Béla Bartók: Streichquartett Nr. 4 Sz. 91 (1928)
Im Jahr 1927 unternahm Béla Bartók mit seinem im Vorjahr komponierten ersten Klavierkonzert als Pianist eine Tournee durch Europa und die Vereinigten Staaten und stieß mit dem Werk vielfach auf reservierte, teils ablehnend-verstörte Reaktionen. Die Uraufführung seiner Pantomime „Der wunderbare Mandarin“ 1926 in Köln hatte gar einen Skandal verursacht. Bartók ließ sich nicht beirren, blieb seinem Stil treu und komponierte in den Jahren 1927 und 1928 in vergleichsweise kurzer Folge sein drittes und sein viertes Streichquartett.
Das vierte Quartett gilt wegen seiner polyphonen Dichte, seiner formalen Geschlossenheit, seiner radikalen Tonsprache und nicht zuletzt der Verwendung neuer Klangeffekte als einer der kompositorischen Gipfelpunkte in Bartóks Schaffen. Auch Ästhetiker der Neuen Wiener Schule wie Leibowitz oder Adorno apostrophierten die Quartette Nr. 3 und 4 als die fortschrittlichsten Werke des Komponisten.
Das Werk hat fünf Sätze – keines der sechs Quartette ist in traditionell viersätziger Gestalt angelegt – und dauert insgesamt weniger als 25 Minuten.
Der Komponist selbst lieferte seinem Verleger, der Universal Edition, für das Vorwort der Partitur eine grobe Skizze der formalen Anlage: „Der langsame Satz bildet den Kern den Werkes, die übrigen Sätze schichten sich um diesen. Und zwar ist der IV. Satz eine freie Variation des II., die Sätze I und V wiederum haben gleiches thematisches Material, das heißt: um den Kern (Satz III) bilden die Sätze I, V die äußere, II, IV die innere Schichte.“ In ähnlicher symmetrischer fünfsätziger Anlage konzipierte Bartók auch andere Werke, z. B. sein fünftes Streichquartett.
Der Kopfsatz (Allegro) hat formal, aber nicht harmonisch eine Sonatensatzanlage mit Exposition, Durchführung, Reprise und Coda, die folgenden Sätze sind dreiteilig angelegt. Die Sätze II (Prestissimo, con sordino) und IV (Allegretto pizzicato) haben jeweils Scherzo-Charakter, der Kernsatz ist ein rezitativisches „Non troppo lento“. Das Finale (Allegro molto) hat eine A-B-A'-Anlage und mündet in eine Coda.
Wie bereits in der kurzen Skizze von Bartók beschrieben, beziehen sich die Sätze motivisch sehr eng aufeinander. Bspw. ist die Pesante-Schlussformel der Sätze I und V identisch und legt quasi den motivischen Kern der Sätze offen. Auch die beiden „Scherzo“-Sätze sind motivisch miteinander verwandt.
Insofern wirkt das Quartett geschlossen, obwohl die Sätze sich im Charakter stark voneinander unterscheiden. Die Sätze II und IV allein schon durch die spieltechnischen Gegebenheiten. Während der zweite Satz sordiniert dahinhuscht, wird der vierte durchgehend im Pizzicato vorgetragen. Auch die Ecksätze sind trotz der motivischen Gemeinsamkeiten unterschiedlichen Charakters. Der Kopfsatz wirkt eher konstruktivistisch-streng, das Finale wie ein wilder Tanz. Der Kernsatz hebt sich von den anderen Sätzen ohnehin durch seinen rezitativischen Charakter ab
Im IV. Satz führt Bartók ein neues Vortragssymbol ein, mit dem er ein besonders starkes Pizzicato vorgibt, bei dem die Saite auf dem Griffbrett aufschlägt. Anekdotisch soll der Komponist bei einer Probe seines zweiten Quartetts durch das Waldbauer-Kerpely-Quartett auf diesen Effekt gekommen sein, während derer der zweite Violinist bei einem Pizzicato aus Versehen die Saite auf dem Griffbrett aufschlagen ließ und sich dafür entschuldigen wollte, Bartók das schlagende Pizzicato jedoch gleich noch einmal zu hören verlangte. An besonderen Klangeffekten verwendet Bartók neben seinem schlagenden Pizzicato auf- und absteigende und in den Stimmen teils synkopisch gegeneinander versetzte Glissandi, Pizzicato-Glissandi, im Wechsel auf- und abwärts arpeggierte Pizzicato-Akkorde wie auf einer Gitarre, lässt streckenweise nah am Steg (sul ponticello) oder mit dem Bogenholz (col legno) statt mit den Haaren streichen. Insgesamt macht Bartók sehr detaillierte Vortragsangaben, so etwa im III. Satz, wenn er genau bestimmt, wo ein Vibrato auf den Liegetönen einzusetzen ist.
Außerhalb des III. Satzes verwendet Bartók chromatische, kleinintervallige Motive, die er dicht und intensiv variiert. Weitgespannte Themen oder eingängige Melodien kommen hier nicht vor. Der Kernsatz ist der Ruhepol des Werkes. Über einem Bordun der übrigen Instrumente deklamieren zunächst das Cello, dann die erste und die zweite Violine, später zweite Violine und Viola bzw. erste Violine und Cello gemeinsam. Die Cellomelodie zu Beginn des Satzes ist dabei der hora lungӑ (langer Gesang), einer Art Sprechgesang, nachempfunden, auf den Bartók während seiner Forschungen zur Volksmusik in Rumänien im Kreis Maramures gestoßen war. Auch die Ostinati in den Ecksätzen, vor allem im Finale, der Mittelteil des letzten Satzes mit seinen improvisiert wirkenden Ornamenten oder auch die Gitarren-Pizzicato-Arpeggien im dritten Satz schlagen Brücken zur Volksmusik, ohne dass das Quartett je volkstümlich klänge.
Das Quartett wurde am 22. Februar 1929 durch das Ungarische Streichquartett (Waldbauer-Kerpely-Quartett) im Rahmen eines BBC-Radiokonzerts in London uraufgeführt. Gewidmet hatte es Bartók dem Brüsseler Pro Arte Quartet.
Mich hat dieses Quartett von der ersten Begegnung an fasziniert. Irgendwie war auch ohne den Ansatz eines Verständnisses klar, dass ich es da mit einem Meilenstein zu tun habe. Trotz seiner konstruktiven Strenge, deren Details ich weiterhin allenfalls bruchstückhaft erfasse, reißt mich das Werk weiterhin bei jedem Hören auch emotional mit. Auf Eure Eindrücke zu dieser Musik bin ich natürlich gespannt!
Quellen:
Partitur Universal Edition UE 34311 mit dem Vorwort von Ferenc Bónis von 2009.
Tadeusz A. Zieliński: Bartók: Leben, Werk, Klangwelt, München 1989
Dániel Péter Biró, Harald Krebs (Hrg.): The String Quartets of Béla Bartók, Tradition and Legacy in Analytical Perspective, Oxford 2014