19.07.1819 - Geburtstag von Gottfried Keller
=> aus "Die Leute von Seldwyla. Erzählungen... Verl. v. Friedr. Vierweg u. Sohn: Braunschweig 1856" =>
… über die sanfte Anhöhe lagen vor Jahren drei prächtige lange Äcker weithingestreckt, gleich drei riesigen Bändern nebeneinander. An einem sonnigen Septembermorgen pflügten zwei Bauern auf zweien dieser Äcker, und zwar auf jedem der beiden äußersten; der mittlere schien seit langen Jahren brach und wüst zu liegen, denn er war mit Steinen und hohem Unkraut bedeckt und eine Welt von geflügelten Thierchen summte ungestört über ihm. Die Bauern aber, welche zu beiden Seiten hinter ihrem Pfluge gingen, waren lange knochige Männer von ungefähr vierzig Jahren und verkündeten auf den ersten Blick den sichern gutbesorgten Bauersmann... Es war schön anzusehen..., wenn sie so auf der Höhe an einander vorbeizogen, still und langsam sich mälig von einander entfernten..., bis Beide wie zwei untergehende Gestirne hinter der Wölbung des Hügels hinabgingen und verschwanden, um eine gute Weile darauf wieder zu erscheinen...
So war der lange Morgen zum Theil vergangen, als von dem Dorfe her ein kleines artiges Fuhrwerklein sich näherte, welches kaum zu sehen war, als es begann, die gelinde Höhe heran zu kommen. Das war ein grün bemaltes Kinderwägelchen, in welchem die Kinder der beiden Pflüger...gemeinschaftlich den Vormittagsimbiß heranfuhren...
Wie nun die Männer mit Behagen ihr Frühstück einnahmen..., ließen sie ihre Blicke in der Nähe und Ferne herumschweifen und sahen das Städtchen räucherig glänzend in seinen Bergen liegen; denn das reichliche Mittagsmahl, welches die Seldwyler alle Tage bereiteten, pflegte ein weithin sichtbares Silbergewölk über ihre Dächer emporzutragen, welches lachend an ihren Bergen hinschwebte.
"Die Lumpenhunde von Seldwyl kochen wieder gut!" sagte Manz, der eine der Bauern, und Marti, der andere erwiederte: "Gestern war Einer bei mir wegen des Ackers hier." "Aus dem Bezirksrath? bei mir ist er auch gewesen!" sagte Manz. "So? und meinte wahrscheinlich auch, du solltest das Land benutzen und den Herren die Pacht zahlen?" "Ja, bis es sich entschieden habe, wem der Acker gehöre und was mit ihm anzufangen sei. Ich habe mich aber bedanckt, das verwilderte Wesen für einen Andern herzustellen und sagte, sie sollten den Acker nur verkaufen und den Ertrag aufheben, bis sich ein Eigenthümer herausgetellt, was wohl nie geschehen wird, denn was einmal auf der Kanzlei zu Seldwyl liegt, hat da gute Weile und überdem ist die Sache schwer zu entscheiden..."
Sie schwiegen eine Weile, dann fing Manz wiederum an: "Schad' ist es aber doch, daß der gute Boden so daliegen muß, es ist nicht zum Ansehen, das geht nun schon in die zwanzig Jahre so und keine Seele fragt darnach; denn hier im Dorf ist Niemand, der irgend einen Anspruch auf den Acker hat, und Niemand weiß auch, wo die Kinder des verdorbenen Trompeters hingekommen sind." "Hm!" sagte Marti, "das wäre so eine Sache! Wenn ich den schwarzen Geiger ansehe, der sich bald bei den Heimatlosen aufhält, bald in den Dörfern zum Tanz aufspielt, so möchte ich darauf schwören, daß er ein Enkel des Trompeters ist, der freilich nicht weiß, daß er noch einen Acker hat. Was thäte er aber damit? Einen Monat lang sich besaufen und dann nach wie vor! Zudem, wer dürfte da einen Wink geben, da man es doch nicht besser wissen kann!"
"Da könnte man eine schöne Geschichte anrichten!" antwortete Manz, "wir haben so genug zu thun, diesem Geiger das Heimatsrecht in unserer Gemeinde abzustreiten... Haben sich seine Ältern einmal unter die Heimatlosen begeben, so mag er auch dableiben und dem Kesselvolk das Geiglein streichen. Wie in aller Welt können wir wissen, daß er des Trompeters Sohnessohn ist? Was mich betrifft, wenn ich den Alten auch in dem dunklen Gesicht vollkommen zu erkennen glaube, so sage ich: irren ist menschlich, und...ein Stücklein von einem Taufschein würde meinem Gewissen besser thun, als zehn sündhafte Menschengesichter!" "Eia, sicherlich!" sagte Marti, "er sagt zwar, er sei nicht Schuld, daß man ihn nicht getauft habe! Aber sollen wir unsern Taufstein tragbar machen und in den Wäldern herumtragen? Nein, er steht fest in der Kirche und dafür ist die Todtenbahre tragbar, die draußen an der Mauer hängt. Wir sind schon übervölkert im Dorf und brauchen bald zwei Schulmeister!"
Hiemit war die Mahlzeit und das Zwiegespräch der Bauern geendet und sie erhoben sich, den Rest ihrer heutigen Vormittagsarbeit zu vollbringen. Die beiden Kinder hingegen...zogen ihr Fuhrwerk unter den Schutz der jungen Linden und begaben sich dann auf einen Streifzug in dem wilden Acker, da derselbe mit seinen Unkräutern, Stauden und Steinhaufen eine ungewohnte und merkwürdige Wildniß darstellte. Nachdem sie in der Mitte dieser grünen Wildnis einige Zeit hingewandert, Hand in Hand, und sich daran belustigt, die verschlungenen Hände über die hohen Distelstauden zu schwingen, ließen sie sich endlich im Schatten einer solchen nieder und das Mädchen begann, seine Puppe mit den langen Blättern des Wegekrautes zu bekleiden...; eine einsame rothe Mohnblume, die da noch blühte, wurde ihr als Haube über den Kopf gezogen und mit einem Grase festgebunden, und nun sah die kleine Person aus wie eine Zauberfrau, besonders nachdem sie noch...einen Gürtel von kleinen roten Beerchen erhalten. ….
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Frederick Delius' Opernversion der hier sehr ausschnittsweise zitierten Episode ("A Village Romeo and Juliet"; UA als "Romeo und Julia auf dem Dorfe" 1907 in Berlin) ist im März 2020 wieder viermal an der Oper Frankfurt zu sehen. Wie schon in der Premierenserie ist Johannes Martin Kränzle als >'live' spielender < "schwarzer Geiger" zu erleben!