Franz Schubert: Streichquartett d-Moll D. 810 ("Der Tod und das Mädchen")

  • (Christian Köhn mag schon recht haben. Aber erst mal so spielen können...)

    Nur zur Klarstellung: Ich bin wirklich der letzte, der ein solches Können geringschätzen würde. Deshalb hatte ich Dir ja auch ausdrücklich zugestimmt, dass die vier exzellent spielen. Ich finde nur, dass sie - vielleicht ihrem jugendlichen Alter gemäß - mehr Freude an ihrem Können als an der Musik vermitteln, zumindest erwecken sie bei mir diesen Eindruck. Ich muss allerdings dazu sagen, dass ich bei diesem Quartett sowieso verdorben bin, seit ich es im Sommer 1987 mit dem Amadeus-Quartett beim Aldeburgh-Festival gehört habe, zu dem ich damals als Stipendiat eingeladen war. Das war eines der stärksten musikalischen Erlebnisse meines Lebens. Gleich beim ersten Unisono-Einsatz fühlte man sich von dieser Energie buchstäblich in den Sitz gedrückt (unvergesslich ist mir, wie der Bratscher Peter Schidlof dabei mit dem Fuß auf das Podium stampfte), vor allem Norbert Brainin spielte so wunderbar beseelt in den Variationen, dass ich es bis heute noch innerlich zu hören glaube. Und im Finale spielten die vier, als ginge es um ihr Leben, nicht einen einzigen Ton ohne das ganze innere und äußere Drama, es war einfach fantastisch (in der zweiten Hälfte folgte dann noch das g-moll-Klavierquartett von Brahms mit Murray Perahia, der in der Probe von Brainin wie ein Schüler behandelt wurde, aber, obwohl damals immerhin schon 40 Jahre alt, alles ganz brav machte, was von ihm verlangt wurde). Wenige Wochen danach starb Schidlof, und das Quartett löste sich nach 40 Jahren auf. Die beiden Aufnahmen, die das Amadeus-Quartett bei DG von diesem Stück gemacht hat, finde ich gut, aber bei weitem nicht so beeindruckend wie das Konzerterlebnis.

  • Ich muss gestehen, dass mich diese Aufnahme ziemlich kalt lässt, sie weckt bei mir keinerlei Emotion. Die Tempi, vor allem im Kopfsatz und im 2. Satz liegen für meinen Geschmack etwas zu hoch. Selbst mag ich sehr die Aufnahme mit dem Quartetto Italiano, unter anderem. Im Konzertsaal habe ich das d-moll Quartett leider nie gehört.

  • Das Argument war, dass das Fehlen der Mädchen-Strophe diese "umso schmerzlicher" ins Bewusstsein rücke. Ihr Vorhandensein wäre natürlich erst recht ein Beweis gewesen. Das erinnert mich an mittelalterliche Gottesurteile :D .


    Jetzt muss ich mich in diese alte Diskussion doch verspätet auch noch einschalten: Selbstverständlich kann (!) das Fehlen eines (vom intendierten Publikum) zu erwartenden Zitats auch sinntragend sein. Im gegenständlichen Fall muss man noch einmal nachdrücklich darauf hinweisen, dass das zugrundeliegende Lied schon zur Entstehungszeit des Streichquartetts sehr populär und den Zuhörern sicherlich bekannt war.

    Der Text des Liedes lautet bekanntlich:

    Zitat von Matthias Claudius

    Vorüber! Ach vorüber!Geh wilder Knochenmann!Ich bin noch jung, geh Lieber!Und rühre mich nicht an.


    Gib deine Hand, du schön und zart Gebild!Bin Freund, und komme nicht, zu strafen:Sei gutes Muts! Ich bin nicht wild,Sollst sanft in meinen Armen schlafen.

    Es handelt sich, wie bekannt, um einen Dialog zwischen dem Mädchen und dem Tod. Der Tod reagiert auf das panische Gestammel des Mädchens. Schubert hat Claudius' Textgestaltung aufgegriffen und die beiden Strophen in entsprechend antithetische Musik gegossen; für den Variationssatz von D.810 hat er sich aus welchen Gründen auch immer entschieden, die zweite Strophe als Thema herzunehmen. Aber mit dieser Entscheidung konnte er gar nicht vermeiden, dass das Publikum auch die Mädchen-Strophe assoziieren würde. Man kann gar nicht von einem bekannten Dialog die Replik zitieren und erwarten, dass sich die Zuhörer nicht mehr an die Frage (oder Bitte, in diesem Fall) erinnern.

    Ganz anders wäre es, wenn Schubert die erste Strophe als Thema genommen hätte. Dann könnte man sagen, dass die Antwort innerhalb des Satzes oder des Quartetts eben keine Rolle spiele. Aber so wird mit dem Einsatz des Themas auch die Mädchenstrophe im Kopf des Zuhörers grundsätzlich assoziativ verfügbar gemacht; deswegen lassen sich auch die Violinfiguren der ersten Variation (wie ich meine, richtig) als Reflex der Angst des Mädchens deuten. In den übrigen Sätzen wäre ich da freilich sehr vorsichtig; klar kann sich Schubert grundsätzlich vom Thema Tod inspirieren haben lassen, aber er konnte von linearen Zuhörern sicherlich nicht erwarten, bereits im ersten Satz arkane Anklänge an die Mädchen-Musik herauszuhören.

    Die Grundtonart d-moll und der Charakter des 1. und 3. Satzes sprechen freilich dafür, dass das Quartett grundsätzlich als tragisch-existentiell intendiert war und Assoziationsmöglichkeiten zum Thema Tod auch sonst nicht peinlich vermied; das einst kirchlich-seriöse d-moll hat spätestens mit dem großen Erfolg des Mozart-Requiems (und des Don Giovanni) in der öffentlichen Wahrnehmung wohl doch Konnotationen einer Trauertonart/Todestonart/Jenseitstonart erhalten. Beleg dafür ist etwa Mozarts d-moll Streichquartett KV 421, dem zu Beginn des 19. Jh. nachträglich (und sicher fälschlich!) außermusikalische Schmerz-Affekte unterschoben wurden, weil das bei d-moll halt so zu sein hatte. Der französische Musiktheoretiker Jérôme-Joseph de Momigny unterlegte Violin- und Cellostimme des ersten Satzes mit einem selbstgedichteten Text von Didos Abschiedsdialog mit Aeneas, um den emotional-psychologischen Gehalt der Komposition zu verdeutlichen; Constanze Mozart erfand die vollkommen absurde Anekdote, dass Mozart in diesem Streichquartett ihre Wehen und Schmerzensschreie bei der Entbindung musikalisch umgesetzt habe. Wir sind hier in Schuberts Lebenszeit; so naiv kann er nicht gewesen sein - gerade bei einem Werk, das aufs große Publikum zielte -, nicht zu wissen, dass Tonart und Liedzitat für seine Zuhörer semantisch aufgeladen sein würden.

    Liebe Grüße,
    Areios

    "Wenn [...] mehrere abweichende Forschungsmeinungen angegeben werden, müssen Sie Stellung nehmen, warum Sie A und nicht B folgen („Reichlich spekulativ die Behauptung von Mumpitz, Dinosaurier im alten Rom, S. 11, dass der Brand Roms 64 n. Chr. durch den hyperventilierenden Hausdrachen des Kaisers ausgelöst worden sei. Dieser war – wie der Grabstein AE 2024,234 zeigt – schon im Jahr zuvor verschieden.“)."
    Andreas Hartmann, Tutorium Quercopolitanum, S. 163.

  • Constanze Mozart erfand die vollkommen absurde Anekdote, dass Mozart in diesem Streichquartett ihre Wehen und Schmerzensschreie bei der Entbindung musikalisch umgesetzt habe.

    da gehts dann aber schon mehr um Leben als um Tod?

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • Dass d-moll, zumal außerhalb von Kirchenmusik, semantisch so klar "Tod" bedeuten soll, bezweifle ich. Ich habe das Werk in den letzten paar Wochen mehrfach gehört und ich kann die angeblichen Bezüge zum Tod generell oder erst recht zu dem eher mild-resignativen Gestus des Liedes immer weniger nachvollziehen... ;) Die drei schnellen Sätze sind dafür alle zu kraftvoll, stellenweise ekstatisch. Und auch der Variationensatz ist stellenweise zu dramatisch, ingesamt zu abwechslungsreich (und der endet eben auch verklärend-mild, nicht tragisch).

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Die Grundtonart d-moll und der Charakter des 1. und 3. Satzes sprechen freilich dafür, dass das Quartett grundsätzlich als tragisch-existentiell intendiert war und Assoziationsmöglichkeiten zum Thema Tod auch sonst nicht peinlich vermied; das einst kirchlich-seriöse d-moll hat spätestens mit dem großen Erfolg des Mozart-Requiems (und des Don Giovanni) in der öffentlichen Wahrnehmung wohl doch Konnotationen einer Trauertonart/Todestonart/Jenseitstonart erhalten. Beleg dafür ist etwa Mozarts d-moll Streichquartett KV 421, dem zu Beginn des 19. Jh. nachträglich (und sicher fälschlich!) außermusikalische Schmerz-Affekte unterschoben wurden, weil das bei d-moll halt so zu sein hatte. Der französische Musiktheoretiker Jérôme-Joseph de Momigny unterlegte Violin- und Cellostimme des ersten Satzes mit einem selbstgedichteten Text von Didos Abschiedsdialog mit Aeneas, um den emotional-psychologischen Gehalt der Komposition zu verdeutlichen; Constanze Mozart erfand die vollkommen absurde Anekdote, dass Mozart in diesem Streichquartett ihre Wehen und Schmerzensschreie bei der Entbindung musikalisch umgesetzt habe. Wir sind hier in Schuberts Lebenszeit; so naiv kann er nicht gewesen sein - gerade bei einem Werk, das aufs große Publikum zielte -, nicht zu wissen, dass Tonart und Liedzitat für seine Zuhörer semantisch aufgeladen sein würden.

    Diese schöne Theorie hat leider einen entscheidenden Haken: Ausgerechnet der Variationssatz mit dem "Todesthema" steht nicht in d-moll sondern in g-moll. Aber wahrscheinlich soll die "falsche" Tonart hier das Fehlen der "richtigen" einfach nur "umso schmerzhafter ins Bewusstsein rücken" :D .


    Ich habe das Werk in den letzten paar Wochen mehrfach gehört und ich kann die angeblichen Bezüge zum Tod generell oder erst recht zu dem eher mild-resignativen Gestus des Liedes immer weniger nachvollziehen... Die drei schnellen Sätze sind dafür alle zu kraftvoll, stellenweise ekstatisch. Und auch der Variationensatz ist stellenweise zu dramatisch, ingesamt zu abwechslungsreich (und der endet eben auch verklärend-mild, nicht tragisch).

    Ja, genauso höre ich das auch.

  • Übrigens, auch das hier basiert auf einer falschen Voraussetzung:

    Schubert hat Claudius' Textgestaltung aufgegriffen und die beiden Strophen in entsprechend antithetische Musik gegossen; für den Variationssatz von D.810 hat er sich aus welchen Gründen auch immer entschieden, die zweite Strophe als Thema herzunehmen. Aber mit dieser Entscheidung konnte er gar nicht vermeiden, dass das Publikum auch die Mädchen-Strophe assoziieren würde. Man kann gar nicht von einem bekannten Dialog die Replik zitieren und erwarten, dass sich die Zuhörer nicht mehr an die Frage (oder Bitte, in diesem Fall) erinnern.

    Schubert hat nicht die "zweite Strophe" als Thema genommen sondern vor allem das textlose Klaviervorspiel. Dieses bildet den ersten Teil des Themas und wird im zweiten in einer Weise entwickelt, die es so im Lied nicht gibt. Erst danach zitiert er dann ein paar Takte aus dem Lied ("Sei gutes Muths"). (Ergänzung: Auch dieses Zitat stammt wieder nur aus dem Klavierpart, die darüberliegenden Repetitionen der Gesangsstimme fehlen.) Zusammengenommen ist das ein Thema, welches zwar eindeutig auf dem Lied basiert, sich aber zugleich formal von dessen gesungenem Teil und damit vom Text entfernt hat. Das Fehlen des ganzen Mädchen-Abschnitts unterstreicht das nur noch. Da die Voraussetzung also nicht stimmt, ist auch die Schlussfolgerung unzulässig.

  • "Tod & Mädchen" vom Vision String Quartet ist übrigens vollständig in der Tube.
    Allerdings gestückelt, und springt automatisch immer wo anders hin, aber nicht zur Fortsetzung. Daher hier zusammengestellt. Den 3. Satz fand ich am schwierigsten zu finden.
    In der Tat eigenwillig, aber hat was!

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    :wink:

    amamusica

    Ein Blümchen an einem wilden Wegrain, die Schale einer kleinen Muschel am Strand, die Feder eines Vogels -
    all das verkündet dir, daß der Schöpfer ein Künstler ist. (Tertullian)

    ...und immer wieder schaffen es die Menschen auch, Künstler zu sein.
    Nicht zuletzt mit so mancher Musik. Die muß gar nicht immer "große Kunst" sein, um das Herz zu berühren...


  • Die hier

    hat mir auch sehr gut gefallen. Klanglich ist sie zum Glück weit weniger opulent als die alte DECCA-Aufnahme des Takacs-Quartetts. Die Wiederholung der Kopfsatz-Exposition lassen sie weg, womit ich bei D. 810 gut leben kann. Wenn ich es richtig gehört habe (habe das dann nicht noch einmal überprüft), spielen sie die Wiederholung der Variation im 2. Satz, die zum Höhepunkt des Satzes mit dem Cello-Solo überleitet, mit einem stärkeren Crescendo als beim ersten Durchgang, während bspw. ABQ oder auch Melos in der neueren HMF-Einspielung die Lautstärke-Entwicklung nicht verändern. Fand ich hier recht überzeugend gelöst.


    Ja, Missverständnis. Ich meine die sechste Variation mit den repetierten Sechzehnteln in den Oberstimmen und dem zweiten Abschnitt mit dem Cello-Diskant-Solo.

    Da soll (zumndest gemäß meiner Eulenburg-Partitur) beim ersten Durchgang überhaupt kein crescendo stattfinden. Es steht explizit bei der 1a volta: „La repetizione poco a poco crescendo sino al ff“. Ansonsten gilt die pp Anweisung von Beginn der Variation (Takt 121) bis dahin.
    Tatsächlich spielen die Hagens, Melos- und auch Alban-Berg-Qu. für mich sinnentstellend schon beim ersten mal crescendo um dann bei der Wiederholung unvermittelt ins pp zurückzufallen. Die einzige mir bekannte Aufnahme, die das stimmig und richtig macht, ist die wunderbare Aufnahme des Busch-Quartett von 1936. Da bleibt alles im pp, bis es bei dann der Wiederholung (und erst da!!) zum geforderten cresc. so ab Takt 125 kommt.

    Sollte es in der neuen Schubert-Ausgabe, die ich nicht besitze, jetzt andere Dynamik-Vorschriften geben, dann muss ich mich geschlagen geben, aber für mich ist das durchgehende pp bis zur Mitte der Wiederholung die wesentlich faszinierendere Interpretation.

    VG, Stephan.

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    Was ist heute Kunst ? Eine Wallfahrt auf Erbsen. (Thomas Mann, Doktor Faustus, Kap. XXV)

  • Da soll (zumndest gemäß meiner Eulenburg-Partitur) beim ersten Durchgang überhaupt kein crescendo stattfinden. Es steht explizit bei der 1a volta: „La repetizione poco a poco crescendo sino al ff“. Ansonsten gilt die pp Anweisung von Beginn der Variation (Takt 121) bis dahin.

    Ja, in der Peters-Edition der Stimmen ist das meiner Erinnerung nach auch so. Ich habe nur die Dover-Ausgabe der Streicher-Kammermusik, also den Nachdruck der Breitkopf-Ausgabe von 1890. Da ist das Crescendo bereits im ersten Durchgang vorgesehen. Ist aber natürlich auch kein Urtext. Vielleicht kann ja jemand mit den Angaben aus der neuesten Ausgabe aushelfen?
    Selbst wenn es aber im Urtext nicht vorgesehen war, finde ich das Crescendo erst in der zweiten Runde schon auch überzeugender.

  • Vielleicht kann ja jemand mit den Angaben aus der neuesten Ausgabe aushelfen?

    Ja, kann ich: Der einzige Unterschied in der Dynamik ist, dass das cresc. beim ersten Mal bis zum ff.am Beginn der Klammer 1 und beim zweiten Mal darüber hinaus bis zum fff in T. 129 geht (also die Strichelung über die Klammer 2 fortgesetzt wird). Im Kritischen Bericht wird dazu lediglich angemerkt, dass verschiedentlich vorgeschlagen wurde, auch in der Klammer 1 die Strichelung bis zum Taktende fortzusetzen, was aber durch die Quellen nicht gedeckt ist. Die Wiederholung war zunächst nicht vorgesehen und wurde von Schubert nachträglich eingefügt, wobei er keine Klammer sondern nur die geänderte letzte Sechzehntel-Figur in der ersten Violine geschrieben hat. Die Formulierung "La repetizione poco a poco crescendo" steht nicht einmal in der Alten Schubert-Ausgabe (die ansonsten etliche eigenmächtige Veränderungen gegenüber dem Autograph enthält). Das Autograph kann man hier sehen, die fragliche Stelle ist auf Seite 24.

  • 2. Satz, letzte Variation

    ich habe jetzt das Vorwort zur Neuausgabe bei Bärenreiter auf der Webseite gelesen (steht dort als pdf zum Downloaden bereit) und da wird auf das unvollständige Autograph bei der Morgan Bibliothek (US-NYpm) verwiesen. Das hatte ich mir zwar bereits vor geraumer Zeit abgespeichert, aber wieder ganz vergessen. Jetzt eben habe ich nachgeschaut (die besagten Takte sind zum Glück noch enthalten) und tatsächlich, da steht ab Takt 124, 3. Sechzehntelgruppe (V 1) ein crescendo verteilt bis zum Ende der 1a volta. Die ist dabei übrigens in der Handschrift nicht explizit und separat geschrieben, sondern der schreibfaule Franzl hat die letzten zwei Sechzehntel, die unterschiedlich sind beim ersten und zweiten Mal einfach im selben Takt hintereinander geschrieben.

    Für mich stellt sich nun die Frage, warum bei Eulenburg und auch in den älteren Stimmenausgaben (siehe imslp) statt dessen diese Bemerkung mit „la repetizione poco a poco crescendo sin‘ al ff“ erscheint. Ich finde sie ja musikalisch einleuchtend, womöglich gab es da eben einen Sinneswandel bei Schubert. Aber das kann ich nicht beurteilen. Die neueren Aufnahmen scheinen auf Notenausgaben zu basieren, die dem Autograph folgen.

    Edit:
    Habe Christians Beitrag eben erst (zu spät...) gesehen. Dass die Wiederholung ursprünglich nicht geplant war, sehe ich jetzt auch, denn die eingequetschten zwei Sechzehntel der 1a volta ganz am Taktende sehen schon sehr eigentümlich aus. Als danke für die Klarstellung. Wobei mir trotzdem die Interpretation des Busch Quartett nach wie vor besser gefällt ;)

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    Was ist heute Kunst ? Eine Wallfahrt auf Erbsen. (Thomas Mann, Doktor Faustus, Kap. XXV)

  • Wobei mir trotzdem die Interpretation des Busch Quartett nach wie vor besser gefällt

    Habe jetzt gerade noch einmal den zweiten Satz in der jüngeren Takács-Aufnahme bei Hyperion gehört. Ja, die spielen die Stelle eulenburgisch ;)

    Wäre vielleicht etwas für Dich, auch wenn die Latte mit Busch natürlich hoch liegt.

    Gibt's gerade günstig gebraucht:

  • Habe jetzt gerade noch einmal den zweiten Satz in der jüngeren Takács-Aufnahme bei Hyperion gehört. Ja, die spielen die Stelle eulenburgisch ;)
    Wäre vielleicht etwas für Dich, auch wenn die Latte mit Busch natürlich hoch liegt.

    Gibt's gerade günstig gebraucht:

    Interessant ist, dass das Busch Quartett außer dem ersten Teil des Themas und eben dieser letzten Variation keine sonstigen Wiederholungen spielt. Das wahrscheinlich, weil die Aufnahme zu Schellack-Zeiten entstand, wo das Stück sonst alle Grenzen gesprengt hätte (ich habe eine Schellack-Aufnahme von D810 mit dem Budapest-Quartett, die geht über insgesamt 4 1/2 Scheiben (große mit 30cm!!)...).
    Dass sie aber genau bei dieser letzten Variation die Wiederholung spielen, schien mir an Hand meines Notentextes mit dem besagten Hinweis da natürlich logisch und unverzichtbar.

    Zu Takács: Mal sehen... ich kaufe nur noch Downloads, keine CDs mehr. Habe letztes Jahr 1500 Scheiben auf eine Synology Disk Station gerippt (stöhn, stöhn), aber dafür geht jetzt ein Vergleich verschiedener Aufnahmen sekundenschnell!!

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    Was ist heute Kunst ? Eine Wallfahrt auf Erbsen. (Thomas Mann, Doktor Faustus, Kap. XXV)

  • Und, wie würdest Du das bei einer Aufführung machen? Wiederholung machen oder weglassen? Crescendo nur einmal oder beide Male, falls Du die Wiederholung berücksichtigen würdest?

    Das kann ich nicht mit Gewissheit sagen, ich bin ja kein Streicher und habe das Stück deshalb immer nur gehört. Ich bin der festen Überzeugung, dass man die allermeisten interpretatorischen Entscheidungen ohne die Wechselwirkung von Idee und konkreter instrumentaler Realisierung gar nicht sinnvoll treffen kann, insofern halte ich mich da lieber zurück. Rein von der Analyse des Autographs und seiner Genese her betrachtet scheint mir die Annahme plausibel, dass Schubert das langgezogene cresc. zur Fortsetzung in Takt 129 notiert und sich erst dann zur Wiederholung der vorangegangenen Takte entschlossen hat. Es kann also sein, dass er dabei - in der offenkundigen Eile der Niederschrift - es versäumt hat, auf das non cresc. beim ersten Mal extra hinzuweisen. Meine "Idee" wäre also erst einmal, die Wiederholung zu spielen und erst beim zweiten Mal zu crescendieren. Es ist aber sehr gut möglich, dass ich beim praktischen Ausprobieren diese Idee modifizieren oder ganz verwerfen würde. Möglich wäre zum Beispiel auch, das cresc. beim ersten Mal nur anzudeuten und dadurch die innere Spannung nach und nach zu erhöhen, die sich dann bei der Wiederholung im fff entlädt, aber auch das müsste konkret ausprobiert werden. So etwas in der Art macht das Emerson Quartett, während Amadeus und Artemis erst bei der Wiederholung cresc. spielen. Egal für welche Lösung man sich letzten Endes entscheidet scheint mir wichtig zu sein, dass man einen langen Spannungsbogen hinbekommt. Das ist aber auch möglich, wenn man zwischendurch noch einmal zurückgeht. Und alles hängt auch davon ab, wie man in diese Stelle überhaupt reinkommt usw., das kann man nicht am Schreibtisch entscheiden.

  • Meine "Idee" wäre also erst einmal, die Wiederholung zu spielen und erst beim zweiten Mal zu crescendieren. Es ist aber sehr gut möglich, dass ich beim praktischen Ausprobieren diese Idee modifizieren oder ganz verwerfen würde. Möglich wäre zum Beispiel auch, das cresc. beim ersten Mal nur anzudeuten und dadurch die innere Spannung nach und nach zu erhöhen, die sich dann bei der Wiederholung im fff entlädt, aber auch das müsste konkret ausprobiert werden.[...] das kann man nicht am Schreibtisch entscheiden.

    Was Christian schreibt, waren ziemlich genau auch meine Gedanken.
    Zunächst würde ich ein crescendo, das über ein Wiederholungszeichen drüber geht (was normalerweise nicht vorkommt), für das erste Mal als nicht unbedingt gültig ansehen. Andernfalls hätte der Komponist präzisieren können, bis wohin das cresc. beim ersten Mal gehen soll. Die Ergänzung eines ff durch einen Herausgeber ist jedenfalls durch das Autograph nicht zwingend gedeckt. Vielleicht war's Schubert grad wurscht. Ich habe die unterschiedlichen praktischen Lösungen bisher auch nicht als ein Problem wahrgenommen. Hauptsache schön und überzeugend gespielt.
    :cincinbier: Khampan

  • Zu Takács: Mal sehen... ich kaufe nur noch Downloads, keine CDs mehr

    Die Hyperion-Aufnahmen gibt es auf deren Website alle auch zum direkten Download :pfeif:

    Das kann ich nicht mit Gewissheit sagen, ich bin ja kein Streicher und habe das Stück deshalb immer nur gehört.

    Macht nix, ein Vollblutmusiker wie Du geht als Streicher h. c. durch ;) . Dein Vorschlag entspricht glaube ich auch dem, was Stephan (leverkühn) als Gestaltung an dieser Stelle bevorzugt. Dass bei Eulenburg und Peters die Anweisung steht, in der ersten Runde nicht zu crescendieren, scheint ja zumindest für eine gewisse Aufführungstraditon in dieser Richtung zu sprechen. Die Auslassung der Wiederholung wäre vermutlich dem Spannungsaufbau nicht zuträglich.

    Ich habe die unterschiedlichen praktischen Lösungen bisher auch nicht als ein Problem wahrgenommen. Hauptsache schön und überzeugend gespielt.

    Sicher. Manche Aufnahme, in der hier zweimal gleich crescendiert wird, fand ich aber in der Vergangenheit nicht so überzeugend, freilich nur dieses Detail betreffend.

  • Macht nix, ein Vollblutmusiker wie Du geht als Streicher h. c. durch .

    Danke, das drucke ich mir aus und hänge es an die Wand ;-). Nein, im Ernst: Ich habe (auch) in der Frage, wie man eigentlich seine interpretatorischen Entscheidungen trifft, so meine eigenen Erfahrungen und Gedanken. Ich kenne mich mit den Möglichkeiten von Streichinstrumenten, vor allem Geigen, ganz gut aus (mein diesbezügliches Repertoire umfasst mehr als 60 Violinsonaten und mehrere hundert Einzelstücke), aber die Vorstellung eines Klangs, einer Phrase, eines Tempos, einer Dynamik usw. bleibt ohne die konkrete, körperliche Produktion immer vage, unpräzise und höchstens vorläufig. "Klang ohne Idee" ist im besten Fall unvollständig und im schlechtesten nichtssagend, aber dasselbe gilt auch für "Idee ohne Klang". Aber hier ist nicht der richtige Ort, das zu diskutieren, also lassen wir es lieber dabei.

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