG :wink:

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  • Bereits im Threadtitel taucht ja der Begriff "Institution" auf. Ich finde ehrlich gesagt, dass man Barenboim damit überhöht.

    Aber zurück zur "Institution". Zu diesem Begriff gehört für mich eine gewisse moralische Unangreifbarkeit

    Das wäre allerdings ein reduzierter Begriff von "Institution". Ich habe den Begriff im Eingangsbeitrag durchaus moralisch neutral, nicht wertend und auch nicht in erster Linie politisch gebraucht. Er beschreibt zunächst einmal nur die sehr einflussreiche Stellung, die Barenboim im internationalen Musikleben und darüber hinaus auch an bestimmten Schaltstellen von Musik und Politik einnimmt. Sozusagen als personalisierte Institution, aber auch dadurch, dass er häufig und nicht ganz ohne Grund mit musikalischen Institutionen (Berliner Staatsoper und -kapelle, West-Eastern Divan-Orchestra usw.) identifiziert wird.

    :wink:

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  • Das wäre allerdings ein reduzierter Begriff von "Institution". Ich habe den Begriff im Eingangsbeitrag durchaus moralisch neutral, nicht wertend und auch nicht in erster Linie politisch gebraucht. Er beschreibt zunächst einmal nur die sehr einflussreiche Stellung, die Barenboim im internationalen Musikleben und darüber hinaus auch an bestimmten Schaltstellen von Musik und Politik einnimmt. Sozusagen als personalisierte Institution, aber auch dadurch, dass er häufig und nicht ganz ohne Grund mit musikalischen Institutionen (Berliner Staatsoper und -kapelle, Divan-Orchester usw.) identifiziert wird.


    Bis auf die Schaltstelle von Musik und Politik scheint mir das aber eine Position zu sein, die auch andere bedeutende Musiker haben dürften. Was macht speziell Barenboim dann zur Institution?

    LG :wink:

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  • Ich finde es vorsichtig gesagt nicht ganz abwegig, von der Kunst eine gesellschaftliche Ausstrahlung zu erwarten, die über das rein Ästhetische hinausgeht. Insofern sehe ich schon einen Unterschied zwischen seinem (rein privaten) Eheleben und seinem politischen Engagement. "Der Musiker" mag davon unabhängig sein, "der Künstler" ist es keineswegs. Zumal seine politischen Aktivitäten ja fast immer in einem musikalischen Kontext stattfinden (Divan-Orchester, Konzert in Ramallah, Wagner in Israel, Barenboim-Said-Akademie usw.). Insofern stimme ich dieser Überlegung von Tichy1988 (die er allerdings anders meinte) durchaus zu:

    sehe ich auch so. und, da die Parallele zu Bernstein hier schon mal aufgetaucht ist: der hat mit seinem Musiker-Sein ja auch die eine oder andere politische Stellungnahme verbunden.

    Barenboim hat sich z. B. bisher kaum zum leider weit verbreiteten Judenhass im arabischen Kulturraum geäußert, und alles, was man ihm als Juden als Parteinahme für Israel auslegen könnte, vermeidet er.

    Finde ich eigentlich nicht besonders schlimm: wenn man an Aussöhnung und Überwindung politischer und kulturreller Gräben interessiert ist, liegt es doch nahe, Parteilichkeit für das jeweils eigene Volk und den eigenen Staat zu vermeiden, oder?

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • Sieht man hinter Barenboims nobels Ansinnen und betrachtet die Details, so finde ich durchaus, dass man seine politische Haltung auch kritisch sehen kann - weil sie ziemlich naiv ist. Barenboim hat sich z. B. bisher kaum zum leider weit verbreiteten Judenhass im arabischen Kulturraum geäußert, und alles, was man ihm als Juden als Parteinahme für Israel auslegen könnte, vermeidet er.

    ich erinnere mich jüngst einer Äußerung Barenboims, wo er beide Seiten des Konflikts kritisierte, was dann indirekt auch partielle Pateinahme bzw. Verständnis der Anliegen Israels mit einschhließt...
    ich vermute einfach mal, dass Barenboim soweit Realist, also sich über die schwierige Lage durchaus im klaren und eben kein politischer Trottel ist, der sich von antisemitschen Agitatoren in Nahost einfach so vereinnahmen lässt....

    „Ein Komponist, der weiß, was er will, will doch nur was er weiß...“ Helmut Lachenmann

  • Bis auf die Schaltstelle von Musik und Politik scheint mir das aber eine Position zu sein, die auch andere Musiker haben dürften.

    In dem Maße wie Barenboim? In der Gegenwart? Welche denn? Vielleicht, als sie noch lebten, Abbado oder Boulez. Die sind ebenso wie Barenboim auch Initiatoren von Institutionen gewesen (Abbado: diverse Orchester, Boulez: IRCAM, Ensemble intercontemporain etc.). Wer ist denn sonst z.Zt. Initiator einer Akademie, mehrerer Orchester, eines Konzertsaals? Wer sonst ist seit 25 Jahren künstlerischer Leiter eines wichtigen Opernhauses und des entsprechenden Orchesters? Und wer verfügt über ein derartiges künstlerisches Netzwerk wie Barenboim? Wer wird von anderen berühmten Musikern so häufig als spiritus rector der klassischen Musikszene genannt? Hinzu kommen natürlich noch die "Schnittstellen" zur Politik, die dann wiederum manches im musikalischen Bereich erst möglich machen.

    :wink:

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  • Finde ich eigentlich nicht besonders schlimm: wenn man an Aussöhnung und Überwindung politischer und kulturreller Gräben interessiert ist, liegt es doch nahe, Parteilichkeit für das jeweils eigene Volk und den eigenen Staat zu vermeiden, oder?


    Im Prinzip ja, aber: diese "Beide Seiten haben irgendwie Schuld"-Haltung wird m. E. nicht zu einer Lösung des Konflikts führen. Das meine ich mit "naiv": es ist nobel im Ansinnen, aber nicht zielführend für echte Politik. Aber ich glaube, dass das zu weit führt, weshalb ich diesen Punkt in Barenboims Wirken ja auch ursprünglich mal vermeiden wollte (so ist das halt mit den guten Vorsätzen).

    ich vermute einfach mal, dass Barenboim soweit Realist, also sich über die schwierige Lage durchaus im klaren und eben kein politischer Trottel ist, der sich von antisemitschen Agitatoren in Nahost einfach so vereinnahmen lässt....


    Den Terminus "Trottel" würde ich nicht verwenden, aber Barenboim wollte vor einiger Zeit in den Iran reisen und durfte es nicht, weil er Jude ist. Da fällt es mir schwer, nicht eine gewisse Unbedarftheit auszumachen.

    Aber vielleicht sollten wir wirklich lieber zur Musik zurückkehren. Ich möchte möglichst bald mal versuchen, noch etwas genauer in Barenboims Aufnahme der beiden Brahms-Konzerte von 2015 hineinzuhören, um meinen damaligen Eindruck zu präzisieren. Ich bin ohnehin gerade in Brahms-Stimmung...

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • In dem Maße wie Barenboim? In der Gegenwart? Welche denn? Vielleicht, als sie noch lebten, Abbado oder Boulez. Die sind ebenso wie Barenboim auch Initiatoren von Institutionen gewesen (Abbado: diverse Orchester, Boulez: IRCAM, Ensemble intercontemporain etc.). Wer ist denn sonst z.Zt. Initiator einer Akademie, mehrerer Orchester, eines Konzertsaals? Wer sonst ist seit 25 Jahren künstlerischer Leiter eines wichtigen Opernhauses und des entsprechenden Orchesters? Und wer verfügt über ein derartiges künstlerisches Netzwerk wie Barenboim? Wer wird von anderen berühmten Musikern so häufig als spiritus rector der klassischen Musikszene genannt? Hinzu kommen natürlich noch die "Schnittstellen" zur Politik, die dann wiederum manches im musikalischen Bereich erst möglich machen.


    International würde ich Simon Rattle in einer vergleichbaren Position sehen, im deutschsprachigen Raum Christian Thielemann.

    In einem Punkt stimme ich Dir aber zu. Viele Musiker von Barenboim-ähnlichem Format sind in den letzten Jahren leider gestorben oder haben ihre aktiven musikalischen Karrieren beendet. Das gilt für Abbado, Boulez und Harnoncourt, im pianistischen Bereich für Brendel (der zum Glück noch lebt und u. a. Vorträge hält).

    LG :wink:

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  • International würde ich Simon Rattle in einer vergleichbaren Position sehen, im deutschsprachigen Raum Christian Thielemann.

    Die Gründung welcher Institutionen, Orchester usw. haben denn Rattle oder Thielemann initiiert? Welcher bekannte Musiker sagt über Rattle oder Thielemann "er ist ein Genie, er kann mehr als wir alle" (M. Pressler über Barenboim) oder "er ist die Musik selbst" (Rattle über Barenboim)? Welches Opernhaus, welche Institutionen in Frankreich, Italien und den USA hat Rattle geleitet? Mit welcher Institution ist Thielemann seit über zwei Jahrzehnten quasi verwachsen? Wer von den beiden ist auch als Pianist und Kammermusiker international unterwegs? Wer holt den schwerkranken James Levine zum erstenmal seit Jahren wieder nach Europa, damit er dort ein Konzert dirigiert?

    Bei Thielemann gilt zudem die Einschränkung auf den deutschen Sprachraum (wie Du selbst schon sagtest). Nein, so sehr ich Rattle und Thielemann in manchen Bereichen schätze (und in einigen vielleicht noch mehr als Barenboim) - in puncto Einflussreichtum, Vernetzung und internationaler Präsenz sehe ich sie nicht auf der Stufe wie Barenboim. Und das war der Grund dafür - um zum Ausgangspunkt zurückzukommen - dass ich Barenboim im Threadtitel als "Institution" bezeichnet habe. Womit ich das Ranking "Wer ist der Größte?" lieber auch beenden würde, bevor es peinlich wird. ;)

    :wink:

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  • Dass seine Aktivitäten den musikalischen Kontext meist nicht verlassen, finde ich positiv - mich stört das Möchtegern-Politiker-Gehabe von Leuten wie Bob Geldof oder Bono, die nie demokratisch gewählt worden sind, sich aber trotzdem als politische Entitäten jenseits ihrer künstlerischen Tätigkeit verstehen.

    Verstehe ich. Mein persönliches Feindbild ist in dieser Hinsicht Herbert Grönemeyer ("Ich halte es von meiner Warte aus für völlig überflüssig, mit Politikern zu sprechen.").

    Sieht man hinter Barenboims nobels Ansinnen und betrachtet die Details, so finde ich durchaus, dass man seine politische Haltung auch kritisch sehen kann - weil sie ziemlich naiv ist. Barenboim hat sich z. B. bisher kaum zum leider weit verbreiteten Judenhass im arabischen Kulturraum geäußert, und alles, was man ihm als Juden als Parteinahme für Israel auslegen könnte, vermeidet er.

    Natürlich kann man das kritisch sehen. Aber er sorgt immerhin dafür, dass im Divan-Orchestra (und vermutlich jetzt auch in der Barenboim-Said-Akademie) junge Musiker beider Seiten nicht nur miteinander musizieren sondern auch ins (politische) Gespräch kommen. Ich weiß von Mitgliedern, dass dort bisweilen äußerst kontrovers gestritten wird, und dass Barenboim das fördert und moderierend begleitet. Auch wenn die Presse oft etwas anderes suggeriert: Dieses Orchester ist keine heile Gegenwelt zur politischen Realität und ist auch gar nicht so gedacht, sondern es soll überhaupt einmal beide Seiten zusammenführen, Konflikte zur Sprache bringen, möglichst gegenseitiges Verständnis fördern und natürlich Gemeinsamkeiten in den Mittelpunkt stellen. Es ist eine für ihn, der offenbar die ganze Welt aus dem musikalischen Blickwinkel betrachtet, typische Idee, die erlernten Konfliktstrategien von Orchestermusikern, die sich ja tagtäglich gegen alle persönlichen und künstlerischen Differenzen und Animositäten zu einem gemeinsamen Ensemble zusammenfinden müssen, für den politischen Austausch nutzbar zu machen. Ich sehe deshalb die wichtigste Bedeutung dieses Orchesters nicht in seiner Außenwirkung als politisches Vorzeigeprojekt - da ist mir auch zu viel Naivität und Wunschdenken im Spiel, allerdings eher auf Seiten der Presse -, sondern in der internen Schnittstelle zwischen Lebensrealitäten beider Seiten. Er selbst hat sich in einem Interview gegen die naive Vorstellung eines "Friedensorchesters" gewandt:

    Man spricht über das West-Eastern Divan Orchester als ein Orchester für den Frieden. Das ist es nicht. Frieden heißt eigentlich: Gerechtigkeit für die Palästinenser und Sicherheit für die Israelis. Ein Orchester kann das nicht bringen. Was das Orchester zeigen kann: Wenn eine Situation von Gleichheit geschaffen ist, dann können alle miteinander zusammenarbeiten, essen, zusammen lachen und zusammen weinen.

    Christian

  • Dass seine Aktivitäten den musikalischen Kontext meist nicht verlassen, finde ich positiv - mich stört das Möchtegern-Politiker-Gehabe von Leuten wie Bob Geldof oder Bono, die nie demokratisch gewählt worden sind, sich aber trotzdem als politische Entitäten jenseits ihrer künstlerischen Tätigkeit verstehen.

    Bono und Geldorf sind furchtbar (da gibt's ein paar gute Southpark-Folgen), aber mit demokratischer Entscheidungsfindung hat's ja auch wenig zu tun, wenn es Barenboim im Alleingang gelingt, eine vom Bund üppig bezuschusste Musikhochschule in bester Lage in Berlin zur Erfüllung seiner politischen Ziele bauen zu lassen und dort noch einen Konzertsaal einziehen lässt, den sein Freund entwirft. Sollte es Ausschreibungen, Debatten im Stadtrat o.ä. gegeben haben, habe ich das alles verpasst. Er ist inzwischen halt unangreifbar, das macht mir die Freude über seine teils sicher fraglos guten Projekte etwas schal. Aber er selbst betont ja tatsächlich oft, dass man den Nutzen der Initiativen besser nicht überschätzt, habe ich aus dem Umfeld des West-Eastern Divan auch schon oft gehört. Nur: der Hauch eines Gegenwindes würde den Wert seiner Unternehmungen vielleicht sogar deutlicher herausstellen...

  • Bono und Geldorf sind furchtbar (da gibt's ein paar gute Southpark-Folgen)


    Jetzt wo Du es sagst/schriebst, erinnere ich mich an Teile davon, besonders an die eine Folge mit Bono. Das war schon ziemlich großartig... :D

    aber mit demokratischer Entscheidungsfindung hat's ja auch wenig zu tun, wenn es Barenboim im Alleingang gelingt, eine vom Bund üppig bezuschusste Musikhochschule in bester Lage in Berlin zur Erfüllung seiner politischen Ziele bauen zu lassen und dort noch einen Konzertsaal einziehen lässt, den sein Freund entwirft. Sollte es Ausschreibungen, Debatten im Stadtrat o.ä. gegeben haben, habe ich das alles verpasst.


    Da möchte ich widersprechen. Die Politiker, die das entschieden haben, waren demokratisch gewählt, also war das auch eine demokratische Entscheidungsfindung - genauer: sie war zumindest demokratisch legitimiert. Eins möchte ich dem politischen Engagement von Barenboim zugute halten: er hat m. W. nie versucht, sich zum Sprecher von Leuten aufzuschwingen, die ihn nicht dazu legitimiert haben. Geldof und Bono hingegen meinen für Afrika zu sprechen, nur dass leider niemand die Afrikaner gefragt hat, ob die das überhaupt wollen...

    Ob bei dem Bau des Boulez-Saals alles im Einklang mit den üblichen deutschen Vorschriften gelaufen ist, kann ich nicht beurteilen. Wenn jemand einen Hinweis darauf hat, dass dies nicht der Fall gewesen sein könnte, so möge er/sie Anzeige erstatten.

    LG :wink:

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  • aber mit demokratischer Entscheidungsfindung hat's ja auch wenig zu tun, wenn es Barenboim im Alleingang gelingt, eine vom Bund üppig bezuschusste Musikhochschule in bester Lage in Berlin zur Erfüllung seiner politischen Ziele bauen zu lassen und dort noch einen Konzertsaal einziehen lässt, den sein Freund entwirft. Sollte es Ausschreibungen, Debatten im Stadtrat o.ä. gegeben haben, habe ich das alles verpasst.

    Dass es praktisch keine Debatten im Stadtrat gegeben hat, dürfte daran liegen, dass sowohl der größte Teil der Baukosten als auch die laufenden Betriebskosten vom Bund, und der Rest durch Spenden bezahlt wurden bzw. werden. Bei den Rektoren der beiden alteingesessenen Berliner Musikhochschulen dürfte die Freude über die neue Akademie sich allerdings in Grenzen halten: Viele Lehrbeauftragte (die in Berlin wie überall als billige Lehrkräfte ohne nennenswerte soziale Absicherung missbraucht werden) zieht es wegen der besseren Bezahlung und der hervorragenden Arbeitsbedingungen zur neuen Konkurrenz...

    Christian

  • Die Gründung welcher Institutionen, Orchester usw. haben denn Rattle oder Thielemann initiiert? Welcher bekannte Musiker sagt über Rattle oder Thielemann "er ist ein Genie, er kann mehr als wir alle" (M. Pressler über Barenboim) oder "er ist die Musik selbst" (Rattle über Barenboim)? Welches Opernhaus, welche Institutionen in Frankreich, Italien und den USA hat Rattle geleitet? Mit welcher Institution ist Thielemann seit über zwei Jahrzehnten quasi verwachsen? Wer von den beiden ist auch als Pianist und Kammermusiker international unterwegs? Wer holt den schwerkranken James Levine zum erstenmal seit Jahren wieder nach Europa, damit er dort ein Konzert dirigiert?

    Bei Thielemann gilt zudem die Einschränkung auf den deutschen Sprachraum (wie Du selbst schon sagtest). Nein, so sehr ich Rattle und Thielemann in manchen Bereichen schätze (und in einigen vielleicht noch mehr als Barenboim) - in puncto Einflussreichtum, Vernetzung und internationaler Präsenz sehe ich sie nicht auf der Stufe wie Barenboim. Und das war der Grund dafür - um zum Ausgangspunkt zurückzukommen - dass ich Barenboim im Threadtitel als "Institution" bezeichnet habe. Womit ich das Ranking "Wer ist der Größte?" lieber auch beenden würde, bevor es peinlich wird. ;)


    Jetzt zimmerst Du Dir aber eine ziemlich eigene Deutung des Begriffs "Institution", Motto: eine Institution ist, wer wie Barenboim ist, ergo ist Barenboim eine Institution. ;)

    Rattle hat aus einem mittelprächtigen Orchester ein Weltklasse-Ensemble gemacht und wurde für 16 Jahre Chefdirigent des vielleicht bedeutensten Symphonieorchesters der Welt, dessen frühere Chefdirigenten unter anderem Furtwängler, Karajan und Abbado hießen. Er hat in seiner bisherigen Karriere mit zahlreichen weltberühmten Musikern zusammengearbeitet. Dass er es - anders als Barenboim - vorgezogen hat, in der Regel nicht mehr als einen Chefposten zeitgleich zu bekleiden, kann man ihm wohl kaum vorwerfen - sonst müsste man dies ja auch einem Karajan anlasten. Dass Barenboim dadurch heraussticht, dass er sowohl als Dirigent als auch als Instrumentalist zur Weltspitze zählt, habe ich ja selbst schon angemerkt, aber macht dies jemanden zur "Institution"? Es ist doch wohl eher Ausweis einer phänomenalen musikalischen Begabung und eines eminenten Arbeitseifers.

    Thielemann ist (mit der bekannten regionalen Einschränkung) zu einer festen Größe im Musikbetrieb geworden, er ist - ob man ihn nun mag oder nicht - aktuell der wohl größte deutsche Stardirigent. Außerdem ist er Musikdirektor des renommiertesten Opernfestivals der Welt, wobei dieser Posten überhaupt erst für ihn eingerichtet worden ist.

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Da möchte ich widersprechen. Die Politiker, die das entschieden haben, waren demokratisch gewählt, also war das auch eine demokratische Entscheidungsfindung - genauer: sie war zumindest demokratisch legitimiert.[...] Ob bei dem Bau des Boulez-Saals alles im Einklang mit den üblichen deutschen Vorschriften gelaufen ist, kann ich nicht beurteilen. Wenn jemand einen Hinweis darauf hat, dass dies nicht der Fall gewesen sein könnte, so möge er/sie Anzeige erstatten.

    Sehe ich grundsätzlich auch so, was (vielleicht auch leicht verborgen) im Rahmen der repräsentativen Demokratie passiert, ist demokratisch (mehr Volksbegehren hin oder her). Es wäre allerdings niemandem außer Barenboim gelungen, an allen Fäden der Macht zu zupfen und so ein Gebäude inmitten Berlins mit Geldern des Bundes für eine Akademie nach seinen Vorstellungen aufzubauen. Und das kann nur über Kontakte gelaufen sein, denn ein politisches Amt, das ihn dazu befähigt, hat er nicht inne. Da ist heftiger Lobbyismus nötig und der bewegt sich ja nun nicht immer im Herzen der Demokratie.

    Leichte Kritik regt sich denn auch in diesem Artikel von 2012, den ich gerade gefunden habe (http://www.spiegel.de/kultur/gesells…n-a-867044.html). Wer schonmal um einige tausend Euro zur Kulturförderung bangen musste, der kann da wirklich nur staunen....

  • Es wäre allerdings niemandem außer Barenboim gelungen, an allen Fäden der Macht zu zupfen und so ein Gebäude inmitten Berlins mit Geldern des Bundes für eine Akademie nach seinen Vorstellungen aufzubauen. Und das kann nur über Kontakte gelaufen sein, denn ein politisches Amt, das ihn dazu befähigt, hat er nicht inne. Da ist heftiger Lobbyismus nötig und der bewegt sich ja nun nicht immer im Herzen der Demokratie.

    Leichte Kritik regt sich denn auch in diesem Artikel von 2012, den ich gerade gefunden habe (http://www.spiegel.de/kultur/gesells…n-a-867044.html). Wer schonmal um einige tausend Euro zur Kulturförderung bangen musste, der kann da wirklich nur staunen....


    Ich finde das durchaus bewundernswert, denn die häufig trägen Entscheidungsprozesse in Behörden muss man erstmal beschleunigt bekommen. Dass der Staat, der angeblich nie Geld hat, bei Prestigeprojekten auf einmal auffallend spendabel wird, ist nicht neu und entspricht leider auch meinen eigenen Erfahrungen. Da darf man an der Uni dann für eine läppische Gerätereparatur Klinken putzen, während für die Entwicklung eines tollen neuen Computersystems (das nur leider immer noch nicht existiert) ein Millionenbetrag ausgegeben wird... Das ist m. E. kein Spezifikum einer von Barenboim angestoßenen Initiative, sondern ein generelles Phänomen.

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Es wäre allerdings niemandem außer Barenboim gelungen, an allen Fäden der Macht zu zupfen und so ein Gebäude inmitten Berlins mit Geldern des Bundes für eine Akademie nach seinen Vorstellungen aufzubauen. Und das kann nur über Kontakte gelaufen sein, denn ein politisches Amt, das ihn dazu befähigt, hat er nicht inne.

    Ich finde, dass politische Vernetzung per se nichts Negatives ist. Die Frage ist, ob man sie so nutzt wie Barenboim oder wie seinerzeit z.B. Justus Frantz... Außerdem: Die Akademie ist für keine vorhandene Institution eine wirkliche Bedrohung, weil sie mit der Ausrichtung auf israelisch-/arabische Studierende etwas völlig Neues darstellt. Und die Öffentlichkeit hat den Nutzen durch einen weiteren hervorragenden Kammermusiksaal. Wenn die Abwanderung von Lehrbeauftragten dazu führt, dass diese auch an den staatlichen Hochschulen in Berlin besser bezahlt werden müssen, fände ich das nur gut (ich war selbst mal Lehrbeauftragter...).

    Christian

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