Gibt es alte Musik?
Es führt allmählich vom Thema weg, deshalb nur kurz:
Jede Musik entsteht in der Gegenwart und wird auch in der Gegenwart gehört. Also ist Musik Gegenwartskunst. Daran ändert auch nichts, dass sie sich auf Vergangenes beziehen kann (bzw. vermutlich sogar muss), sei es durch einen alten Notentext, durch Konventionen, Zitate oder Anspielungen in der Improvisation oder der Interpretation, durch Verwendung alter Formen, Charaktere (z.B. die hier genannten Tanzformen), nationaler Traditionen oder Instrumente. Das alles mag eine Rolle spielen, es mag in unterschiedlichem Maße das Ergebnis beeinflussen, aber dieses Ergebnis ist immer ein gegenwärtiges Klangereignis, welches von einem gegenwärtigen Hörer wahrgenommen wird.Christian
Da das wirklich vom Thema wegführt, habe ich ein neues aufgemacht. Ich finde nämlich, dass die Gedanken, die Du hier anreißt, außerordentlich interessant sind und eine eingehendere Diskussion verdienen. Ich habe keine Ahnung, wohin das führen kann, aber es kann jedenfalls ein aufregendes Abenteuer werden. Und das ist ja allemal viel wert.
Um die Voraussetzung gleich zu klären: Es geht m. E. bei solchen Betrachtungen nicht darum, herauszufinden, wie irgendetwas »wirklich« ist, also etwa, wie die Musik nun ihrem »Wesen« nach beschaffen ist. Ein reichliches Jahrhunderts nach Nietzsche und unter de Einfluss der Denkbewegungen dieses Jahrhunderts dürfte ja inzwischen Einigkeit darüber bestehen, dass es so etwas wie das »Wesen« eines Phänomens nicht gibt, und dass die Annahme eines solchen nicht einmal als Arbeitshypothese viel taugt.
Da gilt doch wohl der große Satz des großen Epiktet, den er vielleicht noch größere Laurence Sterne zum Motto seines Romans gemacht hat, der vermutlich zu den weisesten, mit Sicherheit aber komischsten literarischen Erzeugnissen aus der Geschichte der Menschheit gehört (vielleicht ist es ja wirklich das intelligent-komischste Buch aller Zeiten: »Nicht die Dinge bringen die Menschen in Verwirrung, sondern die Ansichten über die Dinge.« Der Inhalt der Sentenz ist unbestreitbar, weil wir über die Dinge nichts in Erfahrung bringen, sondern nur Ansichten über sie haben können. Un wenn wir an bestimmten Punkten in Verwirrung geraten, dann liegt dass daran, dass diese Ansichten in Verwirrung, also nicht miteinander kongruent sind. Und dann hat es Sinn, es mal mit anderen Ansichten zu probieren.
Zum Beispiel scheint mir der Ansatz, den Du hier skizziert hast, sehr produktiv zu sein, vorausgesetzt, ich verstehe ihn richtig. Wenn ich recht verstehe, geht es um die Frage, was das musikalische Werk ist und wie es in die Existenz tritt. Dein Standpunkt scheint zu sein, dass es in dem Zeitraum entsteht (und vergeht), in dem es vorgetragen und rezipiert wird. Daraus ergibt sich, was Du gleich im ersten Satz lapidar zusammenzufassen scheint: Es gibt keine alte, es gibt nur gegenwärtige Musik. Das würde bedeuten, dass wir uns von der Vorstellung eines Werkes, das einmal geschaffen wurde, seitdem als Existenz zu betrachten ist und nun nur noch mit gewissen – sehr geringen – Varianten immer wieder reproduziert wird, verabschieden müssen. Das hieße, dass zwei Aufführungen von Beethovens 5. Sinfonie keineswegs die reproduzierende Wiedergabe desselben Werkes sind, sondern zwei verschiedene Ereignisse, die, wenn von einem Werk überhaupt die Rede sein kann, zwei Werke sind. (Korrigiere mich, wenn ich den Bogen überspanne und Dir Dinge unterschiebe, die Du nicht vertreten möchtest.)
Das würde nun bedeuten, dass uns vom Komponisten keineswegs ein abgeschlossenes Werk überliefert ist, sondern dass die Partitur eine – übrigens keineswegs perfekt oder eindeutige – Darstellung eines Materials und einiger Hinweise enthält, wie das Werk zu erzeugen wäre. Um erst mal einen Schritt zurückzugehen: Klar ist ja, dass die Partitur nicht die Musik ist, so wenig wie der Bauplan eines Gebäudes das Gebäude ist. Es sind sogar vollkommen verschiedene Dinge, und es ist durchaus möglich, dass der Verfasser der Partitur das, was daran niedergelegt ist, nicht selbst ausführen kann. (Schuberts Verzweiflung an der »Wanderer-Phantasie«, wenn sie keine Legende ist, spricht da Bände.)
Wenn man die Dinge so betrachtet (und wenn sich erweisen ließe, dass es sinnvoll und praktikabel ist, sie so zu betrachten), würde sich die Frage, ob man besser neue oder alte Musik spielen sollte, erübrigen, weil der Unterschied sich als illusorisch erwiesen hätte. Ich finde den Gedanken verführerisch, aber das ist natürlich kein Argument.
Aber bevor wir weiterschauen, gib erst mal ein Zeichen, ob Du mit dieser Ausweitung leben könntest, und was Du dazu meinst.