Gibt es alte Musik?

  • Gibt es alte Musik?

    Es führt allmählich vom Thema weg, deshalb nur kurz:
    Jede Musik entsteht in der Gegenwart und wird auch in der Gegenwart gehört. Also ist Musik Gegenwartskunst. Daran ändert auch nichts, dass sie sich auf Vergangenes beziehen kann (bzw. vermutlich sogar muss), sei es durch einen alten Notentext, durch Konventionen, Zitate oder Anspielungen in der Improvisation oder der Interpretation, durch Verwendung alter Formen, Charaktere (z.B. die hier genannten Tanzformen), nationaler Traditionen oder Instrumente. Das alles mag eine Rolle spielen, es mag in unterschiedlichem Maße das Ergebnis beeinflussen, aber dieses Ergebnis ist immer ein gegenwärtiges Klangereignis, welches von einem gegenwärtigen Hörer wahrgenommen wird.

    Christian

    Da das wirklich vom Thema wegführt, habe ich ein neues aufgemacht. Ich finde nämlich, dass die Gedanken, die Du hier anreißt, außerordentlich interessant sind und eine eingehendere Diskussion verdienen. Ich habe keine Ahnung, wohin das führen kann, aber es kann jedenfalls ein aufregendes Abenteuer werden. Und das ist ja allemal viel wert.

    Um die Voraussetzung gleich zu klären: Es geht m. E. bei solchen Betrachtungen nicht darum, herauszufinden, wie irgendetwas »wirklich« ist, also etwa, wie die Musik nun ihrem »Wesen« nach beschaffen ist. Ein reichliches Jahrhunderts nach Nietzsche und unter de Einfluss der Denkbewegungen dieses Jahrhunderts dürfte ja inzwischen Einigkeit darüber bestehen, dass es so etwas wie das »Wesen« eines Phänomens nicht gibt, und dass die Annahme eines solchen nicht einmal als Arbeitshypothese viel taugt.

    Da gilt doch wohl der große Satz des großen Epiktet, den er vielleicht noch größere Laurence Sterne zum Motto seines Romans gemacht hat, der vermutlich zu den weisesten, mit Sicherheit aber komischsten literarischen Erzeugnissen aus der Geschichte der Menschheit gehört (vielleicht ist es ja wirklich das intelligent-komischste Buch aller Zeiten: »Nicht die Dinge bringen die Menschen in Verwirrung, sondern die Ansichten über die Dinge.« Der Inhalt der Sentenz ist unbestreitbar, weil wir über die Dinge nichts in Erfahrung bringen, sondern nur Ansichten über sie haben können. Un wenn wir an bestimmten Punkten in Verwirrung geraten, dann liegt dass daran, dass diese Ansichten in Verwirrung, also nicht miteinander kongruent sind. Und dann hat es Sinn, es mal mit anderen Ansichten zu probieren.

    Zum Beispiel scheint mir der Ansatz, den Du hier skizziert hast, sehr produktiv zu sein, vorausgesetzt, ich verstehe ihn richtig. Wenn ich recht verstehe, geht es um die Frage, was das musikalische Werk ist und wie es in die Existenz tritt. Dein Standpunkt scheint zu sein, dass es in dem Zeitraum entsteht (und vergeht), in dem es vorgetragen und rezipiert wird. Daraus ergibt sich, was Du gleich im ersten Satz lapidar zusammenzufassen scheint: Es gibt keine alte, es gibt nur gegenwärtige Musik. Das würde bedeuten, dass wir uns von der Vorstellung eines Werkes, das einmal geschaffen wurde, seitdem als Existenz zu betrachten ist und nun nur noch mit gewissen – sehr geringen – Varianten immer wieder reproduziert wird, verabschieden müssen. Das hieße, dass zwei Aufführungen von Beethovens 5. Sinfonie keineswegs die reproduzierende Wiedergabe desselben Werkes sind, sondern zwei verschiedene Ereignisse, die, wenn von einem Werk überhaupt die Rede sein kann, zwei Werke sind. (Korrigiere mich, wenn ich den Bogen überspanne und Dir Dinge unterschiebe, die Du nicht vertreten möchtest.)

    Das würde nun bedeuten, dass uns vom Komponisten keineswegs ein abgeschlossenes Werk überliefert ist, sondern dass die Partitur eine – übrigens keineswegs perfekt oder eindeutige – Darstellung eines Materials und einiger Hinweise enthält, wie das Werk zu erzeugen wäre. Um erst mal einen Schritt zurückzugehen: Klar ist ja, dass die Partitur nicht die Musik ist, so wenig wie der Bauplan eines Gebäudes das Gebäude ist. Es sind sogar vollkommen verschiedene Dinge, und es ist durchaus möglich, dass der Verfasser der Partitur das, was daran niedergelegt ist, nicht selbst ausführen kann. (Schuberts Verzweiflung an der »Wanderer-Phantasie«, wenn sie keine Legende ist, spricht da Bände.)

    Wenn man die Dinge so betrachtet (und wenn sich erweisen ließe, dass es sinnvoll und praktikabel ist, sie so zu betrachten), würde sich die Frage, ob man besser neue oder alte Musik spielen sollte, erübrigen, weil der Unterschied sich als illusorisch erwiesen hätte. Ich finde den Gedanken verführerisch, aber das ist natürlich kein Argument.

    Aber bevor wir weiterschauen, gib erst mal ein Zeichen, ob Du mit dieser Ausweitung leben könntest, und was Du dazu meinst.

  • Eigentlich rennst du bei mir hier offene Türen ein. Ich habe heute Abend Shakira gehört (von 2005, also alt), und morgen höre ich Schubert (von 1827, also geringfügig älter, aber kein Vergleich zu den unter Hammurabi entstandenen Werken).

    Außerdem ist das Werk immer das, was zum gegebenen Zeitpunkt von einem Künstler interpretiert wird. Schubert- oder Shakira-CDs sind nur Reproduktionen.

    Jetzt gibt es aber leider im Trägerverein dieses Forums gewisse Tendenzen, die "klassische" Musik gegenüber anderen Stilrichtungen per Satzung zu bevorzugen.

    Unabhängig davon, ob die Satzungsänderung durchgehen wird, muss man wohl feststellen, dass ein signifikanter Teil der Menschheit einen Unterschied zwischen "alter", "klassischer" und "moderner" Musik macht. Ich kann die Bestrebungen also zu einem gewissen Teil verstehen. Nur ist mir halt nicht klar, warum "klassische" Musik unbedingt erhalten werden muss, "moderne" Musik aber nicht. Eigentlich sollte es doch eher um "Qualität" gehen, wie immer man die definiert.

    Genau: Was ist Qualität? Und wie kann man das von Originalität trennen? Ich höre ja auch Haftbefehl. Der ist sicherlich in vieler Hinsicht schlicht, und auch nur als Reproduktion (d.h. von CD) gut erfassbar. Aber er ist so dermaßen original, dass es einfach keinen Ersatz für ihn gibt. Aber gemäß deiner Definition ist Haftbefehl "Alte Musik". Er wird nämlich nicht mehr neu interpretiert.

    Übrigens: In meinem früheren Musikverein (Blasmusik, inkl. Saxophon) wurden sowohl traditionelle Sachen gespielt (Polkas, z.B. von den "Egerländern", Märsche, auch Militärmärsche) als auch Modernes. Als modern galt z.B. Glenn Miller...


    Thomas

  • Jede Musik entsteht in der Gegenwart und wird auch in der Gegenwart gehört. Also ist Musik Gegenwartskunst. [...]

    Sicherlich eine Frage der Definition: wenn es darum geht zu sagen, was das Wesen von Musik darstellt, würde ich nicht unbedingt widersprechen. Allerdings frage ich mich, warum komponierte Musik bzw. aufgenommene Musik nicht ebenso eine andere Definition erhalten können? Einfach weil sie "technische" Hilfsmittel benötigen, um dann die Idee der Gegenwartsmusik ebenso zu erfüllen?

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  • Das hieße, dass zwei Aufführungen von Beethovens 5. Sinfonie keineswegs die reproduzierende Wiedergabe desselben Werkes sind, sondern zwei verschiedene Ereignisse, die, wenn von einem Werk überhaupt die Rede sein kann, zwei Werke sind.

    ich würde dafür plädieren, von DREI Werken zu sprechen: einmal die Komposition, die ich in der Tat auch ohne Aufführung erstmal für ein Werk halte, und dann nochmal die 2 verschiedenen Aufführungen.
    Auch wenn ich ein bißchen Schwierigkeiten damit habe, mit dem Wort "Werk" eine Aufführung zu bezeichnen. Bei einer Opernregiearbeit würde ich auch eher die Konzeption und die ganze Ausführung (vulgo "Inszenierung") als "Werk" bezeichnen und nicht jede Aufführung derselben Inszenierung.

    Vom Interpreten her finde ich den Fokus auf das "gegenwärtige" jeder Aufführung sinnvoll, ist es doch die Aufgabe, aus einem uralten Notentext gegenwärtige Musik zu machen.
    Dennoch verkennt die Behauptung, es gäbe überhaupt nur "gegenwärtige" und also gar keine "alte" Musik, daß es ja durchaus eine Entscheidung ist, die jeder Interpret trifft, sich einen alten Notentext vorzunehmen und die darin enthaltenen Spielanweisungen - von Tonhöhen, Tonlängen (relativ und absolut) über dynamische Zeichen bis zu Artikulationshinweisen - irgendwie zu -interpretieren, was natürlich auch heißen kann, sie nicht komplett zu befolgen. In diesem Moment, wo man gegenwärtig ein altes Stück spielt, tritt man in eine Tradition ein bzw setzt sie fort, und jede Entscheidung in der Gestaltung wird spätestens vom gebildeten Hörer in den Kontext früher getroffener Entscheidungen gestellt. Klar passiert das immer gegenwärtig oder garnicht, aber es ist eben ein Unterschied zu der modernen Musik, wie sie die meisten Menschen mehr oder weniger permanent um sich haben.
    Für den Pophörer ist es erstmal etwas ungewohntes, den "Groove" oder die Ausdruckstiefe eines Stückes als abhängig von einer gegenwärtigen Interpretation zu hören und (begrifflich) zu unterscheiden von den Möglichkeiten, die in der Komposition stecken. Insofern ist die Rezeption einer Klassikaufführung (oder auch - Aufnahme, da stimmt es noch mehr) ein doch komplexerer Vorgang als die einer modernen Studioproduktion, wo das Erklingende mehr oder weniger 1:1 mit dem "Werk" zusammenfällt und es keinen doppelten Boden in Gestalt früherer Interpretationen (bzw überhaupt eines interpretierbaren Notentextes) gibt.
    In dem Moment, wo jetzt ein Jazzer über so einen Gassenhauer improvisiert, entsteht schon sofort so ein doppelter Boden, ein Spiel mit früheren Erscheinungsweisen partiell "selber" melodien, Changes etc.

    ich denke, das sollte man schon unterscheiden zu den natürlich immer vorhandenen Bezügen auf früheres, wie sie gar keine Musik vermeiden kann - es gibt ja auch so etwas wie "Rockgeschichte" und natürlich auch die Dynamik im modernen Popkonzert, wo auch nicht (immer) jede Aufführung gleich klingt. Ein Hinweis liegt für mich in der Tatsache, daß im modernen Kontext reine Coverbands es eher nicht zu übers lokale hinausgehende Berühmtheit als Interpreten bringen, während die ganze Klassikkultur im Prinzip nahezu ausschließlich von "covernden" Musikern getragen wird.
    Wobei der Ausdruck etwas hinkt: ein im modernen Sinne genial covernder Musiker geht mit dem Material um einiges freier um, als es Klassikinterpreten gemeinhin tun.

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • Ich kann mich gerade wegen einer Zahnwurzelentzündung und eines kaputten PCs nicht so richtig beteiligen, aber wenigstens ganz kurz:
    Argonuat hat völlig richtig verstanden und viel besser als ich formuliert, was ich sagen wollte. Mir war schon beim Schreiben bewusst, dass es erstens natürlich eine Definitionsfrage ist und dass man zweitens vermutlich die Sache gründlicher durchdenken muss, aber im Kern ist es meines Erachtens richtig, dass Musik immer im selben Augenblick entsteht, in dem sie gehört wird (natürlich abgehen von der Zeit, die der Schall zum Ohr braucht), und dass das weitreichende Konsequenzen hat. Ich glaube übrigens, dass diese Gedanken in erster Linie in meiner Erfahrung als Hörer wurzeln, nicht als Interpret.
    Ohne PC kann ich gerade auch nicht zitieren, aber hier war die Rede davon, Spielanweisungen zu "befolgen": Das ist bei der traditionellen Notenschrift in praktisch allen Fällen unmöglich. Mir fällt kein einziges Zeichen ein, welches nur eine einzige Ausführung erlauben bzw. erzwingen würde. In der Kombination ergibt das dann eine unendlich große Menge an Möglichkeiten. Auch aus Interpretensicht scheint mir also die Vorstellung eines Werks sinnvoll zu sein, welches im Augenblick entsteht.
    Aufgezeichnete Musik ist ein Spezialfall, denn sie ist eben das: aufgezeichnet. Das würde ich eher vergleichen mit einer abgefilmten Theateraufführung, die auch kein Theater im eigentlichen Sinn mehr ist.
    Soweit für den Moment und wie gesagt mit mehrfachem Handicap...

    Christian

  • Das ist bei der traditionellen Notenschrift in praktisch allen Fällen unmöglich. Mir fällt kein einziges Zeichen ein, welches nur eine einzige Ausführung erlauben bzw. erzwingen würde. In der Kombination ergibt das dann eine unendlich große Menge an Möglichkeiten.

    das ist ja richtig. Trotzdem - vor Allem wenn man es mit Musik aus anderen Kulturen vergleicht (nicht allen), die ohne Notenschrift oder vergleichbares arbeiten, sind doch eine Menge Dinge fixiert (wenn auch in der Ausführung flexibel): die Tonhöhen (okay, mit stimmungsabhängigen Differenzen), die Länge der Töne (bzw der relative zeitliche Abstand zum jeweils Nächsten) - natürlich ist alles interpretationsbedürftig, da bin ich ja bei Dir - dennoch gerät der kulturelle "Sonderfall" (menschheitsgeschichtlich) des "Spielens nach Noten" aus dem Blick, wenn man jetzt so tut, als hätte der (meistens aus mehr oder weniger ferner Vergangenheit stammende) Notentext keinen Einfluss auf das Gefühl, etwas irgendwie "altes" zu reproduzieren - das fällt halt eher von aussen auf, aus dem Blickwinkel derer, die mit der mehrhundertjährigen Tradition dees "Nach-Noten-Spielens" nicht so vertraut sind.

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  • hier war die Rede davon, Spielanweisungen zu "befolgen": Das ist bei der traditionellen Notenschrift in praktisch allen Fällen unmöglich. Mir fällt kein einziges Zeichen ein, welches nur eine einzige Ausführung erlauben bzw. erzwingen würde. In der Kombination ergibt das dann eine unendlich große Menge an Möglichkeiten.

    egal, wie groß die Möglichkeiten sind, Spielanweisungen zu befolgen: Ein Spieler, der Schuberts B-Dur-Sonate spielt, befolgt nicht die Spielanweisungen, die in den Noten der Hammerklaviersonate enthalten sind.

    ---
    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • egal, wie groß die Möglichkeiten sind, Spielanweisungen zu befolgen: Ein Spieler, der Schuberts B-Dur-Sonate spielt, befolgt nicht die Spielanweisungen, die in den Noten der Hammerklaviersonate enthalten sind.

    Das ist richtig. Er "befolgt" nämlich in beiden Fällen gar keine "Spielanweisungen".

    Christian

  • Er "befolgt" nämlich in beiden Fällen gar keine "Spielanweisungen"

    da ist wohl was dran - Noten sind sicher mehr als Spielanweisungen. Darum schrieb ich von den Noten, die Spielanweisungen "enthalten", nicht "sind". Denn der Aspekt der Spielanweisungen dürfte kaum ganz zu eliminieren sein.

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    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Danke für die Eröffnung einer interessanten Diskussion (hoffe ich jedenfalls...)!

    Zwei Anmerkungen (um mich eingehender mit den Argumenten zu befassen, habe ich momentan leider keine Zewit):

    Ein reichliches Jahrhunderts nach Nietzsche und unter de Einfluss der Denkbewegungen dieses Jahrhunderts dürfte ja inzwischen Einigkeit darüber bestehen, dass es so etwas wie das »Wesen« eines Phänomens nicht gibt, und dass die Annahme eines solchen nicht einmal als Arbeitshypothese viel taugt.

    Eine solche Einigkeit besteht keineswegs. Es gibt zwar eine Reihe von Philosophen, die bestreiten, daß es sinnlos sei, über das Wesen von Phänomenen zu sprechen, da es diese nicht gebe - aber es gibt auch sehr ernstznehmende Gegenströmungen. Ich finde es durchaus sinnvoll zu fragen, was das Wesen der Musik sei. Aber wenn ich Dich richtig verstehe, ist das nicht das Thema, um das es hier geht, also führe ich das nicht weiter aus.

    Das würde nun bedeuten, dass uns vom Komponisten keineswegs ein abgeschlossenes Werk überliefert ist [...].

    Das nicht. Aber ein unabgeschlossenes, offenes Werk, das nach seiner Schaffung in den geschichtlichen Prozeß eintritt und sich im Lauf der Zeit verändert.

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Aber ein unabgeschlossenes, offenes Werk

    weiß nicht. So würde ich Kompositionen nennen, die teilweise improvisierte Teile enthalten bzw auch von der Form her flexibel sind.
    Was spricht denn dagegen, eine Komposition ein abgeschlossenes Werk zu nennen, das aber im Kunstwerk "Aufführung" oder "Aufnahme" jedesmal neu belebt wird?

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • Was spricht denn dagegen, eine Komposition ein abgeschlossenes Werk zu nennen, das aber im Kunstwerk "Aufführung" oder "Aufnahme" jedesmal neu belebt wird?

    Das Problem ist: Beethovens Symphonie Nr. 5 (beliebiges Beispiel) ist ein abgeschlossenes Werk und es ist ein unabgeschlossenes Werk. Der Widerspruch ist Teil der Sache selbst. Kann und mag ich grad nicht weiter ausführen - ggf. irgendwann später.

    Damit ziehe ich mich hier vorerst zurück.

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • aber im Kern ist es meines Erachtens richtig, dass Musik immer im selben Augenblick entsteht, in dem sie gehört wird (natürlich abgehen von der Zeit, die der Schall zum Ohr braucht), und dass das weitreichende Konsequenzen hat.

    Ich würde weiter gehen und sagen, dass sich das auch auf das Werk bezieht. Ein unabgeschlossenes Werk ist keins. Ein Phänomen kann nur entweder existieren oder nicht existieren. Es gibt keinen Zustand dazwischen. Ich denke, das ist keine Diskussion wert. Wenn also das Werk des Komponisten auch existiert, wenn es nicht gespielt wird, muss es in irgendeiner Form vorhanden sein. Die Frage ist, welche Form das ist. Die Partitur, da sind wir uns sicher einig, ist keine Musik, sie ist nicht mal Kunst (von dem seltenen Fall, dass sie irgendwie künstlerisch gestaltet ist – zum Beispiel mit Illustrationen oder typographischen Finessen – einmal abgesehen, weil diese Gestaltung nichts mit dem musikalischen Gehalt zu tun hat und in den Bereich der Bildenden Kunst gehört), und also auch kein Kunstwerk. Darum würde ich vorziehen, vorläufig auf die Wörter »Interpret« und »Interpretation« zu verzichten, bis geklärt ist, was denn da interpretiert wird.

    hier war die Rede davon, Spielanweisungen zu "befolgen": Das ist bei der traditionellen Notenschrift in praktisch allen Fällen unmöglich. Mir fällt kein einziges Zeichen ein, welches nur eine einzige Ausführung erlauben bzw. erzwingen würde. In der Kombination ergibt das dann eine unendlich große Menge an Möglichkeiten.

    Das ist ein wichtiger Punkt. Die Idee von der »Befolgung von Spielanweisungen« aber auch die damit eng verbundene, dass das musikalische Ereignis die Interpretation (im Sinne von Darstellung, Darbietung) eines auch ohne dieses Ereignis vorhandenen »Werkes« sei, berücksichtigt diesen Punkt nämlich nicht. Um ein Beispiel zu nehmen, das ich gerade gehört habe: Es ist ein ganz erheblicher Unterschied, ob ich höre, wie Knappertsbusch den »Parsifal« spielen ließ, oder wie Boulez das tat. Dabei geht es mir jetzt nicht darum, dass es bei Knappertsbusch im Orchester manchmal bedenklich chaotisch zugeht und die Abstände zwischen dem Orchester und den hörbar verzweifelten Sängern nicht selten nach Takten zu zählen sind, während bei Boulez solche starken Unregelmäßigkeiten kaum zu finden sein dürften. Es geht mir um den vollständig anderen Klang und Gestus, den die Musik in beiden Fällen hat. Allerdings haben die krassen Ungenauigkeiten bei Knappertsbusch durchaus mit seinen Absichten zu tun, sie entstehen nämlich aus dem starken und sehr oft kaum nachvollziehbaren Rubato, das über die ganz Dauer zu einem endlosen (und für meinen Geschmack nervtötenden) Ziehen und Zerren am Tempo führt, bei dem die Sache dann eben immer mal aus den Fugen gerät. Und dieses Rubateo wiederum hat wie der watteweiche Klang sehr viel mit den Absichten des Dirigenten zu tun, die wiederum logischerweise viel mit der Weltsicht jenes Mannes zu tun hat, der zu den Initiatoren jenes zu Recht berüchtigten »Protests des Wagnerstadt München« gegen Thomas Mann zu tun hat. Aber das nähert sich schon zu sehr einer Bewertung der künstlerischen Leistung, um die es mir hier gar nicht geht. Worum es geht: Die Unterschiede sind so erheblich, dass es einfach sinnlos ist, zu sagen, das sei dasselbe Werk. Die extremen Unterschiede in Klang und Gestus bewirken, dass zwei ganz verschiedene Stücke entstehen, die einer ganz verschieden (ich würde zu sagen wagen: diametral entgegengesetzten) Weltsicht Ausdruck geben. Nun ist es natürlich möglich, zu behaupten, dass es bei beiden Dingen einen gemeinsamen Kern, eine »Essenz« gäbe, die man dann vielleicht versuchsweise als das »Werk an sich« bezeichnen könnte. Und damit sind wir dann wieder bei der Frage, in welcher Weise diese »Essenz« existiert, und wie sie als existierend aufgezeigt werden kann. (Die Schwierigkeit ist, dass dieses Zeigen geschehen müsste, ohne dass etwas gezeigt wird, denn sehe ich ja wieder nicht, was da ist, wenn es nicht gezeigt wird. Mir scheint, hier gerät man in unnötige Verwirrung, die man leicht – und nur – bewältigen kann, wenn man die Idee einer »Essenz«, also eines »Werkes an sich« aufgibt.)


    Eine solche Einigkeit besteht keineswegs. Es gibt zwar eine Reihe von Philosophen, die bestreiten, daß es sinnlos sei, über das Wesen von Phänomenen zu sprechen, da es diese nicht gebe - aber es gibt auch sehr ernstznehmende Gegenströmungen

    Das Problem ist nur, dass die Gegenströmung (die übrigens jahrhundertlang die Hauptströmung war, woraus sich ergibt, dass sie inzwischen, wenn sie nur noch die Gegenströmung ist, deutlich an Wucht verliert) nicht aufzeigen kann, wie man sich die Existenz dieser Phänomene vorstellen soll. (Übrigens ist da Vorsicht geboten: Was ich meine, ist keine Form des Nihilismus, auch nicht des Solipsismus. Ich meine lediglich, dass die Phänomene nicht so existieren, wie es uns erscheint, nämlich »an sich«, getrennt und unabhängig von allen anderen, zu denen auch das wahrnehmende Subjekt gehört.)


    Das Problem ist: Beethovens Symphonie Nr. 5 (beliebiges Beispiel) ist ein abgeschlossenes Werk und es ist ein unabgeschlossenes Werk. Der Widerspruch ist Teil der Sache selbst.

    Da sehe ich vier Probleme. Zum ersten ist nicht geklärt, was ein Werk ist. Zum zweiten scheint »abgeschlossenes Werk« ein Pleonasmus zu sein, so dass die Aussage, dass etwas dies sei, leer ist. Zum dritten scheint mir ein »unabgeschlossenes Werk« ein Oxymoron (contradictio in adiecto). Und zum vierten scheint mir, es genügt nicht, einfach zu erklären: »es ist aber doch so«. Und alle Einwände zusammenfassend: Ich hatte einleitend versucht, dass Missverständnis zu vermeiden, dass es um die Frage geht, was etwas »wirklich ist«, weil ich mir unter dieser Frage nichts vorstellen kann. Es geht darum, eine Betrachtungsweise auszuprobieren, die möglicherweise einige Verwirrungen vermeidet, die bei anderen (zum Beispiel essenzialistischen) unweigerlich eintreten und seit langen Zeiten zu den unlösbaren Problemen der Ästhetik zählen. Das heißt aber, dass ein »das uns das ist« an der Fragestellung vorbeigeht. (Zumal ich bestreite, dass irgendetwas in dem gemeinten, essenzialistischen, Sinne irgendwie oder irgendwas ist.)

  • Und nun: "Gibt es "Alte Musik"". Müsste man fragen: gibt es Musik überhaupt?
    Schließlich existiert sie in der Annahme, dass Zeit in eine Richtung verläuft. Kaum einen Bruchteil nach ihrem Erklingen ist sie nicht mehr existent als in unserer Erinnerung.
    Natürlich Basis für Argonauten und andere, die gern lesen, was sie schreiben.

    Wieviele Zeilen muss man darüber verschwenden?
    Statt zu akzeptieren, dass es schlicht so ist: stets neu erschaffene Vergänglichkeit.

    "Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst." Voltaire

  • Ich würde weiter gehen und sagen, dass sich das auch auf das Werk bezieht. Ein unabgeschlossenes Werk ist keins. Ein Phänomen kann nur entweder existieren oder nicht existieren. Es gibt keinen Zustand dazwischen. Ich denke, das ist keine Diskussion wert. Wenn also das Werk des Komponisten auch existiert, wenn es nicht gespielt wird, muss es in irgendeiner Form vorhanden sein. Die Frage ist, welche Form das ist. Die Partitur, da sind wir uns sicher einig, ist keine Musik, sie ist nicht mal Kunst [...], und also auch kein Kunstwerk. Darum würde ich vorziehen, vorläufig auf die Wörter »Interpret« und »Interpretation« zu verzichten, bis geklärt ist, was denn da interpretiert wird.

    Selbst wenn man die Partitur als "Werk" betrachtet, welches mit dem letzten Ton "abgeschlossen" ist: Entscheidend ist in unserem Zusammenhang, dass sie (wie Du geschrieben hast) keine Musik ist. Deshalb ist auch die Darstelltung/Darbietung einer Partitur keine Wiederherstellung eines vorhandenen Werkes sondern ein neues Werk, welches unter anderem auf einer Partitur basiert und seinerseits mit dem letzten Ton "abgeschlossen" ist. Ich finde übrigens auch nicht, dass ein prinzipieller Unterschied zwischen der Darstellung einer Partitur und einer Improvisation besteht, denn auch der Improvisator bewegt sich ja nicht im luftleeren Raum sondern bezieht sich auf Vorhandenes, seien es Jazzstandards, harmonische oder stilistische Konventionen usw. Eine Improvisation, die von solchen Bezügen vollständig frei wäre, würde (wenn sie überhaupt möglich ist, was ich bezweifle) vermutlich als Chaos empfunden.

    Christian

  • Zitat von Argonaut

    Das ist ein wichtiger Punkt.

    Nochmal:
    Das Argument verstehe ich überhaupt nicht. Das Gegenteil ist doch der Fall. Nur, weil die Anweisung unscharf ist, kann ich sie befolgen. Wenn mir im Straßenverkehr das Gebot "Rechts abbiegen" auf Millimeterbruchteil vorschreiben würde, was ich tun soll, wäre ich dazu außerstande. So aber fahre ich dieselbe Kurve jedesmal anders, und damit befolge ich die Anweisung. (Womit ich, wie oben gesagt, die Partitur nicht auf eine Folge von Spielanweisungen reduzieren möchte).

    ---
    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Die Sache ist eigentlich relativ leicht zu verstehen: Die Anweisungen (wenn man sie so nennen will) verbürgen nicht, dass das entsteht, was dem, der sie einmal aufgeschrieben hat, vorschwebte. Sie können das schon deshalb nicht verbürgen, weil der heutige Lesende, der sie zur Kenntnis nimmt, um auf ihrer Basis ein musikalisches Ereignis Gestalt annehmen zu lassen, diese Anweisungen gar nicht kennt, sondern nur das Bild dieser Anweisungen, das in seinem Bewusstsein entsteht. Selbst aber wenn das nicht so wäre, bliebe das Problem, dass die Anweisungen bei weitem zu unpräzise sind, als dass sie sichern könnten, dass selbst bei genauester Befolgung immer dasselbe herauskommt. (Eine ganz andere Frage ist, wer eigentlich den Befehl ausgegeben hat, dass diese Anweisungen zu befolgen sind. Immerhin ist ja allem Anschein nach allgemein akzeptiert, dass das niemand tut, also z.B. forte spielt, wo pino steht, oder schneller oder langsamer wird, wo es nicht steht und was dergleichen mehr ist.)



    Selbst wenn man die Partitur als "Werk" betrachtet, welches mit dem letzten Ton "abgeschlossen" ist: Entscheidend ist in unserem Zusammenhang, dass sie (wie Du geschrieben hast) keine Musik ist. Deshalb ist auch die Darstelltung/Darbietung einer Partitur keine Wiederherstellung eines vorhandenen Werkes sondern ein neues Werk, welches unter anderem auf einer Partitur basiert und seinerseits mit dem letzten Ton "abgeschlossen" ist.


    Wobei das dann für das musikalische dieselbe Konsequenz hat, die für das theatralische gilt: Wenn es abgeschlossen ist, ist es auch nicht mehr vorhanden. Es gibt dann also tatsächlich keine alte Musik, wie es auch kein altes Theater gibt und geben kann. Ich fürchte, die Analogie mit dem Theaterkunstwerk lässt sich nicht lange halten, aber das muss ich erst mal durchprobieren.

    Ich finde übrigens auch nicht, dass ein prinzipieller Unterschied zwischen der Darstellung einer Partitur und einer Improvisation besteht, denn auch der Improvisator bewegt sich ja nicht im luftleeren Raum sondern bezieht sich auf Vorhandenes, seien es Jazzstandards, harmonische oder stilistische Konventionen usw. Eine Improvisation, die von solchen Bezügen vollständig frei wäre, würde (wenn sie überhaupt möglich ist, was ich bezweifle) vermutlich als Chaos empfunden.


    Der Gedanke gefällt mir. Allerdings gibt es doch einen Unterschied zwischen einer Improvisation und dem Spielen einer Beethoven-Sonate. Jedenfalls wird der sehr deutlich empfunden. Liegt der lediglich darin, dass die Sammlung der Bezugspunkte, die den jeweiligen Ereignissen zugrunde liegen, im Falle der Sonate stärker strukturiert sind als bei der Improvisation? Oder wie ließe sich das fassen? (Das ist ein Nebenzweig der Debatte, aber wenn wir schon mal dabei sind...)

  • Das Problem ist: Beethovens Symphonie Nr. 5 (beliebiges Beispiel) ist ein abgeschlossenes Werk und es ist ein unabgeschlossenes Werk. Der Widerspruch ist Teil der Sache selbst.

    ebent. Schlimm? muss ich, um die ungeklärte Existenzweise einer Komposition bis zur Aufführung nicht aus den Augen/Ohren zu verlieren, ihr gleich den Werkcharakter absprechen?
    Ich finde, man kann hier die Abgeschlossenheit und eben in Bezug aufs reale Erklingen Unabgeschlossenheit gut nebeneinander stehen lassen.

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • Der Schöpfungsakt eines musikalischen Werkes verläuft ja bei notierter Musik in 2 Stufen: 1. Die Notation durch den Komponisten und 2. die Realisierung und Vollendung durch den Interpreten. Bei einer Improvisation gibt es nur den Interpreten der im Moment der Entstehung beide Rollen einnimmt.
    Aber die Realisierung eines notierten Musikwerkes erfolgt, wenn auch mit Unterschieden, doch zumeist in ähnlicher Form. Mitunter sind die Abweichungen von einer zur anderen Darstellung nur marginal, zumal wenn sie von einem Interpreten in einem engen Zeitraum erfolgt. Insofern nehmen wir eine Beethovensonate eher als etwas Einheitliches wahr, im Gegensatz zu einer Improvisation. Sie hat einen höheren Wiedererkennungswert.

    Peter

    "Sie haben mich gerade beleidigt. Nehmen Sie das eventuell zurück?" "Nein" "Na gut, dann ist der Fall für mich erledigt" (Groucho Marx)

  • Der Gedanke gefällt mir. Allerdings gibt es doch einen Unterschied zwischen einer Improvisation und dem Spielen einer Beethoven-Sonate. Jedenfalls wird der sehr deutlich empfunden. Liegt der lediglich darin, dass die Sammlung der Bezugspunkte, die den jeweiligen Ereignissen zugrunde liegen, im Falle der Sonate stärker strukturiert sind als bei der Improvisation?

    Bei der Beethoven-Sonate stimmt das sicher, aber wenn man statt dessen Beethovens eigene Kadenzen nimmt, ist der Unterschied zur Improvisation kaum noch erkennbar. Und es gibt ja z.B. die Konzertetüden von Nikolai Kapustin, die wie improvisierter Jazz klingen, aber ganz klassisch notiert sind. Umgekehrt könnte man auch eine Sonate im klassischen Stil improvisieren. Vielleicht basiert der empfundene Unterschied also doch nur auf der Konvention, dass Improvisationen in der Regel formal freier sind? In Bezug auf die mögliche Komplexität dürfte allerdings wohl doch ein Unterschied bestehen (vermute ich wenigstens; ich bin alles andere als Experte in Sachen Improvisation).

    Christian

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