"Rossini in Wildbad" Reihe bei NAXOS

  • "Rossini in Wildbad" Reihe bei NAXOS

    Der Label NAXOS hat im Laufe der Jahre Aufnahmen von mehreren bekannten, weniger bekannten und unbekannten Opern Rossinis herausgebracht.
    Seit einigen Jahren besteht eine fruchtbare Partnerschaft mit dem Festival ROSSINI IN WILDBAD, von dem sehr viele Live-Aufnahmen bei Naxos erschienen sind. Einige davon sind hervorragend, sogar für bekannte Werke wie L'Italiana in Algeri, andere sind eher die Möglichkeit, eine seltene Oper kennen zu lernen.

    In den letzten Monaten sind mit Adelaide di Borgogna, Sigismondo, Demetrio e Polibio, Bianca e Falliero und gerade Ricciardo e Zoraide 6 Neuproduktionen herausgekommen.
    Anlaß genug, einen Thread zu starten, um diese Aufnahmen vorzustellen und zu kommentieren.

    In diesem Thread sollten nur die Aufnahmen aus Wildbad vorgestellt werden. Das heißt, daß zum Beispiel die NAXOS-Aufnahmen von Tancredi und Il Barbiere di Siviglia nicht vorkommen werden, obwohl beide zu den Top-Aufnahmen der jeweiligen Oper gehören.

    Alles, wie immer, IMHO.

  • Bianca e Falliero

    Zuerst, willkürlich, Bianca e Falliero

    2015 aufgenommen, 2017 erschienen.

    Bianca e Falliero ist eine der weniger bekannten Opern Rossinis. Sie wurde 1819 für il Teatro alla Scala komponiert und ist somit Rossinis letzte Oper für Mailand. In Mailand war man konservativer als in Neapel und so mußte Rossini zu den mit recitativo secco verbundenen geschlossenen Szenen zurückkommen. Allerdings erweiterte er die Szenen stark, mit großer Chorbeteiligung. Nur die drei Hauptpersonen Bianca (Sopran), Falliero (Alt) und Contareno (Tenor) haben eine Solo-Arie, dafür gibt es einige Ensembles, unter denen das Duett Bianca-Falliero im ersten Akt und das Quartett Bianca-Falliero-Contareno-Capellio (Baß) im zweiten herausragen. Die Arie des Tenors gehört zum schwierigsten, was Rossini für diese Stimme komponiert hat; weitere Highlights sind Fallieros Arie Tu non sai, qual colpo atroce im zweiten Akt und die Final-Arie für Bianca, die Rossini allerdings aus der soeben komponierten La Donna del Lago übernommen hat.

    Die Besetzung dieser Aufnahme ist:

    Bianca – Cinzia Forte, Sopran
    Falliero – Victoria Yarovaya, Mezzosopran
    Contareno – Kenneth Tarver, Tenor
    Capellio – Baurzhan Anderzhanov, Baß

    Camerata Bach Choir Poznań
    Virtuosi Brunensis
    Leitung: Antonino Fogliani

    Dies ist fast eine Kammerversion der Oper mit relativ kleinem Orchester und Chor, so daß leichtere Stimmen auch zur Geltung kommen.
    Die Tenor-Rolle ist für einen baritenore konzipiert, so daß Kenneth Tarver nicht in die Stratosphäre steigen muß und seine Aufgabe sehr gut meistert.
    Victoria Yarovaya hat die nötige Bravour in der Koloratur aber keinen sehr dunklen Timbre und im Duett mit Cinzia Forte ist es teilweise schwer, beide Stimmen auseinanderzuhalten. Die Harmonie zwischen beiden stimmt aber, wie übrigens in allen Ensembles, was auch dem schönen Baß von Baurzhan Anderzhanov zu verdanken ist.
    Der Nachteil einer Live-Aufnahme ist, daß Bianca schon eine ganze Oper hinter sich hat, als sie ihre Final-Arie noch einmal alle ihre Kräfte mobilisieren muß aber Cinzia Forte zieht sich beachtlich aus der Sache.
    Fogliani dirigiert mit dem nötigen Drive ein gutes Kammerorchester; man wünscht sich, daß einige Solo-Instrumente (Klarinette z.B.) etwas mehr herausstechen könnten. Interessant das Fortepiano von Silvano Zabeo, der sich ein paar Zwischenspiele gönnt und aktiver ist als sonst, ohne allerdings invasiv zu sein, wie es bei einigen Mozart-Aufnahmen unter René Jacobs der Fall sein kann.

    Diese Oper ist wenig aufgenommen worden. Von der Rossini-Renaissance gibt es ein live aus Pesaro von 1986 mit Katia Ricciarelli, Marylin Horne, Chris Merritt und Giorgio Surjan in den Hauptrollen. Ricciarelli ist von allen verfügbaren Aufnahmen die Bianca mit der vollsten Stimme und dem am meisten ansprechenden Timbre. Marylin Horne hat die gewohnte bis zur Waghalsigkeit reichenden Geläufigkeit, dafür aber eine sehr amerikanische Aussprache mit offenen Vokalen (das ‚o‘ wird fast zum ‚a‘) und einem strapazierten Timbre im hohen Medium und im hohen Register, was dem Duett mit Ricciarelli nicht zuträglich ist. Chris Merritt ist in unverschämt guter Form, Giorgio Surjan etwas blaß. Drei Jahre später in Pesaro war Chris Merritt in außerirdischer Form, Martine Dupuy konnte einen differenzierteren Falliero vereinnahmend darstellen und Daniele Gatti war der sensiblere Dirigent, aber Lella Cuberli war als Bianca sehr vorsichtig und die Aufnahme ist nicht öffentlich verfügbar.

    Veröffentlicht wurde ein weiterer Live von Pesaro 20 Jahre später mit Daniela Barcellona als sehr überzeugendem Falliero aber mit Maria Bayo einer zu leichten Bianca, die am Ende kurz vor der Erschöpfung steht (dies sieht man auf dem als DVD verfügbarenVideo sehr gut).

    Von der Studio-Produktion von Opera Rara konnte man hoffen, daß eine frische Bianca ihre Final-Arie singt. Leider hat man dabei Majella Cullagh, von deren Stimme ein Kommentator auf amazon.com diplomatisch sagt: „it overstays its welcome before she is even through with her first aria“. An Säure ist sie tatsächlich kaum zu übertreffen. Am schönsten sing hier Ildebrando d’Arcangelo als Capellio. Barry Banks als Contareno würde wohl auf der Bühne untergehen. Im Studio kommt er gut durch, kann aber keine Begeisterung wie Chris Merritt oder auch Kenneth Tarver erzeugen.


    Unter dem Strich: Die ROSSINI IN WILDBAD Produktion ist eine durchaus empfehlenswerte Aufnahme für eine lohnende Rossini-Entdeckung.
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    Nebenbei: in ihrer CD Rossini Arias and Duets mit Juan Diego Flórez

    singt Vesselina Kasarova eine fulminante Interpretation der Arie Tu non sai, qual colpo atroce

    Alles, wie immer, IMHO.

  • La Cenerentola

    Nun zu einer bekannteren Oper, La Cenerentola
    2004 aufgenommen, 2005 erschienen

    mit

    Angelina - Joyce DiDonato
    Don Ramiro - José Manuel Zapata
    Don Magnifico - Bruno Praticó
    Dandini - Paolo Bordogna
    Alidoro - Luca Pisaroni
    Clorinda - Patrizia Cigna
    Tisbe - Martina Borst

    Prager Kammerchor
    SWR Rundfunkorchester Kaiserslautern
    Dirigent: Alberto Zedda

    Eigentlich eine Luxus-Besetzung. Joyce DiDonato beherrscht nich nur die Koloratur hervorragend, sie kann auch Zartheit, Liebe vermittelln. Bruno Praticó als Don Magnifico fällt nicht in die Karikatur-Falle und stellt einen komischen Magnifico ohne Übertreibung. Paolo Bordogna ist ein Luxus-Dandini mit schönem Timbre und verblüffender Technik. Luca Pisaroni war damals wie Joyce DiDonato am Anfang seiner Karriere. Er ist kein alter Philosoph, besitzt aber die Autorität desjenigen, der alle Fäden in der Hand hält. José Manuel Zapata fügt sich sehr gut in die Ensembles (sein Liebesduett mit DiDonato ist sehr schön); für seine Arie Sí,ritrovarla io giuro hat er sich wohl zuviel Kraft gespart und ihm fehlt etwas der Eleganz, die z.B. Bogdan Mihai in Stuttgart zeigen konnte : https://www.youtube.com/watch?v=oUY4avBA2Go

    Daß es eine Live-Aufführung ist, merkt man zwar am Zwischen- und am Schlußbeifall, allerdings nicht an der Qualität der Darstellung.
    Alberto Zedda dirigiert extrem präzis, etwas verträumt am Anfang, wie es sich zu einem Märchen gehört, das nach und nach am Momentum gewinnt. Die vertracktesten Ensembles bleiben im Chor, im Orchester und bei den Solisten durchsichtig und strukturiert. Das SWR-Orchester Kaiserslautern hat keine Konkurrenz von La Scala oder anderswo zu befürchten, alle Stimmen verdienen Beifall und Zedda sorgt dafür, daß alle Details der Instrumentierung hörbar bleiben, und zwar von der Ouvertüre bis zum Schlußakkord.
    Der Vorteil einer Live-Aufführung ist, daß hier tatsächlch gespielt wird. Mit kleinen Abstrichen bei DiDonato verfolgt man gebannt das Geschehen; die italienischen Muttersprachler gehen mühelos und mit viel Temperament durch alle Zungenbrecher. Zapata macht tapfer mit (nur ein "zito" statt "zitto" verrät, daß er kein Italiener ist).

    Die Konkurrenz ist hier groß und vieles bleibt Geschmacksfrage (Valentini-Terrani mit ihrer seidenen Tiefe bleibt für mich doch die verführerischte aller Cenerentole) aber hier hat man lebendiges Theater auf höchstem Niveau.

    Unter dem Strich: erstklassige Aufnahme!
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    Alles, wie immer, IMHO.

  • Torvaldo e Dorliska

    Jetzt eine echte Rarität, Torvaldo e Dorliska.
    2003 aufgenommen, 2006 erschienen

    mit

    Il Duca d'Ordow - Michele Bianchini, Baß
    Dorliska - Paola Cigna, Sopran
    Torvaldo - Huw Rhys-Evans, Tenor
    Giorgio - Mauro Utzeri, Bariton
    Carlotta - Anna-Rita Gemmabella, Mezzosopran
    Ormondo - Giovanni Bellavia, Baßbariton

    Ars Brunensis Kammerchor
    Tschechische Kammersolisten Brünn

    Leitung und Cembalo: Alessandro de Marchi

    Torvaldo e Dorliska ist die erste Oper, die Rossini für Rom komponiert hat (seine allererste Oper, Demetrio e Polibio, war zwar dort früher aufgeführt worden, wurde aber nicht speziell für Rom komponiert). Das Libretto stammt von Cesare Sterbini, der später ein weiteres Libretto für Rossini schreiben wird, und zwar für Il Barbiere di Siviglia.
    Torvaldo e Dorliska wird oft als Rettungsoper charakterisiert, ich würde sie als #Metoo-Oper bezeichnen. Der Herzog von Ordow mißbraucht seine Machtposition, um Frauen zu verführen/vergewaltigen. Bei seinem letzten nächtlichen Raid hat er Dorliska angegriffen. Dorliska, die ihren Angreifer nicht hat identifizieren können, sucht Zuflucht in die Burg, wo sie den Herzog zu spät erkennt. Er sagt ihr, daß ihr Ehemann Torvaldo umgebracht wurde. Torvaldo aber wurde gerettet und versucht, in Verkleidung Dorliska eine Nachricht zu überbringen. Dorliska kann aber ihre Freude nicht verbergen, Torvaldo wird erkannt und eingekerkert. Die Angestellten des Herzogs waren aber schon seines Benehmens überdrüssig und hatten einen Überfall auf die Burg organisiert. Der findet glücklicherweise im Moment statt, als der Herzog Torvaldo im Kerker eingenhändig umbringen will:

    Für Rossini war's eine Neuigkeit: eine semiseria Oper. Nicht nur eine tragische Oper mit happy end (das war damals beinahe die Regel), sondern eine tragische Oper, wo komische Charaktere mitmischen, In diesem Fall sind es der Burgverwalter Giorgio, seine Tochter Carlotta und der einfältige Killer Ormondo. Die Oper hatte in Rom keinen durchschlagenden Erfolg; für die Karnevalsaison war sie nicht komisch genug. Dabei hatten die Römer übersehen, daß Sterbini und Rossini mit viel Geist die Gattung der Rettungsoper auf die Schippe genommen hatten. Die an sich wenig wahrscheinlichen Standard-Situationen werden gerade so ernst genommen, daß deren in anderen Fällen unfreiwillige Komik hier zum Vorschein kommt. Hinzukommt - und das hat wohl die Römer verstört -, daß die ausgesprochenen komischen Szenen eher zurückgenommen und in die Handlung integriert sind, so daß klar ist, daß die ganze Oper nicht ernstzunehmen ist.

    In Torvaldo e Dorliska befindet sich kein richtiger Superhit, was wohl dazu beigetragen hat, daß die Oper bis heute recht unbekannt blieb. Allerdings ist die Musik immer auf hohem Rossini-Niveau. Die Orchestrierung ist unbeachtet der niedrigen Qualität des ihm zur Verfügung gestellten Orchesters differenziert und expressiv, die Vokalität raffiniert und die Charakterisierung der Personen gelungen. Zwar wird dies Rossini (u.a. auch in Zusammenarbeit mit Sterbini) noch übertreffen, es bleibt eine kuzweilige satirische Oper mit Witz und auch viel vokalem Reiz.

    Die Wildbad-Einspielung kann aber nicht völlig überzeugen. Huw Rhys-Evans ist ein leichter Tenor, der sich Ausflüge in die Höhe leisten kann. Dabei war die Rolle des Torvaldo für Domenico Donzelli komponiert, der der erste Pollione in Norma sein sollte: kein tenore di grazia, sondern ein baritenore. Schon die erste Arie ist für Rhys-Evans hörbar kräftezehrend. Dorliska ist auch keine Soubrette, sie braucht Durchschlagskraft und das kann Paola Cigna nicht bieten, dazu neigt sie zur Schärfe in der Höhe. Michele Bianchini hat genug Schwärze im Timbre für den Herzog, nicht aber die nötige Fülle. Alessandro de Marchi könnte auch mehr Dramatik bringen.

    Zum Glück kann man andere Aufnahmen finden, obwohl es nicht so viele sind.
    1976 hatte Alberto Zedda die Oper mit dem Orchester der RAI Milano aufgenommen, mit Lella Cuberli als Dorliska, Sigmund Niemsgern als Herzog, Enzo Dara als Giorgio, Lucia Valentini-Terrani als Carlotta. Torvaldo war der etwas weniger bekannte Piero Bottazzo, der genug Power aber auch Zärtlichkeit bringen konnte. Die Aufnahme ist nicht mehr erhältlich, wurde aber auf YouTube gepostet.
    Von 1992 gibt es eine Konzert-Aufnahme mit Massimo de Bernart aus Lugano, die man noch auf CD finden kann. Auch eine exzellente Besetzung mit Stefano Antonacci als Herzog, Ernesto Palacio als Torvaldo und Fiorella Pediconi als Dorliska.

    Torvaldo e Dorliska wurde erst 2006 in Pesaro aufgeführt. Davon gibt es auch eine Live-Aufnahme

    mit Michele Pertusi als Herzog, Francesco Meli als Torvaldo, Bruno Praticò als Giorgio, Simone Alberghini als Ormondo und Darina Takova als Dorliska, die alle ihre Aufgaben bravourös meistern.
    Ich würde aber die DVD Version empfehlen:

    Die Inszenierung hat den Nerv der Oper getroffen. Sie ist realistisch, gerade überzeichnet genug (Michele Pertusi ist ein drakulesker Herzog), um die Komik wirken zu lassen, ohne ins Alberne oder in den Slapstick abzudriften. Sie war allerdings so erfolgreich, daß die Oper 2017 wieder auf den Spielplan in Pesaro kam, diesmal leider auch mit einem zu leichten Tenor als Torvaldo (Dmitry Korchak).

    Unter dem Strich: Die Wildbad-Aufnahme ist keine Katastrophe (Paola Cigna erreicht nicht den Säuregrad von Majella Cullagh), aber nicht die erste Wahl, um diese unbekannte Oper kennenzulernen.
    :thumbup: :thumbup: :thumbup:

    Alles, wie immer, IMHO.

  • Danke für diesen tollen Thread!

    Nicht fehlen darf latürnlich der immer wieder als "endlich kompletter" Tell gelobte Guillaume Tell aus Wildbad.
    Unter den Intendanten, Dramaturgen und Regieassistenten dieses Landes geht das Gerücht um, der komplette Tell dauere sechs Stunden. Ich führe diese Fehlinformation auf einen Eintrag im weit verbreiteten Opernführer von Kurt Pahlen zurück, wo diese Angabe nach wie vor steht. Der immer zuverlässigere Kloiber veranschlagt drei Stunden.
    Dass die Wahrheit irgendwo dazwischen liegt. überrascht nicht wirklich: Immerhin gibt es ja einige GA, die nicht allzu brutal gekürzt sind. Und durchaus mit Prominenz besetzt, ich sage nur Gedda oder Pavarotti als Arnold...!

    Was spricht für die Wildbad-Aufnahme? Für mich trotzdem die Vollständigkeit! Es sind in den Balletten Striche geöffnet worden (die ich im Theater sitzend sehr begrüßen würde), und auch einige Widerholungen in Ensembles sind original ausgeführt. Natürlich ist die Gemmy-Arie dabei und auch die paar Chorstellen im 3. Akt, die gerne zu Recht gestrichen werden. Und im Anhang das furchtbare Finale unter Verwendung des Galopp aus der Ouverture (die Staatsoper Hannover hat sich nicht entblödet, diesen Mist in der diesjährigen Aufführungsserie ernsthaft zu spielen <X ) und eine alternative Fassung des Tiroler-Chors. Schön, das alles mal kennen gelernt zu haben.

    Zur Ausführung: Akustisch einzufangen ist diese Trinkhalle wohl ganz gut, jedenfalls verglichen mit den Aufnahmen im Hause... Aber einen richtigen Breitwand-Sound bekommt man trotzdem nicht hin, so dass die Stellen mit stark ausdifferenziertm Chor (2. Akt) oder mit Fernhörnern etwas flach klingen.

    Antonio Fogliani ist als Dirigent durchweg auf der flotteren Seite unterwegs, was mich wegen der geschlossenheit des Grundtempos überzeugt. So, und nun die Sänger... Ausgerechnet die Oper, die ich immer am meisten bemeckere, weil die Sänger nicht passen, lässt mich jetzt ratlos zurück. Ratlos deshalb, weil mir da jetzt nichts gefehlt hat - und das ist ja schon mal was. Und dann ist natürlich Michael Spyres ein Phänomen. Was der großartige Kenner Rideamus mal konstatiert hat, es dürfe keinen Arnold geben, dessen Passagio oben zwischen g und b liegt (zitiert aus dem Gedächtnis) ist immer noch richtig, weil Rossini gar nicht mit einem C in Bruststimme gerechnet hat - Aber Spyres hat da so eine Trick, das Pasaggio so zu verparken, dass man es nicht bemerkt. Und damit singt er den ganzen Arnold durch. Klanglich schön, etwas pauschal in den Ensembles, wovon er aber auch unverschämt viele und anspruchsvolle hat. Die anderen Sänger sind m.E. rollengerecht besetzt und machen ihre Sache sehr gut, wobei die Frz Aussprache unterschiedlich gut ist.

    Chor und Orchester: Für mich durchweg guter Job. :thumbup:

    Klare Kaufempfehlung

    Ich habe eiserne Prinzipien. Wenn sie Ihnen nicht gefallen, habe ich auch noch andere.

  • Adelaide di Borgogna

    Später ein paar mehr Einzelheiten über Guillaume Tell.
    Jetzt aber wieder mal zur Abwechslung eine weitere Ausgrabung: Adelaide di Borgogna

    2014 aufgenommen, 2017 veröffentlicht
    mit
    Adelaide - Ekaterina Sadovnikova, Sopran
    Ottone - Margarita Gritskova, Mezzosopran
    Adelberto - Gheorghe Vlad, Tenor
    Berengario - Baurzhan Anderzhanov, Baßbariton

    Camerata Bach Choir Poznań

    Virtuosi Brunensis
    Leitung Luciano Acocella

    Adelaide ist wieder eine Oper, die für Rom komponiert wurde (1817-1818, nach La Cenerentola). Es ist eine opera seria für ein Publikum, das sehr konservativ war. Wohl noch konservativer als Mailand für Bianca e Falliero, denn Rossini macht hier gar keine Experimente. Geschlossene Szenen, die mit recitativo secco verbunden werden, keine Extra-Aufgabe für den Chor. Es ist, wie wenn Rossini nach all den Neuigkeiten, die er in Neapel ausprobiert hatte und auch den Neuausrichtungen der Komik in seinen früheren römischen Opern, sich einfach eine Auszeit von der Kreativität gegönnt hätte. Die arie del sorbetto hat er wohl auch delegiert, komponiert hat er klassische Nummern in Tancredi-Manier.

    Die Story ist die der Königin Adelheid, deren Hochburg Canossa von Berengario nach langer Belagerung erobert wurde, wobei ihr königlicher Gemahl das Leben verloren hat. Berengario denkt sich nun, daß es die Gelegenheit ist, sie mit seinem Sohn Adelberto zwangzuverheiraten. Der deutsche Fürst Ottone (der bald Otto der Große sein wird) kommt aber mit seinen Truppen heran. Adelberto versucht, mit ihm ein no fire-Abkommen zustande zu bringen mit dem Hinweis, Adelaide sei eine gefährliche Manipulatrice. Ottone läßt sich aber nicht täuschen, verliebt sich in Adelaide, schlägt Berengarios Truppen und nach seiner Hochzeit mit der Königin fängt endgültig die Zeit von Italien als Haupturlaubsland der Deutschen an, mit weiteren Reisen nach Canossa in Aussicht.

    Der Librettist Giovanni Schmidt (sowas kann man sich nicht ausdenken) hat sich angeblich gut an der historischen Vorgabe gehalten (er hat aber Canossa in Richtung Lago di Garda versetzt, wohl weil es für spätere Generationen deutscher Urlauber werbeträchtiger sein sollte).

    Das Resultat läßt sich, besonders in dieser Realisierung, ganz gut hören. Acocella dirigiert flüssig, mit viel Sinn für Orchesterfarben, ein Ensemble, das seinem Namen eine Ehre macht. Es gibt etliche Instrumentensoli in dieser Oper und sie sind alle sehr gelungen. Es war wohl keine konzertante sondern eine szenische Aufführung und das merkt man, abgesehen von wenigen nicht störenden Bühnengeräuschen, am (interpretatorisch) hörbaren Bühnenleben, das auch die Rezitative mit dem Fortepianisten Michele d'Elia tränkt. Auch ohne Libretto wird der Zuhörer mitgenommen.
    Die vokalen Leistungen sind auch sehr gut. Besonders Margarita Gritskova als Ottone mit ihrem dunkel timbrierten Mezzosopran und ihrer perfekten Koloraturtechnik weiß zu überzeugen. Gheorghe Vlad hat ein angenehmes Timbre, das einen an die spanische Tenorschule erinnert. Ekaterina Sadovnikova hat wohl kein sehr starkes Organ und muß gelegentlich in Ensembles forcieren, was ihre insgesamt gute Leistung aber kaum beeinträchtigt.

    Die Konkurrenz ist nicht sehr groß. In einem live aus Martina Franca vom Jahr 1984 dirigiert Alberto Zedda ein Ensemble mit den Belcanto-Größen Mariella Devia und Martine Dupuy; dabei ist die Akustik nicht sehr gut und es gibt viele Striche. Einer Opera Rara Aufnahme fehlt jedes Leben. Man hat nicht den Eindruck, es wird eine Geschichte erzählt, sondern eine Koloratur-Show oder ein Koloratur-Wettbewerb findet statt. Dazu bringt Majella Cullagh ihren üblichen Säuregrad und auch Jennifer Larmore ist als Ottone zu leicht. Es läßt sich nicht lange aushalten. Ein Video aus Pesaro bringt eigentlich nicht viel. Jessica Pratt, Daniela Barcellona und Bogdan Mihai singen gut, die Inszenierung ist OK, aber die Spannung ist anderswo.

    Unter dem Strich: Adelaide di Borgogna ist kein unbekanntes Meisterwerk aber in dieser Aufnahme ist es eine interessante Kuriosität, der man mit Vergnügen zuhört.
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    Alles, wie immer, IMHO.

  • Semiramide

    Jetzt wieder ein richtiges Meisterwerk:

    2012 aufgenommen, 2013 veröffentlicht

    mit
    Semiramide - Alex Penda, Sopran
    Arsace - Marianna Pizzolato, Alt
    Idreno - John Osborne, Tenor
    Assur Lorenzo Regazzo, Baß

    Camerata Bach Choir Poznań

    Virtuosi Brunensis
    Leitung Antonino Fogliani

    Die Oper selbst muß nicht vorgestellt werden. Es ist ein großartiges Werk in jeder Hinsicht, was auch beinhaltet, daß eine komplette Aufführung über dreieinhalb Stunden dauert (Pausen nicht eingerechnet). Deshalb wurde Semiramide oft gekürzt. Dazu gab es keinen unbedingt zuverlässigen Text, bis Philip Gossett und Alberto Zedda für die Fondazione Rossini Pesaro die kritische Ausgabe erstellt haben. Der Text dieser Ausgabe wird hier ungekürzt dargeboten. Das bedeutet, daß auch alle Wiederholungen da sind. Diese sind selbstverständlich verziert. Es sind keine übermäßige Verzierungen und dazu sind es keine Verzierungen, die nur als showcase für die Sänger dienen (nach dem Motto: hier gibt es eine Fermate, ich nütze die Gelegenheit, um Euch mein ganzes Können zu präsentieren - was Rossini nicht besonders geschätzt haben mag), sondern sie entwickeln sich aus der Dramatik der Musik und der Situation.

    Sinn für Dramatik ist auch das, was Foglianis Dirigat kennzeichnet. Dies hat keineswegs zu Folge, daß er immer schnelle Tempi wählt. Im Finale des ersten Aktes z.B. läßt er die Spannung mit einem ruhigeren Tempo steigen.
    Alex Penda (The Artist Formerly Known As Alexandra Pendatchanska) hat ein ziemlich dunkles Timbre und ziemlich viel Vibrato. Das kann in ihrer ersten Arie Bel raggio lusinghier verwunden, die man oft von lyrischen Sopranen gehört hat. Diese Arie singt sie nicht so clean, wie man sie im Ohr haben kann, dafür aber mit dem Engagement einer autoritären Monarchin, die sie bis zum Ende bleibt. Dies paßt gut in Foglianis dramatisches Konzept und bringt Leben in ihre Duette mit Arsace. Marianna Pizzolato hat die nötige Alt-Stimme und die nötige Autorität für die Rolle, was den Ensembles gut bekommt.
    Lorenzo Regazzo als Assur beginnt etwas auf der sicheren Seite, dafür ist seine Wahnsinnszene am Ende sehr beeindruckend.
    John Osborn überzeugt mich als Idreno nicht. Schon in der Introduktion (là dal Gange) ist sein Atem kurz. Seine erste Arie Ah, dov'è il cimento klingt ziemlich unbeteiligt. Dabei sagt unter anderem Idreno, der immerhin König von Persien ist, daß er vom Verlangen brennt, Assur, dem Oberfeldherrn der babylonischen Armee, einen auszuwischen. John Osbornes Interpretation würde in eine RT-Inszenierung passen, wo Idreno als Harry Potter erscheint. In seiner zweiten Arie, la speranza più soave, ist er zwar soave, aber der furore, der dann kommt, ist einfach viel zu nett.
    Wie ein Idreno im überheblich-rachsüchtigen Modus singen kann, kann man hier: https://www.youtube.com/watch?v=IFL8Nry88nI hören.

    Bei den comprimari ist Marija Jokovic eine Azema, der es gelingt, Liebenswürdigkeit in diese Mördergeschichte zu bringen (eine sanfte Frauengestalt in einem Mafia-Krimi), während Andrea Mastroni als Oroe und Raffalele Facciolà als Geist des ermorderten Nino effektiv zum Drama beitragen. Das Timbre von Vassilis Kavayas als Mitrane schien mir nicht so gut mit dem Rest zu harmonieren, was eine augenblickliche Geschmacksfrage sein kann.

    Vom Chor könnte man sich etwas mehr Engagement in den dramatischen Schlüsselszenen wünschen, das Orchester braucht man nicht mehr zu loben.

    Offizielle Aufnahmen von Semiramide gibt es nicht so viele. Die klassische Aufnahme mit Joan Sutherland und Marylin Horne hat ihre Verdienste (Sutherland und Horne, eben). Sie ist aber arg gekürzt und sowohl Idreno als Assur sind ziemlich indiskutabel. Die DGG-Aufnahme mit Cheryl Studer leidet unter den blutleeren Dirigat von Ion Marin und einem Arsace (Jennifer Larmore) mit einer leichten Mezzo-Stimme und gebellten Koloraturen. In der Aufnahme mit Edita Gruberova wurde die Titelpartie gelegentlich nach oben transponiert. Dort gibt es einige leichte Kürzungen und Flórez ist wie Osborne ein unbeteiligter Idreno. Die Pesaro-Aufnahme unter Alberto Zedda hat die nötige Dramatik, aber mit Kunde wieder ein Idrenchen und Gloria Scalchi ist als Arsace ziemlich underpowered. Eine jüngere Zedda-Aufnahme aus Antwerpen habe ich noch nicht gehört.

    Unter dem Strich: eine sehr empfehlenswerte Aufnahme, was die Vollständigkeit der Partitur und deren interpretativen Umsetzung betrifft (mit Abstrichen bei John Osborn, aber wer kann heutzutage die unmögliche Partie des Idreno singen? - Michael Spyres vielleicht?)
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    Meine Top-Semiramide ist aber eine Rundfunk-Aufnahme aus Lüttich mit Darina Takova, Ewa Podleś, Rockwell Blake und Boris Martinović unter Alberto Zedda. Psychedelisch.

    Alles, wie immer, IMHO.

  • Guillaume Tell

    Alberich hat dankenswerterweise das wichtigste gesagt. Hier ein paar Details mehr.

    Orchester und Chor sind nicht übermäßig groß, was ermöglicht, die Stimmen nicht zu strapazieren und auch einen transparenten Klang zu bekommen. Die Kammervirtuosen aus Brünn sind wie gewöhnt sehr gut, speziell die vielgeforderten Bläser. Der Chor zeigt mehr dramatische Beteiligung als in Semiramide - oder die französische Dramatik paßt ihm besser als die italienische. Fogliani dirigiert zwar etwas rasch aber flüssig und dramatisch effizient. Er trägt richtig über die vier Akte, ohne lärmend und unfokussiert zu wirken wie Pappano. Es gelingt ihm auch, in den Ballettszenen nicht ins Triviale abzudriften.

    Die Comprimari sind in der Regel gut. Allen voran Artavazd Sargsyan als Ruodi mit seinem Solo in der Introduktion. Nur Raffaele Facciolà als Gessler ist etwas zu grummelig.
    Tara Stafford als Jemmy ist eine echte Überraschung. Sie klingt wie ein echter französischer soprano léger, wie Germaine Féraldy oder Mady Mesplé. Ich würde sie nicht unbedingt als Gilda oder Mimí hören wollen, aber als Manon oder Lakmé jede Zeit!

    Judith Howarth als Mathilde hat eine schöne Stimme; ich verstehe aber kein Wort von dem, was sie singt. Erstaunlicherweise ist sie mir doch lieber als Montserrat Caballé (und ich bin sonst ein Caballé-Fan), die zwar wunderschön singt, aber wie im Schlafwandel, ohne zu sich darum zu kümmern, was um sie passiert. "Sombres forêts" hat mit Howarth mehr Charakter und sie integriert sich gut in die Ensembles.

    Andrew Foster-Williams braucht etwas Zeit, um in Fahrt zu kommen, aber dann ist er ein schöner Tell, der mehrere Facetten seines Parts bringt. Bacquier ist zu uniform draufhauerisch. Foster-Williams hat auch Gefühle für seinen Sohn.
    Bleibt Arnold. Michael Spyres profitiert vom kleineren Orchester - aber die Tontechniker haben die Aufführung als solches aufgenommen und keine Microparts auf die Köpfe der Sänger gesetzt, so daß im vierten Akt sein Verhältnis zum Chor realistisch ist. Für die hohen Noten setzt er geschickt und stilvoll die voix mixte ein - wie übrigens auch Gedda und Chris Merritt mit Muti. Sicher heutzutage einer der überzeugendsten Darsteller dieser Rolle.

    Ein paar Worte zur Version. Schon während der Einstudierungsphase der Uraufführung gab's Änderungen. Nach der Uraufführung gab es weitere Kürzungen. Die kritische Ausgabe der Fondazione Rossini (Elizabeth Bartlet 1992) berücksichtigt diese Kürzungen der ersten Aufführungen und gibt den Text, der sich dann stabilisiert hatte, als Rossini Paris verließ. Alles andere wird in den Anhang verlagert.
    Dieser Text der kritischen Ausgabe ist das, was Pappano eingespielt hat. Dabei kommt man um schöne Szenen besonders im vierten Akt (Trio und Gebet).

    Als Gardelli seine Aufnahme gemacht hat, gab es diese Ausgabe noch nicht. Die zuverlässigste Ausgabe war die von Troupenas, der in regelmäßigem Kontakt mit Rossini war. Diese Ausgabe erschien 1829 und wurde schon während der Einstudierung vorbereitet, so daß sie von der aufgeführten Fassung gelegentlich abweicht. Sie wurde 1834 wiederaufgelegt. Korrekturleser war ein gewisser Hector Berlioz. Zusätzlich zur Troupenas-Ausgabe gibt Gardelli Jemmys Arie im dritten Akt.

    Die Wildbad-Aufführung basiert sich auf der kritischen Ausgabe, öffnet aber die Striche, die nach der Uraufführung gemacht wurden. Im Supplement sind ein paar Alternativfassungen, die während der Einstudierung aussortiert wurden und das Finale, das Rossini für die Wiederaufnahme von 1831 gebastelt hat, als der ganze vierte Akt gestrichen wurde.

    Von den CD-Einspielungen auf Französisch ist einzig und alleine die Gardelli-Aufnahme vergleichbar, was die Vollständigkeit betrifft. Interpretatorisch ist sie auf einem hohen Niveau, wobei ich die Dramatik etwas vermisse. Bei Pappano fehlen ca 20 Minuten Musik, dazu ist das Dirigat ziemlich erratisch und von den Sängern ist nur Gerald Finley in der Titelpartie richtig überzeugend.

    Wer Guillaume Tell richtig kennen möchte, sollte denn zu Wildbad zugreifen. Abgesehen von der Chailly Studio-Aufnahme gibt es auf Italienisch einige interessante lives, auf denen man z.B. Mario Filippeschi oder Franco Bonisolli als Arnold hören kann.

    Alles, wie immer, IMHO.

  • Sigismondo

    Jetzt wieder in die Tiefen des unbekannten Répertoires:

    2016 aufgenommen, 2017 veröffentlicht

    mit
    Sigismondo - Margarita Gritskova, Mezzosopran
    Aldamira - Maria Aleida, Sopran
    Ladislao - Kenneth Tarver, Tenor
    Ulderico/Zenovito - Marcell Bakonyi, Baß
    Anagilda - Paula Sánchez Valverde, Sopran
    Radoski - César Arrieta, Tenor

    Camerata Bach Choir Poznań

    Virtuosi Brunensis
    Leitung Antonino Fogliani

    Sigismondo wurde am 26. Dezember 1814 im Teatro La Fenice in Venedig uraufgeführt. Es ist die letzte Oper, die Rossini vor seinen Umzug nach Neapel komponierte.

    Die Vorgeschichte der Oper ist Genoveva-ähnlich. Der polnische König Sigismondo wird von seiner Gemahlin Aldamira geliebt. Sie erteilt dem Minister Ladislao eine Abfuhr, wobei dieser, um sich zu rächen, Sigismondo überzeugt, daß Aldimira ihm untreu gewesen ist. Wie sein englischer Kollege Henry VIII reagiert Sigismondo entsetzt und verurteilt Aldimira zum Tode.
    Aldimira hat aber mehr Glück gehabt als Anne Boleyn oder Catherine Howard. Sie kann fliehen und findet Zuflucht beim Landadligen Zenovito, der sie als seine Tochter Egelinda ausgibt.

    Die Oper beginnt 15 Jahre später. Sigismondo wird von Gewissensbissen gequält, sieht sich verfolgt vom Bild seiner verstorben geglaubten Gattin. Auch Ladislao macht sich selbst Vorwürfe. Inzwischen taucht Aldimiras Vater Ulderico auf und erklärt Sigismondo den Krieg, um den Mord seiner Tochter zu rächen. Als die polnische Armee aufs Feld zieht, kommen sie an Zenovitos Haus vorbei und werden von Egelindas Erscheinung frappiert, die sie an Aldimira erinnert. Sigismondo und Ladislao schmieden den Plan, Egelinda als Aldimira vorzustellen, um Ulderico vom Krieg abzuhalten. Der Plan wird am Hof getestet, aber Egelinda ist nicht sonderbar begeistert, da sie schon vor 15 Jahren böse Erfahrungen gemacht hat. Ladislaos Schwester Anagilda, die sich Hoffnung auf eine Heirat mit Sigismondo gemacht hatte, sieht das auch nicht so gern, aber Ladislaos Handlanger Radoski will sich von seiner Schuld befreien und erklärt Aldimira, die er richtig identifiziert hat, daß er ihr den Beweis ihrer Unschuld geben wird. Nach weiteren Verwirrungen findet alles sein happy end.

    Während der Proben waren Musiker und Sänger begeistert. Die Oper fiel aber bei der Premiere durch. Sie wurde zwar nicht gebuht, aber, was noch schlimmer war, stieß auf höfliches Schweigen.Davon hat sie sich noch nicht richtig erholt.

    Grund dafür war, daß der Librettist Giuseppe Foppa und andere solche Geschichten bereits mehrmals behandelt hatten, was bei den Zuschauern einen gewaltigen déjà-vu Effekt verursachte. Der heutige Zuhörer bekommt einen déjà-entendu Effekt, weil Rossini für die Ouvertüre Teile der Sinfonia von Il Turco in Italia wiederverwendet, hauptsächlich aber, weil er in spätere Opern (u.a. in Il Barbiere und La Cenerentola) Einfälle aus Sigismondo herüberretten wird.

    Die Wildbad-Aufnahme ist sehr gelungen. Margarita Gritskova, die schon in Adelaide di Borgogna als Ottone überzeugt hatte, ist als Sigismondo womöglich noch besser. Sie hat an Volumen gewonnen und ihr tiefes Register ist breiter geworden. Maria Aleida ist etwas auf der leichten Seite, vielleicht am Anfang etwas in der Reserve, weil sie im zweiten Akt einen Hochseilakt erledigen muß, den sie bravurös meistert. Kenneth Tarver hat auch eine schwierige Partie als Ladislao und meistert sie tadellos, auch wenn man sich am Anfang etwas mehr Fülle gewünscht hätte. Die comprimari sind sehr gut, speziell Paula Sánchez-Valverde in der aria del sorbetto der Anagilda im zweiten Akt. Insgesamt ist der erste Akt etwas zaghafter aber im zweiten sind alle auf Hochtouren. Chor und Orchester sind tadellos, Antonino Fogliani hat im Laufe der Jahre seinen Sinn für Rossinis Rhetorik verfeinert.

    Die einzige andere offizielle CD-Aufnahme ist ein live von Rovigo aus dem Jahr 1992 mit Richard Bonynge am Pult und Sonia Ganassi in der Titelrolle. Sie ist auch sehr empfehlenswert und benutzt wie die Wildbad-Aufnahme die kritische Ausgabe der Fondazione Rossini.

    Dabei ist Sigismondo ein durchaus interessantes Stück. Man kann fast von einer experimentellen Oper sprechen. Giuseppe Foppa hatte schon mit Rossini für L'inganno felice, La Scala di seta und Il Signor Bruschino gearbeitet. Er war ein erfahrener Librettist, der bereits Goldoni und Shakespeare (Romeo und Julia) für die Opernbühne verarbeitet hatte. Hier in Sigismondo setzt er den Akzent nicht so sehr auf die Geschichte (die schon damals einem hinlänglich bekannten Muster folgte) als auf deren psychische Verarbeitung durch die dramatis personae. Bereits zeigt die Sprache und die Metrik Zeichen der Verwirrung, was wohl seine Absicht war, denn mit seiner Routine hätte er problemlos regelmäßige Verse kilometermäßig liefern können.

    Rossini, der bereits mit Il Turco in Italia eine quasi-pirandelleske Verfremdung in die Oper eingebaut hatte, stürzt sich auf die Gelegenheit und komponiert eine Musik, wo die Virtuosität die verstörten Gemütszustände der Personen ausdruckt. Die Musiker und Sänger bei den Proben lagen nicht falsch in ihrer Einschätzung. Seine nächste Etappe sollte Neapel sein, wo er auf ein Publikum und ein Team treffen würde, die ihm weitere Experimente möglich machen würden. In Venedig anno 1814 war man noch nicht so weit.

    Die Wildbad-Aufnahme kann man durchaus empfehlen: :thumbup: :thumbup: :thumbup: :thumbup:

    Der fünfte :thumbup: fehlt, weil es aus Pesaro eine geniale Verfilmung gibt:

    Regisseur Damiano Michieletto hat werkgetreu die Handlung in eine Nervenheilanstalt versetzt und mit unterschiedlichen Regie-Einfällen, die ich nicht verraten werde ;) , auf das Innenleben der Personen reagiert.
    Daniela Barcellona gibt nicht nur sängerisch sondern auch darstellerisch einen fantastischen geisteskranken König Sigismondo. Olga Peretyatko kombiniert Eleganz der Stimme und des Auftritts, Antonino Siragusa ist ein exzellenter Ladislao. Die paar € mehr für die DVD (oder BluRay) sind gut angelegt.

    Alles, wie immer, IMHO.

  • Le Siège de Corinthe

    Zurück nach Paris:

    2010 aufgenommen, 2013 veröffentlicht

    mit
    Cléomène - Marc Sala, Tenor
    Néoclès - Michael Spyres, Tenor
    Pamyra - Majella Cullagh, Sopran
    Mahomet - Lorenzo Regazzo, Baß
    Hiéros - Matthieu Lécroart, Baß
    Ismène - Silvia Beltrami, Mezzosopran
    Adraste - Gustavo Quaresma Ramos, Tenor
    Omar - Marco Filippo Romano, Bariton

    Camerata Bach Choir Poznań

    Virtuosi Brunensis
    Leitung Jean-Luc Tingaud

    Le Siège de Corinthe ist die erste französische Oper, die Rossini schrieb. Sie wurde in Paris 1826 uraufgeführt.
    Allerdings ist es keine 100%ige Neukomposition, sondern die Verarbeitung der italienischen Oper Maometto secondo, die 1820 in Neapel uraufgeführt wurde.
    Rossini hat aber für seine erstes Werk für die Académie royale de musique das Werk grundlegend im Stil der tragédie lyrique verändert. Die Handlung wird von der obskuren Kolonie Negroponte nach Korinth verlagert, was schon an sich einen klassischen Touch gibt. Die Namen der Protagonisten wurden von Anna auf Pamyra, Selimo auf Omar verändert, was an die Namen in Voltaires Mahomet erinnern sollte (die aber keine sonstige Beziehung zur Oper hat, da er sich dort um den Propheten Mohammed, hier um den Sultan Mohammed II handelt), oder wie Néoclès, Cléomène, Adraste, Ismène wurden Namen der griechischen Antike gewählt.
    Thema der Handlung ist der klassische Konflikt zwischen Pflicht und Liebe, ein evergreen der französischen Tragödie seit Corneille. Stilistisch hat auch Rossini den klassischen französischen Ton übernommen, den vor ihm Gluck, Spontini, Cherubini geprägt hatten: mehr Gewicht auf die Deklamation, größere Rolle des Chors, ausgedehnte Ballettszenen ... Aus zwei sind drei Akte geworden mit je einem großen Finale.

    Le Siège de Corinthe wurde ein Riesenerfolg, und damit fangen die Probleme an.
    Zum ersten Mal konnte Rossini einen Oper an einen Verleger verkaufen, Troupenas, der leider einen ziemlich miesen Job machte. Die Oper wurde auch auf Italienisch rückübersetzt, als l'Assedio di Corinto; die Ballettszenen wurden gekürzt und Stücke wurden aus anderen italienischen Opern Rossinis eingefügt (nicht nur aus Maometto secondo, z.B. auch aus Ciro in Babilonia ..), sowie von fremden Komponisten hinzukomponiert (u.a. schrieb Donizetti eine Cabaletta). Die Rolle des Néoclès (Neocle) wurde als Hosenrolle für eine Altistin umfunktioniert ... Der Erfolg blieb l'Assedio treu, bis sie wie fast alle Rossini-Opern von den Spielplänen im letzten Viertel des 19ten Jht verschwand.

    Ende der 1960er Jahre wurde sie für die Sopranistin Beverly Sills aus der Versenkung geholt. Der Dirigent Thomas Schippers besorgte dafür eine eigene Fassung, die nicht unbedingt auf philologische Integrität zielte. In den 70er Jahren gab es zahlreiche Aufführungen (u.a. in der Mailänder Scala) und eine Studio-Aufnahme. Partnerin von Sills war entweder Marylin Horne oder Shirley Verrett als Neocle.

    1985 wurde Le Siège de Corinthe wieder auf Französisch in Paris aufgeführt, mit Katia Ricciarelli als Pamyra und Martine-Dupuy als weiterhin Hosen-Néoclès.
    Inzwischen hatte man den originalen Maometto Secondo wieder entdeckt, so daß man für das Mischding L'assedio di Corinto nicht mehr viel übrig hatte und es wurde Zeit, sich auf die originelle französische Oper Le siège de Corinthe zurückzubesinnen. Sie wurde 1992 in Genua, 2000 in Pesaro - in einer Koproduktion mit der Oper Lyon - aufgeführt.

    Dabei gab es noch keine kritische Ausgabe. Einzige gedruckte Quelle war die schlampige Troupenas-Ausgabe (die Orchester-Stimmen stimmen nicht überall mit den Vokal-Stimmen überein, die Abfolge der Szenen verlangt, daß gerade getötete Krieger eine Hymne eintönen, etc ...). Für Pesaro 2000 wurde sie in Erwartung der kritischen Ausgabe als vorläufige Arbeitsbasis genommen.

    Für die Wildbader Produktion wurde eine "Revision der Originalausgabe von Jean-Luc Tingaud" und eine Neuausgabe von Florian Bauer unternommen. Was tatsächlich herausgekommen ist, wird im Booklet nicht in Detail verraten. Am wichtigsten erscheint mir im Vergleich zur Pesaro-Version die Umstellung von zwei Szenen im Akt II. Ein Vergleich mit der Schippers-Version von L'assedio di Corinto erübrigt sich, da sie wie gesagt 1) keine Text-Authentizität anstrebte und 2) für die Stimme von Beverly Sills maßgeschneidert war.

    Hier kommt man der tragédie lyrique, die Rossini komponiert hat, näher und schon deshalb lohnt sich das Unterfangen. Wir haben kein Flickwerk mehr, sondern eine stilistisch einheitliche Komposition und die Musik ist großartig.

    Was die Interpretation betrifft, sind die Gefühle gemischt. Orchester und Chor sind wie gewohnt gut (sehr schön die Soli der Bläser oder der Harfe) und wieder merkt man, daß der französische Stil dem Chor aus Posen besonders gut steht.
    Jean-Luc Tingaud hat sich eine Spezialität der französischen Musik gemacht, aber er widmet sich fast ausschließlich der französischen romantischen Musik und später (Gounod, Bizet, Massenet, Debussy, Dukas ...). Hier in Musik des klassischen Stils fehlt seinem Tempo oft das Ebenmaß: zu schnell wie in der Ouvertüre oder in den Tänzen, wo die Majestät fehlt und das Triviale droht, etwas mechanisch im Finale der Akte 1 und 3, schleppend im ersten Terzett. Es sind zwar Nuancen, aber, im Unterschied zur romantischen Musik, sollte hier die retenue, die Zurückhaltung, herrschen, auch damit die grandiosen Szenen ihre Wirkung entfalten.

    Lorenzo Regazzo ist ein wohltönender Mahomet, der am Anfang etwas verhalten ist und im Laufe der Oper eher den Verliebten als den Kriegsherrn unterstreicht, was immerhin besser ist als umgekehrt.
    Marc Sala als Cléomène hat eine undankbare Rolle, da er meist in Ensembles singt. Die Ensembles sind aber in dieser Einspielung schön und ausgewogen und Sala kann auch heroische Töne anstimmen, wie im ersten Finale oder im ersten Terzett.
    Michael Spyres zeigt schon, was für ein Arnold er sein kann. Er meistert mühelos die Tessitura (bis zum hohen D in der Cabaletta seiner Arie im dritten Akt) und kann die unterschiedlichen Gefühle seiner Rolle stilvoll ausdrücken. Seine Aussprache ist korrekt, nun fühlt man etwas, daß er nicht ganz zu Hause mit der Sprache ist und sich eher auf die Vokalität als auf die Diktion verläßt.
    Im Unterschied zu Matthieu Lécroart, der nicht nur sprachlich sondern auch stilistisch völlig zu Hause ist. Die Szene der Fahnenweihe im dritten Akt, die eigentlich eine Arie für Hiéros mit Chor-Einschüben ist, ist einer der Höhepunkte dieser Einspielung.
    Soviel Sinn für die Sprache kann man von Majella Cullagh nicht erwarten, von der kaum ein Wort zu verstehen ist. Ricciarelli in Paris 1985 war auch nicht besonders sprachklar aber sie hatte wenigstens Samt in der Stimme, wo Cullagh als Provinztheater-Soubrette nur Acryl zu bieten hat. Ohne Belastung kann Acryl schon täuschen, das heißt wenn sie weder zu hoch noch zu niedrig, noch zu laut, noch zu schnell singen muß. Dankenswerterweise liegen gute Strecken ihrer Rolle in diesem Bereich, etwa das Duett mit Mahomet im zweiten Akt oder das Terzett im dritten. Wenn ihr Sopran aber nach der Fahnenweihe über dem Chor wie Amenaide im ersten Finale von Tancredi leuchten soll, kommt nur Geschrei heraus. Dazu hat sie zwei der schönsten Rossini-Arien zu singen. Ihre Stimme ist eigentlich zu leicht dafür. Luciana Serra in Genua war in derselben Lage; sie hat ihre Aufgabe mit Musikalität gelöst und, obwohl sie auch die Königin der Nacht sang, hat keine hohe Fioritura eingefügt und Rossinis Linien zum besten ihrer Mittel gegeben. Cullagh erlaubt sich Verunzierungen und zeigt ihre schrillen Höhen und ihren üblichen Säuregrad.

    Diese Aufnahme ist also trotz vieler Qualitäten nicht vollkommen zufriedenstellend, was Schade ist, denn sie ist fast die einzige.
    Die andere offizielle Aufnahme ist nämlich die aus Genua 1992, die kaum eine der Qualitäten der Wildbad-Aufnahme besitzt in bezug auf Stil und Niveau der Interpreten (Pamyra ausgeschlossen, aber Luciana Serra ist auch weit vom Ideal entfernt).

    Die Pesaro-Veranstaltung vom Jahr 2000 wurde auf CD angekündigt. Es kam aber keine offizielle Ausgabe. Dabei gibt es einen Rundfunk-Mitschnitt, den man auf YouTube finden kann:
    https://www.youtube.com/watch?v=LZ0ViSeFmCw
    Maurizio Benini dirigiert stilvoll und die rein orchestralen Szenen (Ouvertüre, Ballettszenen ...)sind schon eindrucksvoll. Michele Pertusi ist ein überzeugender Mahomet. Giuseppe Filianoti ist hervorragend, vielleicht nicht ganz so souverän wie Michael Spyres aber mit mehr Sinn für die Sprache (seine Aussprache ist nicht astrein aber man merkt, daß er sehr präzise weiß, was er singt). Und Ruth Ann Swenson hat Seide in der Stimme. Auch ihre Verzierungen sind stilvoll und klangschön. Nur Adraste ist hier der totale Reinfall aber zum Glück hat er extrem wenig zu singen.
    Diese Version gibt es auch mit Bildern aus Lyon (und Darina Takova statt Ruth Ann Swenson) aber die Inszenierung war sowieso miserabel-

    Gute Nachricht: Damien Colas hat für die Fondazione Rossini eine kritische Ausgabe erarbeitet. Weitere gute Nachricht: sie wurde letztes Jahr in Pesaro dargeboten. Weniger gute Nachricht: dort war auch Nino Machaidze als Pamyra überfordet; Luca Pisaroni war OK, wenn ohne die nötige sonore Tiefe, Sergey Romanovsky was als Néoclès sehr gut, obwohl mit weniger Körper als Michael Spyres.

    Unter dem Strich: Le siège de Corinthe lohnt sich absolut. Die Wildbad-Aufnahme ist die beste (von 2), gut, um die Oper kennenzulernen.

    Ich bleibe bei Pesaro 2000, hoffe aber, daß Pesaro 2017 irgendwann kommt, sei es nur, um den Text der kritischen Ausgabe zu hören.

    Alles, wie immer, IMHO.

  • Otello

    Diesmal wieder zu einem von Rossinis Hauptwerken:

    2008 aufgenommen, 2010 veröffentlicht

    mit
    Otello - Michael Spyres, Tenor
    Rodrigo - Filippo Adami, Tenor
    Jago - Giorgio Trucco, Tenor
    Desdemona - Jessica Pratt, Sopran
    Emilia - Géraldine Chauvet, Mezzosopran
    Elmiro, Desdemonas Vater- Ugo Guagliardo, Bass

    Transylvania State Philharmonic Choir Cluj

    Virtuosi Brunensis
    Leitung Antonino Fogliani

    Vielleicht wären doch ein paar Worte über Rossinis Otello notwendig. Es handelt sich nämlich um eines seiner Schlüsselwerke, das heute ziemlich verkannt ist. Grund dafür ist u.a. Verdis Otello, ein absolutes Meisterwerk, wobei ein Vergleich beider Opern ungefähr so sinnvoll ist wie ein Vergleich von Monteverdis und Glucks Orfeo, so unterschiedlich die Voraussetzungen (Rossinis Libretto ist keine Verarbeitung von Shakespeares Stück, sondern eher "inspiriert von Shakespeare") und die stilistischen Merkmale sind.

    Allerdings würde eine Analyse von Rossinis Oper, so verlockend sie auch sein mag, den Rahmen dieses Threads sprengen. Bleibt, daß Rossinis Otello auch ein starkes Stück ist, noch dazu ein Stück, das Themen behandelt, die nichts von ihrer Aktualität eingebüßt haben (Rossinis Librettist, der Marquis Francisco Maria Berio di Salsa, hat als Mann der Aufklärung die rassistische Problematik bewußt miteinbezogen).

    Otello ist nach Elisabetta, regina d'Inghilterra, Rossinis zweite neapoletanische Oper. In Neapel verfügte der Komponist über ein großes professionelles Orchester (in den meisten Theatern Italiens war das Orchester eine ad-hoc Zusammensetzung professioneller und nicht professioneller Musiker) und ein erstklassiges Sängerteam, darunter die prima donna Isabella Colbran, den baritenore Andrea Nozzari und den tenore di grazia Giovanni David, für die die Partien von Desdemona, Otello und Rodrigo komponiert wurden. Die Partie des Jago wurde für einen dritten Tenor komponiert, dessen Tessitura niedriger als die von Nozzari lag.

    Die Wildbad-Aufnahme enttäuscht etwas. Das Orchester ist gut und Rossinis Klangfarbenspektrum kommt gut zu Geltung. 2008 hatte aber Fogliani noch nicht den Sinn für den dramatischen Fluß, den er später haben wird und oft hat man den Eindruck, daß das Orchester kommentiert, statt das Geschehen voranzubringen. Dazu bremsen einge von den Sängern eingebrachten Fermaten, die nicht immer sehr glücklich sind, diesen Fluß noch zusätzlich. Die comprimari Géraldine Chauvet (Emilia) und Ugo Guagliardo (Elmiro) sind gut. Giorgio Trucco als Jago ist leider eher farblos. Filippo Adami als Rodrigo hat ein Timbre, das an Rockwell Blake erinnern kann, aber hier hört leider der Vergleich auf. Blakes Timbre war sicher nicht sein größter Reiz und Adami verfügt bei weitem nicht über Blakes verblüffende Souveränität und klingt oft angestrengt. Michael Spyres war 2008 noch ein Rossini-Tenor in the making. Er verfügt über die breite Tessitura und die Flexibilität aber noch sind Disparitäten zwischen den Registern hörbar. Im Otello-Rodrigo Duett im zweiten Akt ist seine Farbe im hohen Register heller als die Adamis.

    Jessica Pratt war 2008 auch noch ein Rohdiamant. Im canto spianato der Canzone del salice ist sie in ihrem Element und gestaltet sehr schön. In den ersten zwei Akten zeigt sie oft eine schöne Koloratur aber ihre Ausflüge in die Höhe sind ab und zu unkontrolliert.

    Die Konkurrenz ist nicht groß, aber beachtlich. Zuerst die 1978er Aufnahme unter der Leitung von Jesús Lopez-Cóbos. Etwas überholt, was den Stil des Rossini-Belcantos betrifft, aber Federica von Stade ist eine sehr schöne Desdemona und der junge Carreras ein starker Otello. Salvatore Fisichella könnte man etwas mehr morbidezza als Rodrigo wünschen, aber er meistert die hohe Tessitura und die Koloratur beachtlich. Leider ist diese Aufnahme wohl nur als second hand zu einem vernünftigen Preis erhältlich.

    Dann die Opera Rara Aufnahme. David Parry dirigiert etwas britisch-kühl statt napoletanisch-leidenschaftlich und Elizabeth Futral ist eine leichtgewichtige Desdemona. Bruce Ford ist aber ein überzeugender Otello und William Matteuzzi bringt alle Voraussetzungen für die David-Partie des Rodrigo, leider aber auch ein ziemlich nasales Timbre, das als unangenehm empfunden werden kann. Dabei bringt diese Box eine Menge Alternativmusik, z.B. das lieto fine, das Rossini 1820 für Rom basteln mußte.

    Eine neuere Aufnahme unter Alberto Zedda hat als Otello einen in die Jahre gekommenen Gregory Kunde, der aber wohl außer Zeddas Dirigat der einzelne Pluspunkt ist.

    Rossinis Otello ist eigentlich in den letzten Jahren auf dem Spielplan verschiedener Theater gewesen und man kann live-Dokumente aus Paris, Berlin, Wien, Barcelona, Neapel ... finden. Mein favourite wäre ein live von London mit Mariella Devia (Desdemona), Bruce Ford (Otello), Kenneth Tarver (Rodrigo) und Octavio Arévalo (Jago).

    Dazu muß man wieder auf ein Video hinweisen. Diesmal aus Zürich.

    Es ist eine starke Inszenierung mit Sängern, die das bel canto auch schauspielerisch überzeugend umsetzen. Der ausdrucksstarke Otello von John Osborn läßt um so mehr bedauern, daß sein Idreno zu nett und unbeteiligt war.
    Dieses Video ist ein Muß für alle Rossini-Freunde und die, die es werden wollen.

    Unter dem Strich: die Wildbad-Aufnahme kann man nicht uneingeschränkt empfehlen: :thumbup: :thumbup: :thumbup:

    Alles, wie immer, IMHO.

  • Il Viaggio a Reims

    2014 aufgenommen, 2016 veröffentlicht

    mit

    Corinna - Laura Giordano, Sopran
    Contessa di Folleville - Sofia Mchedlishvili, Sopran
    Madama Cortese - Alessandra Marianelli, Sopran
    Marchesa Melibea - Marianna Pizzolato, Alt
    Cavaliere Belfiore - Bogdan Mihai, Tenor
    Conte di Libenskof - Maxim Mironov, Tenor
    Lord Sidney - Mirco Palazzi, Bass
    Don Profondo - Bruno de Simone, Bass
    Barone Trombonok - Bruno Praticò, Bass
    Don Alvaro - Gezim Myshketa, Bass

    Camerata Bach Choir Poznań

    Virtuosi Brunensis
    Leitung Antonino Fogliani

    Il viaggio a Reims braucht nicht, vorgestellt zu werden. Es ist eigentlich eine Herausforderung (kaum Handlung aber 10 Hauptrollen), der Theater und besonders Festspiele sich gerne stellen.
    So auch in Wildbad.
    Auf die Bemerkung "First recording of the complete opera" sollte man nicht allzuviel Wert legen. Die recitativi secchi werden nicht gekürzt,Corinna darf alle Stanzen ihrer Romanze vortragen. Ganz neu ist nur ein kleiner Chor. Die Gags, die Abbado eingefügt hatte, (Mozart-, Haydn- und Bach-Zitate, wenn diese Namen erwähnt werden, Marseillaise-Fanfaren als im Finale die Franzosen an der Reihe sind ...) wurden eliminiert. So daß, wenn man sich die Stücke hört, die man kennt (und Il viaggio lädt zum selektiven Hören ein), vermißt man den Witz.

    Allerdings sollte man sich diese Aufnahme einfach vom Anfang zu Ende anhören. Die Einteilung in 3 CD ist sinnvoll und man stellt fest, daß man vom Nichts-Geschehen gefesselt wird. Fogliani hat 2014 den Sinn für die Architektur und den Fluß, der ihm 2008 noch gefeht hatte. Michele d'Elia, der im gleichen Jahr bei Adelaide di Borgogna mitwirkte, ist auch hier ein effektiver Mitgestalter. Der Witz fehlt keineswegs, nur ist er nicht immer da untergebracht, wo man ihn erwarten würde.

    Die Sängerriege ist hervorragend. Einige Namen sind bekannt, waren es damals oder sind es inzwischen geworden, andere weniger. Mit Bruno de Simone und Bruno Praticò hat man zwei erfahrene Rossini-Bässe, die ihre Routine und ihre Muttersprache mitbringen, was in deren Rollen absolut wichtig ist, denn sie müssen Rossinis Maschinengewehr-Parlando meistern - und das tun sie. Die anderern passen auch sehr gut zu ihrer Rolle: Bogdan Mihai mit der selbstverliebten Eleganz eines französischen Beaus, Maxim Mironov mit dem Temperament eines Russen, klar, aber auch Marianna Pizzolato mit der dunklen Leidenschaft einer Polin und so weiter ...
    Nicht nur die solistischen Leistungen sind bewundernswert (das seltene etwas harte acuto eines Soprans schreibt man gerne der live-Atmosphäre zu), sie passen auch sehr gut zusammen und sowohl Sestetto als auch Gran pezzo concertato a 14 voci sind ein echter Genuß. Alle Rädchen eines Rossini-Uhrwerks sitzen perfekt.

    Auf CD gibt es sonst die zwei Abbado-Aufnahmen, die mit großen Namen glänzen, aber ungeachtet einer persönlichen Affinität zu dem oder der (sei es Valentini-Terrani, Ramey. Raimondi, Araiza ...) braucht sich das Wildbad-Ensemble nicht zu verstecken und kann sowieso der Ausgangspunkt für neue persönliche Affinitäten werden.

    Unter dem Strich: wenn man eine Abbado-Aufnahme hat, sollte man diese als Alternative haben; hat man keine, so bietet sich diese an, um das Stück kennenzulernen.
    :thumbup: :thumbup: :thumbup: :thumbup: :thumbup:

    Alles, wie immer, IMHO.

  • Ciro in Babilonia

    Nochmal eine Rossini-Kuriosität:

    2004 aufgenommem, 2007 veröffentlicht

    mit

    Ciro, re di Persia - Anna-Rita Gemmabella, Alt
    Amira - Luisa Islam Ali-Zade, (Mezzo?)sopran
    Baldassare - Riccardo Botta, Tenor
    Argene - Maria Soulis, Mezzosopran
    Arbace - Giorgio Trucco, Tenor
    Zambri - Wojtek Gerlach, Bass
    Daniele - Giovanni Bellavia, Bass

    Ars Brunensis Kammerchor
    Württembergische Philharmonie Reutlingen

    Leitung: Antonino Fogliani

    Ciro in Babilonia, 1812 komponiert, ist laut dem Rossini-Exegeten Carlo Ballola, "Rossinis Diplomarbeit". Es handelt sich nämlich um seine erste opera seria - wenn man Demetrio e Polibio ausnimmt, über deren besondere Entstehungs- und Aufführungsgeschichte später die Rede sein wird. Der Auftrag vom Theater in Ferrara wurde ihm von der Altistin Maria Marcolini vermittelt, die die Hauptrolle übernehmen sollte. Die Rolle des Ciro ist auch die längste, die Rossini je für einen Alt geschrieben hat.
    Da sie in der Fastenzeit aufgeführt werden sollte, mußte die Oper als dramma con cori bezeichnet werden und ein geistliches Thema behandeln.

    Das Libretto schrieb der Graf Francisco Aventi (der erste einer Reihe von Adeligen, die Rossini ein Libretto geliefert haben, der Marchese Berio di Salsa für Otello und Ricciardo e Zoraide, sowie der Graf Cesare della Valle für Maometto Secondo sollten noch kommen). Es behandelt die Geschichte vom babylonischen König Belsazar (Baldassare) und dessen Festmahl (s. Heines Belsatzar) . Aufgepäppelt wird sie dadurch, daß der persische König Cyrus/Kyros (Ciro) Babylon belagert. Dessen Frau Amira und dessen Sohn sind von Belsazar entführt worden und Belsazar hat sich in Amira verliebt. Kyros, der als Botschafter verkleidet, zu Belsazars Hof kommt, wird entlarvt und eingekerkert. Nach dem Festmahl versucht Belsazar ihn und seinen Sohn zu töten (da seine Magier ihm gesagt haben, die Deutung des Propheten Daniels sei Quatsch), wird aber von Kyros' eindrigender Armee besiegt. Happy end für alle, außer Belsazar, der samt Familie dran glauben muss. Ein paar weitere Nebenhandlungen habe ich ausgespart.

    Diplomarbeit in dem Sinne, dass diese Oper alle Topoi der opera seria enthält: eine Kerkerszene, eine prophetische Stimme, festliche Märsche, Liebesintrigen ...
    Diplomarbeit in dem Sinne, daß Rossini seine musikalische Kultur unter Beweis stellt: nicht nur beherrscht er die italienische Opernsprache, er kennt auch Mozart, Händel und Haydn (nicht umsonst wurde er il tedeschino benannt).
    Diplomarbeit auch, weil sie die Kerne seiner Weiterentwicklung enthält: hier und da hört man Klänge, die uns in Tancredi, L'italiana ... wiederbegegnen werden. Die zweite seiner biblischen Opern wird Mosè in Egitto sein, diesmal ein echtes Meisterwerk, für welches er eine aria di sorbetto aus Ciro umarbeiten wird. Die Stimme des Propheten wird als Nachfolger l'ombra di Nino in Semiramide oder die Voix mystérieuse in Moïse et Pharaon haben; eine Kerkerszene wird man in Elisabetta, regina d'Inghilterra finden, die auch hier ihren Ursprung an, und so weiter und so fort.

    Ein ganzes Netzwek von Verbindungen, die immer wieder aufhorchen lassen. In ihrer ersten Arie hört sich Amira z.B. wie eine Wiedergeburt der Aspasia aus Mozarts Mitridate an, bis sie zu einer Schwester der Amenaide in Tancredi wird (keine ausdrücklichen Zitate sondern Stilähnlichkeiten). In ihrer zweiten Arie hat sie ein seltenes violino obbligato. Ballola weist auch auf Klänge hin, die Schuberts Alfonso und Estrella oder Rosamunde vorahnen lassen; tatsächlich hat ein Marsch mit Chor im zweiten Akt deutliche Schubertsche Züge.

    Selbstverständlich erreicht Ciro insgesamt nicht das Niveau der späteren Meisterwerke (das erste davon, Tancredi, sollte allerdings nicht lange auf sich warten lassen, es kam im Jahre danach), aber es ist abwechslungsreich und wie immer mit Rossini ein Labsal für die Ohren. Eine weitere Überraschung hat es noch zu bieten: die seconda donna, die die Rolle der Argene singen sollte, war laut Komponisten nicht nur potthäßlich, sie hatte auch eine unmögliche Stimme. Rossini fand heraus, daß sie nur einen einzigen Ton, ein zentrales B, richtig singen konnte und so schrieb er für sie eine Arie, die nur aus diesem Ton besteht, während das Orchester für Abwechslung sorgt. Die Sängerin feierte damit einen Triumph.

    Später sagte Rossini, die Uraufführung von Ciro in Babilonia sei ein Fiasko gewesen. Ihm widersprechen zeitgenössische Zeitungsberichte, sowie die Tatsache, daß die Oper bald in anderen Theatern Italiens und auch im Ausland aufgeführt wurde, wovon Aufführungsmaterial erhalten ist.

    Als Ciro in Babilonia in Wildbad aufgeführt wurde, gab es noch keine kritische Ausgabe. Für Wildbad wurde eine Ausgabe vorbereitet. Vergleicht man sie mit der Pesaro-Aufführung im Jahre 2012, die der inzwischen erstellten kritischen Ausgabe folgt, stellt man fest, daß einige recitiativi secchi gekürzt wurden (zum Wohle des CD-Zuhörers), daß nur eine Arie nicht enthalten ist: die des Zambri im zweiten Akt, die an Già d'insolito ardore nel petto aus der Italiana denken läßt, und daß die Umstellung der Arien des Daniele und des Baldassare im zweiten Akt (Nr 11 vor Nr 10) sich tatsächlich in der kritischen Ausgabe wiederfindet.

    Musikalisch ist die Wildbad-Produktion auch durchaus empfehlenswert. Anna Rita Gemmabella ist ein echter Alt mit dunkler Stimmfarbe; sie stellt einen sehr glaubwürdigen Titelhelden dar. Luisa Islam Ali-Zade wird als Mezzosopran angegeben. Nicht nur meistert sie die Sopran-Tessitura problemlos, ihr Timbre ist auch eher das eines soprano drammatico. Dazu hat sie ein apartes Vibrato und kann die Rolle der entführten Prinzessin mit Gefühl interpretieren. Riccardo Botta muss die alles andere als leichte Tenor-Rolle bewältigen und das tut er ganz gut. Alle drei müssen sich in die ungewöhnliche Schreibweise des jungen Rossini einsingen, der bis auf Maria Marcolini nicht wie später für ihm bekannte Stimmtypen komponierte, und man kann das Ergebnis nur bewundern.

    Für bekannte Sängerfähigkeiten wurde wie gesagt die Rolle der Argene geschustert. Maria Soulis verfügt sicher über weit größere Fähigkeiten als ihre Vorgängerin aus Ferrara. Sie widersteht aber der Versuchung, ihre Ein-Ton-Arie auszuschmücken, so daß man das Kabinettstück genießen kann.
    Die comprimari sind auch sehr gut, insbesondere Giovanni Bellavia als Prophet Daniel, der das meiste aus seiner kleinen Intervention macht.
    Fogliani dirigiert die Württembergische Philharmonie präzise und mit guten Tempi (für dramatische Kontinuität hat er hier nicht zu sorgen), der Chor ist gut wenn auch etwas unterbesetzt (oder von der Aufnahmetechnik unterbelichtet).

    Die einzige andere CD-Aufnahme ist nicht leicht erhältlich: es ist ein live aus Savona aus dem Jahr 1988, sängerisch gut aber von Carlo Rizzi etwas lahm dirigiert. Dazu wurde dort die Ein-Ton-Arie ausgeschmückt (nach zeitgenössischem Aufführungsmaterial, denn andere Sängerinnen fanden sie nicht so spaßig).

    Unter dem Strich: Die Begegnung mit Ciro in Babilonia lohnt sich und diese Aufnahme bietet dafür eine sehr gute Gelegenheit :thumbup: :thumbup: :thumbup: :thumbup:

    Es bleibt auf ein Video hinzuweisen: Pesaro 2012 mit einer erstaunlichen Ewa Podleś in der Titelpartie und einer Inszenierung von Davide Livermore, die die opera seria in das Ambiente des Stummfilms transponiert. Absolut empfehlenswert.

    Alles, wie immer, IMHO.

  • Mosè in Egitto

    2006 aufgenommen, 2007 veröffentlicht

    mit

    Mosè - Lorenzo Regazzo, Baß
    Faraone - Wojtek Gierlach, Baß
    Osiride, dessen Sohn - Filippo Adami, Tenor
    Amaltea, Faraones Gattin - Rossella Bevacqua, Sopran
    Elcia - Akie Amou, Sopran
    Aronne, Bruder Mosès - Giorgio Trucco, Tenor
    Amenofi - Karen Bandelow, Mezzosopran
    Mambre - Giuseppe Fedeli, Tenor

    Chor von St Pietro a Majella, Neapel
    Wildbader Blaskapelle
    Württembergische Philharmonie Reutlingen

    Leitung: Antonino Fogliani

    Über Mosè in Egitto ließe sich viel sagen. Um diesen Thread nicht zu überfrachten, werde ich wohl den angedachten Extra-Thread über die neapolitanischen Opern Rossinis eröffnen müssen ;-).

    Hier sei nur gesagt, daß Mosè in Egitto 1818 in Neapel uraufgeführt wurde. Wie Ciro in Babilonia war es eine Quaresma (Fastenzeit) Oper mit biblischem Thema.
    Thema ist hier der Auszug der Hebräer aus Ägypten. Um zu begründen, warum der Pharao seine Entscheidung, sie gehen zu lassen, so lange hingezögert und nich dazu zurückgenommen hat, hat der Librettist Andrea Leone Tottola eine Liebesgeschichte zwischen Osiride, dem Sohn des Pharaos, und der Israelitin Elcia eingeflochten.

    Herausgekommen ist eine Chor- und Ensemble-Oper mit starken Rezitativen, ohne Ouvertüre aber mit einer choralen Darstellung der Finsternis bevor, nach einer Invokation Moses', das Licht hineinstrahlt.
    Rossini hat für diese Oper keine klassischen Arien komponiert. Die Arie der Elcia im zweiten Akt ist eigentlich eine Szene mit Chor. Die Arie des Pharaos A rispettarmi apprenda hat Michele Carafa komponiert, für die aria der sorbetto der Amaltea La pace mia smarrita hat er die Arie der Amira Vorrei veder lo sposo aus Ciro in Babilonia adaptiert, die Arie des Moses Tu di ceppi mi aggravi la mano? wurde von unbekannter Hand komponiert.

    Für die Wiederaufnahmen 1819 und 1820 hat Rossini die Arien der Amaltea und des Mosè gestrichen; für Faraone komponierte er die Arie Cade dal ciglio il velo als Ersatz für die Arie von Carafa. Umfangreicher sind die Änderungen im dritten Akt. Aufgrund einer von Stendhal erzählten Anekdote wird überall geschrieben, daß die Komposition der Preghiera Dal tuo stellato soglio darauf zurückzuführen ist, daß bei der Uraufführung die Maschinerie für die Öffnung der Fluten des Roten Meeres nicht richtig funktionierte und daß Rossini ein Gebet komponierte, um Zeit für die Umwandlung zu geben. Allerdings fragt man sich, warum er dann ein Jahr dafür gewartet hat und warum der Text des ganzen dritten Akts umgeschrieben werden sollte. Und warum die Musik der ersten Fassung des dritten Akts völlig verschollen ist. Wahrscheinlicher ist, daß Rossini mit der Erstfassung dieses Aktes nicht zufrieden war.
    Immerhin ist die Preghiera das bekannteste Stück dieser Oper geworden, einer der absoluten Rossini-Hits - vergleichbar mit Va, pensiero aus Verdis Nabucco -, der symbolisch zum Programm des Wiedereröffnungskonzerts der Mailänder Scala am 11.05.1946 unter Toscanini gehörte:
    https://www.youtube.com/watch?v=eFUK4koh0qk

    Die Naxos-Aufnahme gibt an, sie stelle die "1819 Naples version" dar. Die "1818 Naples version" ist sowieso nicht rekonstruierbar, da wie gemerkt vom ursprünglichen dritten Akt nur das Libretto überliefert ist. Allerdings wird hier die Arie der Amaltea La pace mia smarrita wiedereingefügt. Dazu wird die 1818-Arie des Pharaos, die von Carafa komponierte A rispettarmi apprenda verwendet und die neue Arie Cade dal ciglio il velo wird Mosè in den Mund gelegt, ein Eingriff, der auf Ferdinand Hérold für die Pariser Erstaufführung 1822 zurückgeht. Kein reines Neapel-1819 denn. Aber immerhin die originale italienische Version von Mosè in Egitto.

    Interpretatorisch ist man auf hohem Niveau. Regazzo und Gierlach haben beide einen schwarzen Baß und sind nicht immer einfach, auseinanderzuhalten. Filippo Adami ist in der Nozzari-Rolle des Osiride hörbar komfortabler als in der David-Rolle des Rodrigo in Otello. Sein Timbre ist auch hier nicht das verführerichste, was aber im Endeffekt nicht übermäßig stört. Akie Amou hat eine lyrische Stimme, die wohl etwas zu leicht für eine Colbran-Rolle ist, zeigt aber keine Überanstrengung. Rossella Bevacqua hat die erforderte Virtuosität für ihre Arie.

    Der Chor singt schön und ist hörbar zu Hause mit dieser Musik. Allerdings ist er etwas unterdimensioniert, so daß die letzte Strophe der Preghiera mit dem Wandel von g-moll nach G-Dur etwas von ihrer Kraft verliert.
    Das Orchester ist gut, auch es unterdimensioniert, von der Aufnahmetechnik etwas nach vorne gelegt (ich glaube, es war eine halbszenische Aufführung). Fogliani dirigiert gut, gestaltet die unterschiedlichen Tableaux mit Geschick.
    Vielleicht ist es aber diese kleine Besetzung von Chor und Orchester, die einen besonderen Eindruck von Intimität gibt. Dies, kombiniert mit der Live-Situation, führt dazu, daß der Zuhörer sich unmittelbar betroffen fühlt. Dies hat auch mit der Art der Komposition zu tun. Dadurch, daß die gewohnten prachtvollen Solo-Arien fehlen (die Arie der Amaltea wirkt tatsächlich als eine aria del sorbetto, ein Einschub in die Aufführung - damals wurden solchen Arien oft vor runtergefallenem Vorhang gesungen, um Zeit für einen Bühnenbildwechsel zu geben und die Zuschauern fühlten sich frei, sich eine Erfrischung zu gönnen) und die Ensemble-Szenen dominieren, fühlt man sich in die Handlung integriert. Die ergreifendsten Szenen sind das Quintett Celeste man placata im ersten Akt - reiner Schubert, möchte man sagen - das Quartett Mi manca la voce im zweiten und die Preghiera im dritten.
    Insgesamt eine schöne Aufnahme, der es vielleicht etwas an italienischer Brillanz mangelt.

    Die Konkurrenz ist hier dünn: die Philips-Aufnahme unter Claudio Scimone. Diese kann mit Ruggero Raimondi als Mosè auftrumpfen. Fassungstechnisch gibt sie Faraone die nachkomponierte Arie Cade dal ciglio il velo. Amaltea darf ihre Arie singen, Mosè hat die Arie vom unbekannten Mitarbeiter der 1818-Fassung.
    Scimone dirigiert statischer als Fogliani, oratorienhaft eigentlich. Im dritten Akt dreht er auf, die Dur-Aufleuchtung der Preghiera ist bombastisch, bombastisch auch das Ende des Nachspiels. Sein Orchester ist größer als Foglianis, mit viel Klangschönheit, aber dieser Bombast am Ende ist mir doch etwas zu viel.
    Ernesto Palacio ist ein guter Osiride, dem es allerdings an Glanz im oberen Register fehlt.
    June Anderson singt technisch beeindruckend. Sie kennt aber nur einen Ausdruck: den eines begossenen Pudels - egal, welche Rolle sie singt. Im Duett Osiride/Elcia aus Wildbad hört man ein junges Liebespaar, mit Scimone einfach ein Sopran/Tenor Duett.
    Zehava Gal darf wie gesagt als Amaltea ihre aria del sorbetto singen, deren Schwierigkeiten sind aber weggeschrubbt.
    Nimsgern ist eher ein (Baß)bariton: er und Mosè unterscheiden sich hörbar.
    Raimondi ist eben Raimondi. Sein Mosè hat die Präsenz und die Autorität eines Boris Godunovs.

    Insgesamt würde ich vielleicht doch Foglianis Aufnahme vorziehen, vielleicht weil sie mich einfach direkter anspricht. (ich bin sowieso kein absoluter Raimondi-Groupie).
    Unter dem Strich: obwohl man Scimone vorziehen kann, gebe ich hier persönlich :thumbup: :thumbup: :thumbup: :thumbup:

    Allerdings gibt es hier auch ein Video:

    Hier wird die Version letzter Hand gegeben: mit der nachträglich komponierten Arie des Faraone, ohne die Arien der Amaltea und des Mosè, die von Rossini für die Wiederaufnahmen gestrichen worden waren und die als Zugeständnisse an das Neapel-Publikum verstanden werden können, von dem vor der Uraufführung Rossini befürchtete, es würde sein "erhabenes Stück" nicht verstehen (tatsächlich war's ein Riesenerfolg und so konnte Rossini seine Konzeption durchsetzen).
    Die 2011 enstandene Inszenierung hat womöglich noch an Aktualität gewonnen. Gespielt und gesungen wird hier absolut überzeugend, obwohl das Italienische der Amaltea nicht unbedingt idiomatisch ist.

    Noch ein Nachtrag: Für Paris bearbeitete Rossini sein Mosè in Egitto zu Moïse et Pharaon. Dies bedeutete eine Revidierung der Instrumentation, die Umstellung mehrerer Szenen, das Hinzukomponieren mehrerer Nummern inkl. Ballette usw ... Diese Version hatte auch einen großen Erfolg und wurde auf Italienisch rückübersetzt. Unter dem Namen Mosè e Faraone oder Il Mosè nuovo oder ganz einfach Mosè und in unterschiedlichen Nachbearbeitungen blieb sie auf dem Répertoire und wurde auch mehrmals aufgenommen (u.a. unter Tullio Serafin und Wolfgang Sawallisch). Dies ist aber ein anderes Werk.
    Von einer Version zur anderen änderten mehrere Rollen den Namen oder tauschten sie sogar untereinander aus.
    Kleiner Trick, um zu wissen, mit welcher Fassung man zu tun hat: Im neapolitanischen Mosè in Egitto heißt der Bruder des Mosè Aronne (Aaron). Im französischen Moïse et Pharaon heißt er Éléazar. Auf Italienisch wurde es in Elisero übersetzt. Taucht auf einer Besetzungsliste der Name Elisero auf, so hat man mit einer italienischen Bearbeitung der französischen Version zu tun.

    Alles, wie immer, IMHO.

  • La donna del lago

    2006 aufgenommen, 2008 veröffentlicht

    mit

    Elena - Sonia Ganassi, Mezzosopran
    Giacomo (Uberto) - Maxim Mironov, Tenor
    Rodrigo - Ferdinand von Bothmer, Tenor
    Malcolm - Marianna Pizzolato, Mezzosopran
    Douglas - Wojtek Gierlach, baß
    Albina - Olga Peretyatko, Sopran

    Prager Kammerchor
    Tübinger Blaskapelle
    SWR Rundfunkorchester Kaiserslautern

    Leitung: Alberto Zedda

    Wieder ein Meisterwerk Rossinis aus seiner Neapel-Periode. La donna del lago (1819) ist chronologisch gesehen die erste italienische Oper nach Walter Scott. Nach Ermione, die ein glatter Mißerfolg gewesen war, experimentiert Rossini in einer anderen Richtung: noch vor dem Freischütz gibt er der Natur eine Stimme. Dafür macht er, wie zuvor in Ricciardo e Zoraide, Gebrauch der banda, einer Blaskapelle auf der Bühne und nutzt alle Farben des Orchesters vom Teatro San Carlo. Zu der großartigen Sängerriege, die er bislang zur Verfügung hatte (Isabella Colbran, Sopran, die Tenöre David und Nozzari, der Baß Benedetti ...) war mit Benedetta Rosmunda Pisaroni eine Altistin gekommen, die in Hosenrollen große Erfolge gehabt hatte. La donna del lago ist Rossinis romantische Oper, wo er nicht nur brillante Solo-Szenen schreibt, sondern Tableaux mit viel Poesie.

    Die Wildbader Aufführung hat auch ein großartiges Team zusammenbringen können.
    Alberto Zedda ist der bekannte Rossini-Spezialist, der sein Orchester mit viel Gespur für die Theatralität leitet. Er kann sowohl mit drive die Handlung voranbringen, als auch sich Zeit für die poetischen Momente nehmen, Das Rundfunkorchester Kaiserslautern hat vielleicht nicht ganz die Transparenz und die Raffinesse des Chamber Orchestra of Europe unter Maurizio Pollini, es läßt aber - wie bei der Cenerentola -kaum Wünsche offen. Alle solistischen Einsätze sitzen perfekt (und wie gesagt, hier legt Rossini einen besonderen Wert auf die Orchesterfarben). Der Einsatz einer separaten Blaskapelle war ein guter Einfall, der besonders den Jägerszenen im ersten Akt zugute kommt. Der Chor, dem besonders im Finale des ersten Aktes eine wichtige Rolle zukommt, meistert sie tadellos.

    Sonia Ganassi singt die Colbran-Rolle der Elena. Isabella Colbran war ein Sopran (sie hat Donna Anna und die Figaro-Gräfin gesungen) mit viel Expressivität und einer stupenden Agilität, deren hohes Register aber kurz geworden war. In einer Zeit, als man unter Koloratur-Sopran hauptsächlich zwitschernde Kanarienvögel verstand, waren ihre Rollen schwer zu besetzen. Jetzt können sie sowohl von Koloratur-Mezzosopranistinnen als auch von Sopranistinnen gesungen werden, deren Stärke nicht im dreigestrichenen Bereich ist. Sonia Ganassi hat als Mezzosopran ein warmes Timbre, das hier besonders willkommen ist. Sie ist auch eine Rossini-erfahrene Interpretin und in dessen Stil zu Hause, was u.a. in ihrer brillanten finalen Arie (Tanti affetti in un momento) zu Geltung kommt.

    Maxim Mironov singt die David-Rolle des Königs Jakob, der sich als Uberto ausgibt. Giovanni David war für seine Virtuosität im hohen Register berühmt. Dabei sollte er, wie sein Nachfolger Rubini, die hohen Noten im falsettone gesungen haben. Rockwell Blake hatte eine Technik, die ihm erlaubte, die David-Rollen suverän zu singen, allerdings ohne viel Eleganz und mit einem nicht sehr verführerischen Timbre, was hier viel störender ist als in Semiramide. Maxim Mironov hat eine ziemlich schlanke Stimme, meistert aber die technischen Hürden mühelos. Sein Konkurrent in dieser Rolle ist Juan Diego Flórez, der den Uberto überall auf der Welt gesungen hat (2001 wurde die Oper in einem Sommer in Pesaro, Salzburg und Montpellier gegeben, da seine Platten-Firma ihn damit lancieren wollte), der aber im Ausdruck neutraler ist und - hier ist es eine Geschmacksfrage - zu sehr "di petto" singt.

    Ferdinand von Bothmer ist die Nozzari-Rolle des Rodrigo anvertraut worden. Andrea Nozzari hatte auch ein breites hohes Register, seine Stärke lag aber in einem kräftigen Medium. Die Rollen, die Rossini für ihn geschrieben hat, verlangen kaum weniger Ausflüge in die Höhe als die David-Rollen, dafür aber mehr Durchschlagskraft im mittleren Register. Von Bothmer zeigt alles vortrefflich. Ihm könnte man einen gewissen Mangel an Eleganz vorwerfen (nicht so sehr als Blake immerhin), was hier aber nicht stört (Rodrigo ist ein eher grobschlächtiger schottischer Rebell).Seine Szene im ersten Akt ist beeindruckend, das Trio mit Uberto und Elena im zweiten auch.

    Marianna Pizzolato braucht man in Rossini Alt-Rollen nicht mehr zu loben. Ihr Malcolm ist eine dieser Rollen, die sie heute mit Technik und Gefühl erfüllt.
    Wojtek Gierlach ist vielleicht etwas neutral als Douglas. Seine Arie ist aber eine aria del sorbetto, die womöglich nicht von Rossini stammt. In den Ensembles ist er sehr verläßlich.
    Ein echter Luxus ist Olga Peretyatko in der Nebenrolle der Albina. Zedda weiß aber, sie aufzuwerten und ihr im schönen Chor des ersten Aktes Già un raggio forier Sovracuti anzuvertrauen, die man, einmal gehört, in anderen Aufführungen/Aufnahmen vermißt.

    Diese Donna del lago ist einer der Höhepunkte dieser Wildbad-Reihe und gehört zu den gelungensten Aufnahmen dieser Oper. Die offizielle Konkurrenz ist nicht so groß. Maurizio Pollini als Operndirigent kann mit Katia Ricciarelli, Lucia Valentini-Terrani und Samuel Ramey aufwarten. Seine Studio-Aufnahme ist eine gute Alternative. Sonst gibt es eine Menge live-Aufnahmen u.a. mit Juan Diego Flórez, denen ich aber nicht den Vorzug geben würde.

    Unter dem Strich: sehr gelungene Aufnahme einer wunderschönen Oper! :thumbup: :thumbup: :thumbup: :thumbup: :thumbup:

    Diesmal kein Video-Tip: die erhältliche Met-Aufnahme ist schön gesungen, sie erstickt aber in Schottland-Kitsch.

    Alles, wie immer, IMHO.

  • Le Comte Ory


    2002 aufgenommen, 2007 veröffentlicht

    mit

    Comte Ory - Huw Rhys-Evans, Tenor
    Comtesse Adèle - Linda Gerrard, Sopran
    Isolier - Luisa Islam-Ali-Zade, Mezzosopran
    Raimbaud - Luca Salsi, Bariton
    Ragonde - Gloria Montanari, Mezzosopran
    Gouverneur - Wojtek Gierlach, Baß

    Tschechischer Philharmonischer Chor Brünn
    Tschechische Kammersolisten Brünn

    Leitung Brad Cohen

    Mit Le Comte Ory kommt Rossini 10 Jahre nach seiner letzten opera buffa (La Cenerentola, 1817) zur komischen Oper zurück, allerdings in einer ganz anderen stilistischen Umgebung. Mit Le siège de Corinthe und Moïse et Pharaon hatte er sich den französischen Stil der tragédie lyrique angeeignet und den Grundstein der grand opéra gelegt; hier nähert er sich der opéra-comique. Allerdings schafft er eine komische Oper mit Rezitativen und ohne gesprochene Dialoge. Ungefähr die Hälfte der Oper sind - verarbeitete und an den neuen Text und die neue Dramaturgie angepaßte - Nummern aus Il viaggio a Reims, die Rossini auf Anlaß der Krönung Karls X komponiert hatte und die er dann zurückgezogen hatte; der Rest wurde neu komponiert.

    Daraus geworden ist eine charmante Komödie, voll Witz und Eleganz. Rossini hat seinen Stil nicht verleugnet (dies zeigt sich u.a. in der Virtuosität der Hauptrollen); er hat ihn aber mit Einflüssen von Hérold und Boieldieu kombiniert und hat tatsächlich "Musik der Zukunft" kreiert, da man Vorahnungen von Offenbach, Delibes, Messager heraushört.

    Die Herausforderung dieser Oper besteht dahin, die Hürden der Partitur zu meistern und dabei im Stil zu bleiben.
    Wie es gelingen kann, zeigt ein Radio-Mitschnitt von 1955 unter Désiré-Émile Inghelbrecht mit Jean Giraudeau, Françoise Ogéas Odette Turba-Rabier, Robert Massard und Jacques Mars.
    https://www.youtube.com/watch?v=leekKKt7sQM

    Die Wildbad-Aufnahme ist nicht schlecht, nicht aber ganz zufriedenstellend. Das Orchester ist gut aber etwas zu leichtgewichtig: das Gewitter im zweiten Akt bleibt harmlos. Cohen dirigiert mit leichtem Touch, er schafft es aber selten, Funken aus der Partitur zu schlagen. Am besten gelingen ihm lyrische Momente wie das Terzett im zweiten Akt. Sonst fehlt oft die Spritzigkeit.

    Das Französische der Interpreten geht von mittelmäßig bis schlecht. Besonders die Italiener tun sich schwer damit. Damit fällt ein guter Teil des Reizes der Oper weg, der in wortwitzigen Rezitativen und generell in der geistreichen Verbindung von Text und Musik liegt.
    Linda Gerrard hat eine leichte flexible Sopranstimme, die gut zu ihrer Rolle paßt.
    Huw Rhys-Evans ist ein leichter Tenor, der seine hohen Noten mit der voix mixte singt und daher für mich überzeugender als Juan Diego Flórez, der sie vollbrüstig singt (man höre ab ca 14'00 wie Jean Giraudeau "Que les destins prospères" in der verlinkten Aufnahme singt). Im mittlerern Register ist die Stimme aber etwas gaumig. Luisa Islam-Ali_Zade ist mit ihrem etwas herben Timbre ein glaubwürdiger Isolier. Wie Cherubino kann Isolier aber auch von einer leichteren Stimme gesungen werden, die knabenhafter klingt.

    Gloria Montanari ist ziemlich unverständlich als Ragonde. Ragonde ist eine Charakterrolle, die auch mit einer unperfekten Stimme gesungen werden kann, dabei muß aber der Ausdruck stimmen.
    Luca Salsi als Raimbaud muß die französische Version von Medaglie incomparabili aus dem Viaggio singen. Hier wie da müssen die Silben klar und deutlich heraus. Kein Wunder, daß an der Met Stéphane Degout, mit Gardiner Gino Quilico, in Glyndebourne unter Vittorio Gui Michel Roux und unter Andrew Davis Ludovic Tézier die Partie singen. Wer schon im Rezitativ mit der Sprache überfordert ist, muß in der Arie scheitern.

    Die Interpreten der drei Hauptrollen sind eigentlich ganz gut und einzelne Nummern, wie das schon erwähnte Terzett - übrigens ein absolutes Meisterstück - sind gut gelungen, aber es ist keine Aufnahme, die einen vom Anfang an mitnimmt.
    Ich fürchte, diese Aufnahme wird keinem Le Comte Ory näherbringen, der sie noch nicht kennt.
    Daher :thumbup: :thumbup: :thumbup:

    Rein akustisch würde ich bei Inghelbrecht bleiben: die verlinkte Radio-Aufnahme oder eine spätere von 1959 mit Michel Sénéchal :

    Als Studio-Aufnahme bietet sich Vittorio Gui an, der die Oper 1956 in Glyndebourne dirigiert und anschließend für EMI aufgenommen hat:
     
    Selten hat man seither Komik und Eleganz so überzeugend kombiniert.

    Wer die Oper auch sehen oder einfach kennenlernen möchte, dem sei dieses Video nahegelegt:

    Die Inszenierung von Jérôme Savary ist nicht subtil aber witzig. Alle Beteiligten sind musikalisch und darstellerisch überzeugend, vor allem Annick Massis als grandiose Gräfin.

    Alles, wie immer, IMHO.

  • Erwähnen sollte man noch folgende DVD-Veröffentlichung, die mit drei großen Namen auftrumpft:

    Auch sehr vergnüglich anzusehen und anzuhören, aber als Gesamtleistung würde ich der Savary-Inszenierung doch den Vorzug geben.

  • Edit: gelöscht weil unpassend.
    @Philbert, du hast völlig Recht, aber du kitzelst uns natürlich auch mit deinen Vergleichsaufnahmen!

    Ich habe eiserne Prinzipien. Wenn sie Ihnen nicht gefallen, habe ich auch noch andere.

  • Eigentlich wollte ich in diesem Thread die "Rossini in Wildbad" Aufnahmen vorstellen. Deshalb habe ich mich darauf beschränkt, wenige andere Aufnahmen dort zu erwähnen, wo die Wildbad-Aufnahme mir nicht ganz zufriedenstellend erscheint und eventuell ein herausragendes Video.
    Ich habe vor, einen Thread über Rossinis Neapel-Opern zu eröffnen, wo mehr über die Opern selbst und deren unterschiedlichen Aufnahmen erzählt wird.
    Ein Thread über "Le Comte Ory" alleine wäre auch wünschenswert.

    Alles, wie immer, IMHO.

  • La pietra del paragone


    2001 aufgenommen, 2003 veröffentlicht

    mit

    Conte Asdrubale - Raffaele Costantini, Baß(bariton)
    Marchesa Clarice - Agata Bienkowska, Mezzosopran
    Baronessa Aspasia - Anna Rita Gemmabella, Mezzosopran
    Donna Fulvia - Anke Herrmann, Sopran
    Cavaliere Giocondo - Alessandro Codeluppi, Tenor
    Macrobio - Dariusz Machej, Baß
    Pacuvio - Gioacchino Zarrelli, Baß
    Fabrizio - Teru Yoshikara, Bariton

    Tschechischer Kammerchor
    Tschechische Kamersolisten, Brünn

    Maestro al cembalo, Alessandro de Marchi

    Mit La pietra del paragone gelang Rossini der Durchbruch auf die ganz große Opernbühne. Nach einigen Werken für kleinere Theater in Venedig, Ferrara und Bologna bekam er diesmal seiner ersten Auftrag von der Mailänder Scala. Vermittler waren die Altistin Marietta Marcolini und der Baß Filippo Galli, für die er die Rollen der Clarice und des Asdrubale komponierte,
    Es wurde ein durchschlagender Erfolg, dem bald Aufträge für die Fenice in Venedig (Tancredi) und weitere große Bühnen folgen sollten, doe schnell den Ruhm Rossinis als bedeutendsten zeitgenössischen italienischen Opernkomponisten festigen sollten.

    Stendhal hielt La pietra del paragone für Rossinis Meisterwerk im Buffo-genre (noch vor L'Italiana und Il Barbiere); er war aber ein Bewunderer der italienischen Oper des 18ten Jht (Cimarosa, Paisiello) und stand dem neusten "verdeutschten" Stil skeptisch gegenüber.

    Obwohl La pietra stark unter dem Ruhm der weiteren großen Buffo-Opern Rossinis gelitten hat, ist es nichtsdestoweniger ein bedeutendes und vergügliches Werk.

    Der Librettist Luigi Romanelli hat eine ganz gute Vorlage geliefert, die einerseits der Tradition Goldonis verpflichtet ist, andererseits zukunftsweisende Züge enthält.
    Der Kern ist eine philosophische Frage, die Ähnlichkeiten mit dem Argument von Così fan tutte hat: wie kann man wahre Liebe erkennen? (im Unterschied zu Interesse, Dankbarkeit, Zuneigung ...). Gibt es dafür, wie für Münzen, deren wahren Gehalt an Edelmedall prüfen will, einen Prüfstein (pietra del paragone)?
    Unterschied ist, daß die Prüfung nicht von einem außenstehenden filosofo (Don Alfonso), sondern vom Hauptbeteiligten selber (Asdrubale) bestimmt wird, wozu eine Gegenprüfung kommt, die von der anderen Hauptbeteiligten (Clarice) erdacht ist.

    Asdrubale ist ein in die Jahre (30) kommende sunny boy, um den sich eine Gesellschaft von Müßiggängern dreht: drei Witwen (Clarice, Aspasia, Fulvia) und deren Anhängsel: der Poet Giocondo, der Journalist Macrobio und der (möchtegern)Dichter Pacuvio.
    Das Stück ist selbstverständlich - wie übrigens Così fan tutte - keine realistische Komödie, sondern Romanelli hat daraus ein Konversationsstück gemacht, wo eigentlich nichts wesentliches passiert. Irgendwie sind wir zwischen Goldoni und Monicelli, Fellini - oder Woody Allen. Pier Luigi Pizzi, der die Oper für Pesaro inszenierte, hat sie in seine eigene Ferienvilla bei Castelgandolfo verlegt, wo er "mehreren Macrobios und Pacuvios" begegnet war. Romanellis Sprache ist auf unterschiedlichen Ebenen komisch. Auf der Ebene der Parodie z.B. (u.a. auf die Theatersprache) oder mit einem Wortwitz, der bis ins Absurde geht. Rossini, wir wissen es von seinen großen Buffo-Opern (das erste Finale der Italienerin mit seinen din-din-di, bum-bum-bum et ...), ist mit solchem Spiel mit der Sprache völlig in seinem Element. Beispiele sind dsie buffa-Arie des Pacuvio (ombretta sdegnosa del Missipipì) oder das erste Finale mit Ausdrücken wie "È un Turcesco della Bretagna // Anzi un Tedesco nato in Bevagna" oder die Wiederholung des Wortes "baccalà" ( Stockfisch).

    Diese ungewöhnliche Vorlage hat er musikalisch brillant umgesetzt. Es gibt eine aria del catalogo, wo der Journalist Macrobio alle Künstler auflistet, die von ihm (gegen Bakschisch) eine positive Rezension erbitten, eine lyrische Arie für den unglücklich verliebten Tenor, eine heroische Arie für die als Soldaten verkleidete Clarice, die Verzweiflungsarie des Conte ... Duette, Terzette und zwei große Ensembles: das Finale des ersten Aktes und ein Quintett im zweiten, einen Jägerchor, eine tempesta ... und alles wechselt sich ab ohne Spannungsverlust. Das Orchester ist ein wichtiger Teilnehmer, der das Geschehen im Gang hält. Sogar die recitativi secchi sind dynamisch.

    Der Erfolg der Premiere läßt sich unter anderen dadurch erklären, daß die damalige Gesellschaft einen Spiegel vorgestellt bekam, dies aber nicht didaktisch, sondern geistreich. Rossini hat hier mit Geschick eine Musik komponiert, die die Charaktere als das beläßt, was sie sind: Silhouetten ohne richtige Substanz, so daß sie als Projektionsfläche dienen können für Charaktere, die wir vom real life kennen, inklusive uns selber. Am Ende bleibt doch die Erkenntnis, daß man die Wahrheit nur dann erfährt, wenn man sich verstellt und daß der einzige, der echt bleibt, derjenige ist, der am Ende leer auskommt.

    Die Wildbader Aufführung war wohl die erste in moderner Zeit, die die Oper ungekürzt darstellte (Pesaro folgte ein Jahr später). Alessandro de Marchi weiß, das Konversationstempo auf die Dauer zu halten. Hat man am Anfang den Eindruck, er könnte etwas dynamischer sein, so ist man doch am Ende überrascht, daß die Zeit so schnell vergangen ist. Das Orchester ist gut, besonders die Bläser, die auch solistisch gefordert sind. Als Cembalist im Continuo ist de Marchi auch

    Es ist müßig, sich zu fragen, was eine Lucia Valentini-Terrani als Clarice mit einem Sesto Bruscantini als Asdrubale, einem Enzo Dara als Pacuvio gemacht hätte. Das hier versammelte Team macht seine Arbeit ordentlich. Schwachpunkt ist Asdrubale, eher ein leichtgewichtiger Bariton mit etwas Unsicherheit in der Intonation im ersten Akt. Er verbessert siich aber im Laufe des Abends. Seine große Arie ist am Ende des zweiten Aktes und da ist er völlig in Ordnung. Agata Benkowska als Clarice hat die nötige Virtuosität, man wünschte sich eine stärkere Tiefe. Codeluppi ist besser zu Hause im canto spianato als im canto fiorito, was seiner Arie im zweiten Akt kaum schadet. Die zwei bassi buffi (Macrobio und Pacuvio) gestalten ihre Rollen gut und vermeiden jede unnötige Übertreibung. Am wichtigstem ist aber, daß hier ein richtiges Team am Werk ist. Die Bälle werden gefangen und flink weitergeschickt. Es herrscht keine übermäßige Hektik aber ein flottes und flexibles Tempo.

    Ein kleiner Dämpfer kommt von der Akustik. Es war wohl eine szenische Aufführung. Man hört Bühnengeräusche (die mich nicht sonderlich stören) aber man merkt auch, wenn Personen sich entfernen oder der Chor im Hintergrund steht. Mit dem Bild vor Augen würde das Gehirn alles verarbeiten, akustisch ist es an Stellen etwas sonderbar.

    Das ganze ist hier mehr als die Summe der Teile und deshalb

    Die Konkurrenz ist wie oft nicht groß. Die erste Aufnahme José Carreras' ist stark gekürzt. Gekürzt ist auch leider ein live aus Martina Franca mit Sara Mingardo, William Matteuzzi, Pietro Spagnoli. Stimmlich sind sie alle überzeugend und der Wildbad-Aufnahme überlegen, aber im Endeffekt fehlt etwas der Schwung, den Alessandro de Marchi seinem Team vermitteln konnte..
    Die Pesaro-Produktion von 2002 hat eine sehr starke Mannschaft (Carmen Oprisanu, Marco Vinco, Raúl Gimenez ...) und ist von Carlo Rizzi gut dirigiert, ist aber leider in einer deutlich höheren Preiskategorie.
    Wer möchte La pietra del paragone kennen lernen - und es lohnt sich unbedingt - , kann auf die Naxos-Aufnahme zugreifen (das Libretto ist im Booklet vorhanden, aber nur auf Italienisch).

    Diesmal doch zwei Video-Tips, weil ich mich nicht zwischen beiden entscheiden kann:

    Völlig unterschiedlich, aber beide hervorragend, sowohl was das Sängerische als auch das Darstellerische betrifft, und ohne Kürzungen (einige gestraffte recitativi secchi ausgenommen).


    Übrigens, als Medizin gegen Langeweile oder Trübsinn ist die Pietra del paragone äußerst wirksam. Ein Problem ist aber die Suchtgefahr.

    Alles, wie immer, IMHO.

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