Kann man »Musik hören« lernen ?

  • Es fällt heutzutage schwer, das zu registrieren, aber jede Musik, mit der man aufgewachsen ist, hat eine Spur hinterlassen; man bemerkt das vor allem, wenn man kulturfremde Menschen kennenlernt, die nicht in unserem Kulturrahmen groß geworden sind.

    Mein alter Musiklehrer hat uns Sextanern mal die Story erzählt, dass Besucher aus Fernost mal zum Sinfoniekonzert eingeladen wurden. Nach dem Konzert hat man sie gefragt, welches Stück ihnen am besten gefallen hätte. Einhellige Antwort: "Das Erste".

    Das Konzert wurde mitgeschnitten. Man hat den Besuchern dann das erste Stück des Programms in einer Bandkopie zugesendet. Aber das war nicht das erste Stück, welches sie meinten ...

    (Ob die Geschichte wahr ist ... se non e vero ...)

    Gruß
    MB

    :wink:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • @MB:
    Das erste Stück war bestimmt eine "mega-fetzige Cagerei"... :D

    "Interpretation ist mein Gemüse." Hudebux

    "Derjenige, der zum ersten Mal anstatt eines Speeres ein Schimpfwort benutzte, war der Begründer der Zivilisation." Jean Paul

    "Manchmal sind drei Punkte auch nur einfach drei Punkte..." jd

  • Das erste Stück war bestimmt eine "mega-fetzige Cagerei"...

    So ist es! Und der Ton "A" spielte darin eine prominente Rolle ... :D

    Gruß
    MB

    :wink:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Anderes Beispiel: Bei einem Benefiz-Rockkonzert Anfang der 70er Jahre ist Ravi Shankar aufgetreten. Die Musiker betreten die Bühne - Applaus - dann lassen sie einige Minuten Töne vernehmen - tosender Applaus - dann Ravi Shankar zum Publikum: "Danke, aber wir haben kein Stück gespielt, sondern nur unsere Instrumente gestimmt!". :)
    Man kann alles bis zu einem gewissen Grad lernen, aber dazugehört unabdingbar, dass man die Praxis übt. Meine anderen Hobbies sind Fotografie und Schach. Ohne Rückmeldung und Reflexion über Resultate der Wahrnehmung geht es nicht. Ich kann mir im Schach eine neue Eröffnung mit einem Buch aneignen. Für die ersten Partien gegen geübte Spieler wird es trotzdem nicht reichen. Man braucht Praxiserfahrung in der Anwendung, um das gelernte vertieft zu verstehen.
    Als ich zur klassischen Musik kam, hatte ich das Glück einen sehr guten Gitarrenlehrer zu haben, der mir guten Rat gegeben hat. Alles baut aufeinander auf, in der Musik und auch in anderen Bereichen der Kunst und des Lebens. Also empfahl er vorne anzufangen, am Beispiel der Solo-Klaviermusik. Also erst mal Scarlatti-Sonaten, dann Haydn, dann Mozart, dann Beethoven, dann Schubert. Und wenn man nur merkt, dass die Stücke länger dauern. ;)

    :wink: Frank

    Gruß, Frank

    Eigentlich bin ich ganz anders, aber ich komme so selten dazu.

  • Die Musiker betreten die Bühne - Applaus - dann lassen sie einige Minuten Töne vernehmen - tosender Applaus - dann Ravi Shankar zum Publikum: "Danke, aber wir haben kein Stück gespielt, sondern nur unsere Instrumente gestimmt!".

    :thumbup:

    Da muß ich grinsen, weil mir mal so etwas Ähnliches passiert ist nur anders herum. Das war noch während meiner Schulzeit (ich war noch jung, dass zu meiner Entschuldigung bzw. als Ausrede). Da wollt ich mir ein Konzert im Fernsehen ansehen. Das Orchester hat ewiglang die Instrumente gestimmt und plötzlich fingen die Leute im Saal an zu klatschen und ich habe mich gefreut und gedacht: "Jetzt geht´s los - endlich !" Blöd habe ich aus der Wäsche geguckt als die Musiker nach einer Weile aufgestanden sind, die Bühne verlassen haben und nicht mehr wiedergekommen sind. :D

    VG

    Palisander

  • Ich empfehle, zuerst mal Noten lesen zu lernen, wenn man das nicht kann. Eigentlich sollte man das ja in der Schule lernen, aber wenn man es nicht z.B. mittels Intrument ständig trainiert, dann wird wohl nicht so viel hängenbleiben.
    Natürlich wird man auch ohne Theorie durch Musik hören etwas lernen - aber wenn man etwas lernen will, geht man wohl am besten den bereits beschrittenen Weg. Da mehrmals das Wort "Gehörbildung" gefallen ist: Das wird auch mit Noten praktiziert.

    This play can only function if performed strictly as written and in accordance with its stage instructions, nothing added and nothing removed. (Samuel Beckett)
    playing in good Taste doth not confit of frequent Passages, but in expressing with Strength and Delicacy the Intention of the Composer (F. Geminiani)

  • Da mehrmals das Wort "Gehörbildung" gefallen ist: Das wird auch mit Noten praktiziert.

    Nein, das ist aber damit nicht gemeint. An Hand vom Ablesen der Noten hat man von Gehörbildung keine Ahnung. Man muss die Töne auch hören können, damit man die Intervalle und Tonsprünge auch wirklich nachvollziehen kann, und das nicht nur rein optisch.

    Viele Grüße sendet Maurice

    Musik bedeutet, jemandem seine Geschichte zu erzählen und ist etwas ganz Persönliches. Daher ist es auch so schwierig, sie zu reproduzieren. Niemand kann ihr am Ende näher stehen als derjenige, der/die sie komponiert hat. Alle, die nach dem Komponisten kommen, können sie nur noch in verfälschter Form darbieten, denn sie erzählen am Ende wiederum ihre eigene Geschichte der Geschichte. (ist von mir)

  • Ich bin überzeugt Gehörbildung hilf an der Stelle nicht weiter genausowenig wie Noten lesen. Es sei denn man will das Stück analysieren. Aber ob man es dann auch verstanden hat bzw. verstanden hat was der Komponist transportieren wollte ist fraglich. Wenn man sich das Gehörte nicht bildlich vorstellen kann, hilft einem die beste Analyse nichts. Ich nehme jetzt z.B. mal die "die Moldau" als Beispiel. Das Stück ist so plastisch komponiert und instrumentalisiert, dass ich bisher der Überzeugung war dass jeder in der Lage sein müsste sich vorzustellen wie der Fluß schwer und langsam dahinfließt und sich das Wasser an manchen Stellen kräuselt. Inzwischen weiß ich aus Unterhaltungen, dass das einigen Mitmenschen echt schwer fällt - die hören da Nichts. Mit anspruchsvolleren Stücken braucht man dann erst gar nicht anfangen.

    Grüße

    Palisander

  • Ich bin überzeugt Gehörbildung hilf an der Stelle nicht weiter genausowenig wie Noten lesen

    Woher kommt diese Überzeugung? Dann könnte man sich ja das Studieren schenken, um es mal auf die Spitze zu treiben. Natürlich hilft es weiter, wenn man es sich bildlich vorstellen kann, bzw. Zusammenhänge hören kann.

    Ich gebe Dir gerne ein Beispiel aus dem Jazzbereich : Viele Musiker, die nach dem Kriege in Deutschland sich der Oldtime-Wellen angeschlossen haben, waren als Musiker Autodidakten. Sie haben die Stücke nach dem Gehör gespielt. Am Ende haben sie die Musik durch das Erhören nicht nur erlernt, sondern konnten sie zum Teil in exzellenter Qualität auch spielen. Dazu waren sie an allen schriftlichen Dingen interessiert, die man über ihre Musik finden konnte. Da waren exzellente Leute dabei.

    Oder nehme Django Rheinhardt und die Sinti-Musik. Da können 90 % keine Noten lesen, aber Dank ihres Gehörs und ihrer Musikalität konnten sie spielen.

    Fazit : Könnte man vielleicht noch auf das Noten lesen verzichten, ist das Gehört dagegen extrem wichtig.


    Wenn man sich das Gehörte nicht bildlich vorstellen kann, hilft einem die beste Analyse nichts. Ich nehme jetzt z.B. mal die "die Moldau" als Beispiel. Das Stück ist so plastisch komponiert und instrumentalisiert, dass ich bisher der Überzeugung war dass jeder in der Lage sein müsste sich vorzustellen wie der Fluß schwer und langsam dahinfließt und sich das Wasser an manchen Stellen kräuselt. Inzwischen weiß ich aus Unterhaltungen, dass das einigen Mitmenschen echt schwer fällt - die hören da Nichts.

    Dann waren sie taub !!! Sie hörten bestimmt etwas, aber eben nicht das, was Du meinst, was sie hören MÜSSTEN . Doch woher soll man wissen, dass da ein Fluss "zu Gehör" gebracht worden ist, es sei denn, man hat den Titel vorher gelesen oder gesagt bekommen. Übrigens kann man nicht bei jeder Musik von "Programm-Musik" sprechen.

    Und das Gehörte kann man ja bildlich erklären: Durch Noten eben. So wird das Bild umgesetzt, quasi gescannt. Falls Du "echte" Bilder meinst, sind wir wieder bei Programm-Musik. Doch wo ist z.B. bei Schumanns 1.Sinfonie das Programm? Oder in der 3.Brahms? Da kann ich keinerlei Programm erkennen.

    Viele Grüße sendet Maurice

    Musik bedeutet, jemandem seine Geschichte zu erzählen und ist etwas ganz Persönliches. Daher ist es auch so schwierig, sie zu reproduzieren. Niemand kann ihr am Ende näher stehen als derjenige, der/die sie komponiert hat. Alle, die nach dem Komponisten kommen, können sie nur noch in verfälschter Form darbieten, denn sie erzählen am Ende wiederum ihre eigene Geschichte der Geschichte. (ist von mir)

  • Inhalt gelöscht.
    Der Ton in diesem Thread wird schon wieder latent aggressiv, das nervt. Schade, dass hier keine sachlichen Diskussionen über einen längeren Zeitraum möglich sind und immer wieder irgendwelche Kleinkriege ausgetragen werden. :(
    29.05.18

  • Notenlesen bedeutet zunächst, den "Text" lesen zu können; ohne Gehörbildung und Musizieren bleibt es erst mal nur eine theoretische Angelegenheit. Wenn man mit diesem Hintergrund Musik hört, wird man gewiß etwas deutlicher einschätzen können und Details erkennen.

    Das ist aber nur ein Aspekt, den die Musik bietet. Der andere ist der des reinen Hörens. Ein Unkundiger mag nicht die Tonart erkennen oder die Noten daraus aufzählen können, aber er kann bemerken, wenn etwas "Ungewöhnliches" in der Musik passiert. Vor allem aber kann er ein geübter Hörer sein und gewisse Aspekte wie z.B. Satzfolgen einer Symphonie erkennen können, weil er das oft genug vorher schon so gehört hatte.

    Musik ist immerhin eine Kunstform, die uns alle unser Leben lang begleitet, weil wir alle immer wieder Musik hören - unabhängig davon, ob wir es als Hobby haben oder nicht mal ein Radio besitzen. Man hört dennoch Musik in seinem Leben und bekommt mit, wie bestimmte Gattungen klingen. Nur ist die Frage, ob es für den jeweiligen Hörer reicht. Ein Musikmuffel interessiert jede Art von Theorie wohl kaum, und wenn er nicht mal als Kind dazu "gezwungen" wurde, ein Instrument zu erlernen, wird er wohl auch kaum die Theorie können. Ein Musikenthusiast wird gerne hören und darüber sprechen wollen, aber es liegt an seinem eigenen Anspruch, ober er die Theorie erlernen will oder nicht. Es schadet nicht, sie zu können; aber es ist auch nicht gleich ein Beinbruch, wenn man sie eben nicht beherrscht.

    Wie gesagt: mit der Theorie kann man mehr Details und Feinheiten erfassen und nachvollziehen, aber ich glaube nicht, daß man als Notenunkundiger gleich komplett dem Verständnis ausgeschlossen wird. Die unmittelbare Wirkung der Musik wird weder dem Einem noch dem Anderen verborgen bleiben. Man wird sie vielleicht anders empfinden - aber das passiert selbst bei ähnlich Gebildeten.

    "Interpretation ist mein Gemüse." Hudebux

    "Derjenige, der zum ersten Mal anstatt eines Speeres ein Schimpfwort benutzte, war der Begründer der Zivilisation." Jean Paul

    "Manchmal sind drei Punkte auch nur einfach drei Punkte..." jd

  • Mir hat es als Jugendlicher schon viel gebracht, die Musik (angefangen hat es mit Jupiter- und g-moll-Symphonie) in den Noten mitverfolgen zu können. Weiß nicht, ob ich ohne das die Komplexität überhaupt schon mitgekriegt hätte. (von verstehen will ich inj dem Stadium noch nicht reden...)
    Auch das Lesen über die Werke, erst in Konzertführern, später in detaillierteren Betrachtungen, haben mein Gehör auf die Spur gebracht, worauf man achten könnte. Ob das nötig ist, weiß ich nicht, aber geholfen hats schon.

    Heute hilft mir die Gehörbildung von 4 Jahrzehnten Musikmachen schon dabei, einen Hör-Eindruck zu verstehen, benennen zu können, was passiert.
    Die Noten sind ja auch nur eine Art Schrift - man kann auch Gedichte verstehen, ohne lesen und schreiben zu können. Aber die mit Schrift einhergehende Rationalisierung des Gedächtnisses hilft der tiefergehenden Beschäftigung schon sehr, vor Allem, da man Eindrücke benennen und über sie kommunizieren kann.

    Was die musikalischen Kulturen angeht, die weitgehend ohne Noten funktionieren, sollte man die Tradition nicht außer acht lassen: bei den Sinti, die ich kennenlernen durfte, lief viel über feste Griffe für bestimmte Akkorde - da wurden Fingersätze tradiert. (Wenn ich mal vorgeschlagen habe, denselben Akkord mal in einer anderen Umkehrung oder Lage zu spielen, war es fast unmöglich, mich verständlich zu machen...)
    Beim Improvisieren darüber ist das Gehör natürlich schon entscheidend, wenn man nicht einfach Tonleitern paukt, die zu den Akkorden passen, und das war nicht mein Eindruck.
    Mein letzter (Jazz-)Gitarrenlehrer, der auch Sinti war, aber alle möglichen Stilistiken spielen konnte, hat sich der ganzen Palette von Notenschrift, Harmonielehre, Skalentheorie etc bedient, um dem Gehör und der Phantasie Möglichkeiten aufzuzeigen, aber sein (ihm selbst) wichtigster Satz war immer: Du musst HÖREN, wie das klingt.

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • Würdest du das, was du geschrieben hast, auch 1:1 auf "Nur"-Hörer übertragen? Was du sagst klingt schlüssig, hat aber auch immer einen Bezug zum aktiven Musizieren

    Ich bin nun mal ausübender Musiker, daher kann ich nur diese Seite beleuchten. "Nur"-Hörer sind für mich in vielen Fällen recht naiv, was die Vorstellungen angeht. Nicht jeder von diesen Leuten hat ein wirklich gutes Gehör für das, was da gerade musikalisch passiert. Viele Stellen sind für diesen Hörer eher nebulös, er versteht es einfach nicht.Für mich sind das dann die Leute, die an wichtigen Stellen Husten, oder an den völlig falschen Stellen klatschen. Das ist bewusst krass geschrieben von mir jetzt, um es einfach mal deutlich zu machen.

    Um es noch mal ein Stück mehr auf die Spitze zu treiben: Von 100 reinen Zuhörern dürften vielleicht zwei ein Stück einigermaßen deuten können, dem Rest kannst Du auch das Stück rückwärts vorspielen, sie würden den Unterschied nicht bemerken. Sie sagen Dir am Ende nur, ob es ihnen gefallen hat oder nicht.


    Notenlesen bedeutet zunächst, den "Text" lesen zu können; ohne Gehörbildung und Musizieren bleibt es erst mal nur eine theoretische Angelegenheit. Wenn man mit diesem Hintergrund Musik hört, wird man gewiß etwas deutlicher einschätzen können und Details erkennen.

    So könnte man es beschreiben.


    Heute hilft mir die Gehörbildung von 4 Jahrzehnten Musikmachen schon dabei, einen Hör-Eindruck zu verstehen, benennen zu können, was passiert.

    Völlig richtig. Das kann ich so unterschreiben.

    Viele Grüße sendet Maurice

    Musik bedeutet, jemandem seine Geschichte zu erzählen und ist etwas ganz Persönliches. Daher ist es auch so schwierig, sie zu reproduzieren. Niemand kann ihr am Ende näher stehen als derjenige, der/die sie komponiert hat. Alle, die nach dem Komponisten kommen, können sie nur noch in verfälschter Form darbieten, denn sie erzählen am Ende wiederum ihre eigene Geschichte der Geschichte. (ist von mir)

  • Nochmal zurück. Was heißt "verstehen"?

    Es gibt zwei klassische Ansätze dazu, den griechischen und den hebräischen.

    Wenn ein griechischer Wissenschaftler eine Biene "verstehen" will, dann fängt er eine, tötet sie, legt sie auf seinen Labortisch, nimmt sie auseinander und benennt die Einzelteile. Dann hat er die Biene "analysiert". Genauer: Er hat eine tote Biene analysiert. - Vom Bienenstaat, von Honig, von Königinnen, vom Bienentanz u. a. m. weiß er damit nicht viel.

    Ein hebräischer Wissenschaftler versucht, sich (im Geiste) mit der Biene zu vereinigen. Erkenntnis ist Vereinigung ("Und Adam erkannte sein Weib und sie ward schwanger ..."). Er versucht, sich hineinzudenken und nachzuspüren. warum sie dahin fliegt, wohin sie gerade fliegt. Was macht sie im Winter. Was macht sie nachts. Usw.

    Wenn Du auf die "griechische" Art Musik verstehen willst, kannst Du Stücke z. B. bzgl. ihrer Form analysieren. Du lernst Formmodelle und Abläufe und nach wenigen Beispielen kannst Du die wiedererkennen.

    Dazu braucht man übrigens keine Notenkenntnisse. Beispiele findest Du z. B. hier oder hier oder hier oder hier. Nicht, weil die Analyseversuche von mir sind - einfach als Beispiel dafür, dass man Musik auch ohne Notenkenntnisse z. B. in formanalytischer Hinsicht nachvollziehen kann und vielleicht einen kleinen Gewinn daraus ziehen mag.

    Die Mächtigkeit der Formanalyse ist stark begrenzt. Fragt man drei Musikwissenschaftler nach der Analyse eines Werkes, so bekommt man fünf Erklärungsmodelle ... und landet letztlich dort, wo der Grieche mit der toten Biene war.

    Notenkenntnisse werden vielleicht überschätzt. :D Jahrhundertelang fand der größere Teil der praktischen Musikausübung ohne Noten statt. Organisten haben lange Zeit vor allem improvisiert und nur besonders gelungene Einfälle festgehalten (oder für Lehrzwecke oder vor allem kontrapunktische Sätze). Die norddeutschen Organisten des Barock - und das sind nicht die unbedeutendsten - haben ihre Werke ohne Noten festgehalten, in Tabulatur (das ist der kleine grüne Drache von Peter Maffay). - Dass Samuel Scheidt sein "Opus Magnum" in Partitursatz herausgab, war so revolutionär, dass er im Titel des Werkes darauf hinwies: "Tabulatura nova". - Jazzmusiker, die etwas von ihrem Fach verstehen, spielen ganze Sessions mitunter ohne Noten. (Im Ensemblesatz muss man freilich Dinge regeln und organisieren.)

    Noten lesen zu können, heißt erst mal nicht viel: Das ist ein c", das ist ein fis', das ist ein A. Wenn man Noten in diesem Sinne lesen kann, dann kann man Noten in dem Sinne lesen, in welchem ich ungarische Texte lesen kann - ich erkenne die Buchstaben, verstehe aber nicht den Sinn.

    Wenn Du Musik im "hebräischen" Sinne verstehen willst, ist es vielleicht am besten, ein Instrument zu lernen. Und wenn es Blockflöte ist. - Fürs Verständnis mehrstimmiger Musik ist ein Tasteninstrument nützlich ... Und ein guter Lehrer hilft. Auch beim "Verstehen", auf griechische und hebräische Weise.

    Um es noch mal ein Stück mehr auf die Spitze zu treiben: Von 100 reinen Zuhörern dürften vielleicht zwei ein Stück einigermaßen deuten können, dem Rest kannst Du auch das Stück rückwärts vorspielen, sie würden den Unterschied nicht bemerken.


    Wie man sich derart über andere Musikhörer erheben mag, wenn man wenige Postings vorher eingestanden hat, keinen Bezug zu Bachs Musik zu haben, ist mir schleierhaft. Aber ich muss das auch nicht verstehen, weder griechisch noch hebräisch.

    Zitat von Palisander

    Ich nehme jetzt z.B. mal die "die Moldau" als Beispiel. Das Stück ist so plastisch komponiert und instrumentalisiert, dass ich bisher der Überzeugung war dass jeder in der Lage sein müsste sich vorzustellen wie der Fluß schwer und langsam dahinfließt und sich das Wasser an manchen Stellen kräuselt. Inzwischen weiß ich aus Unterhaltungen, dass das einigen Mitmenschen echt schwer fällt - die hören da Nichts. Mit anspruchsvolleren Stücken braucht man dann erst gar nicht anfangen.


    Es gab auch Hörer von Mendelssohns Schottischer Sinfonie, die meinten, die "italienische" zu hören, und im Nachgang behaupteten, Mendelssohn hätte Italien prima in Musik eingefangen ... die Zuordnung außermusikalischer Inhalte ist mit Vorsicht zu genießen. Mag helfen, mag aber auch irreführen.


    Gruß
    MB

    :wink:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Ich kann mich hier schon seit Längerem überwiegend Mauerblümchens Postings anschließen. Allein der "Verstehensbegriff" ist ja schon eine Herausforderung und letztlich nicht eindeutig zu klären. Ich gehe davon aus, dass "Verstehen" zum einen auf den unterschiedlichsten Ebenen stattfinden kann und zum anderen auch perspektivisch, individuell, durch einen letztlich immer einzigartigen Verstehenskontext geprägt ist. Das heißt nicht, dass ich einem Verstehensbegriff folge, der völlig relativistisch ist. Aber musikalisches "Verstehen" bleibt m.E. immer Begegnung, immer ein "Quasi-Dialog". Was der Komponist ausdrücken wollte, ist dabei für mich persönlich - sofern es keine Quellen dazu gibt - völlig zu vernachlässigen. Ich habe schlicht keine Lust, nach irgendwas zu suchen, was ich eh nicht finden kann. Die Begegnung vollzieht sich grundsätzlich zwischen der Musik und dem Hörer.
    'Musik hören' lernen? Ja, in gewissem Sinne glaube ich daran. Ich kann mir gewisse Hörkompetenzen aneignen, um Zusammenhänge besser zu begreifen, mitzuvollziehen, zu verstehen. Ich kann Konventionen durch Erfahrungswerte immer besser als solche wahrnehmen. Aber das ist natürlich längst nicht alles, was mich als Musikbegeisterten interessiert.

    ...schreibt Christoph :wink:

  • Die Methoden mögen ja richtig beschrieben sein, aber der "griechische" Wissenschaftler ist kein antiker Grieche (außer vielleicht ein Anhänger der Nischenposition der Atomisten), sondern ein Abendländer post Bacon und Descartes. Zwar hat der aristotelische Wissenschaftler keine auf "Vereinigung" bezogene Vorstellung von Erkenntnis, aber er ist weitaus holistischer als der "we murder to dissect"-Analytiker der westlichen Neuzeit. Der typische Erklärungsansatz eines Antiken wäre die Biene als Teil des Bienenstaats zu betrachten (nicht (nur) den Staat als Summe der Bienen) und die Organe als funktional auf das gesamte Lebewesen bezogene unselbständige Komponenten, nicht das Lebewesen als Maschine, als Zusammensetzung im Prinzip unabhängig existierender Teile zu beschreiben. Erst das Lebewesen ist ein Ganzes und im Vollsinne Existierendes, die Teile sind (ohne Bezug aufs Ganze) immer nur potentiell Existierende. (Eine abgehackte Hand auf dem Seziertisch ist strenggenommen keine Hand mehr, weil sie ihre wesensstiftende Funktion im Ganzen eines Lebewesens verloren hat.)

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Nein, das ist aber damit nicht gemeint. An Hand vom Ablesen der Noten hat man von Gehörbildung keine Ahnung. Man muss die Töne auch hören können, damit man die Intervalle und Tonsprünge auch wirklich nachvollziehen kann, und das nicht nur rein optisch.

    Das ist halt die Frage, was hier mit "Gehörbildung" gemeint war. Normalerweise fängt das an mit dem Klopfen notierter Rhythmen und dem Aufschreiben gehörter Melodien und endet mit der Notation langer komplizierter harmonischer Folgen nach dem Gehör. Also von vorne bis hinten wird das mit Noten praktiziert. Klar kann man, wenn man zu faul ist, die Grundlagen zu lernen (Alphabet, Noten, ...) sich Gedanken machen, wie eine alternative Gehörbildung ausschauen könnte. Aber wenn man wirklich was lernen will - "Musik hören" z.B. - kann man ja auf sich nehmen, das Alphabet zu lernen.
    Ohne Notenkenntnisse kann man ja auch fast nichts lesen, was über Musik geschrieben wird. Freilich braucht man alles nicht - hören kann jeder, sofern er nicht taub ist. Somit kann er auch Musik hören. Daraus folgt dann, dass man Musik hören nicht lernen kann ...

    This play can only function if performed strictly as written and in accordance with its stage instructions, nothing added and nothing removed. (Samuel Beckett)
    playing in good Taste doth not confit of frequent Passages, but in expressing with Strength and Delicacy the Intention of the Composer (F. Geminiani)

  • Wie man sich derart über andere Musikhörer erheben mag, wenn man wenige Postings vorher eingestanden hat, keinen Bezug zu Bachs Musik zu haben, ist mir schleierhaft. Aber ich muss das auch nicht verstehen, weder griechisch noch hebräisch.

    Du verstehst eine Menge nicht. Das beste Beispiel lieferst du hier ab :

    Jazzmusiker, die etwas von ihrem Fach verstehen, spielen ganze Sessions mitunter ohne Noten. (Im Ensemblesatz muss man freilich Dinge regeln und organisieren.)

    Alleine diese Aussage ist schon ein Witz. Damit sind also alle Jazzmusiker, die eine Session mit Noten spielen, keine Musiker, die "ihr Fach verstehen". Das ist "mauerblümisch" und totaler Humbug.

    Natürlich gibt es im Jazz bestimmte Themen, die vielen Musikern geläufig sind. Und oftmals können sie über Stücke besser improvisieren als sich das Thema behalten, was etwas mit den "Changes" an sich zu tun hat. Das heißt aber nicht, dass Musiker, die sich Noten hinlegen, ihre Musik nicht verstehen würden. Sie brauchen die Noten, weil sie sich vielleicht bestimmte Teile des Stückes nicht merken können, oder das Stück selbst wenig oder überhaupt nicht spielen.

    Viele Grüße sendet Maurice

    Musik bedeutet, jemandem seine Geschichte zu erzählen und ist etwas ganz Persönliches. Daher ist es auch so schwierig, sie zu reproduzieren. Niemand kann ihr am Ende näher stehen als derjenige, der/die sie komponiert hat. Alle, die nach dem Komponisten kommen, können sie nur noch in verfälschter Form darbieten, denn sie erzählen am Ende wiederum ihre eigene Geschichte der Geschichte. (ist von mir)

  • Alleine diese Aussage ist schon ein Witz. Damit sind also alle Jazzmusiker, die eine Session mit Noten spielen, keine Musiker, die "ihr Fach verstehen". Das ist "mauerblümisch" und totaler Humbug.

    Diesen Schluß verstehe nun wiederum ich nicht: Mauerblümchen hat von Jazzmusikern gesprochen, die "mitunter" ohne Noten spielen! Damit unterstellt er nach meinem Verständnis solchen Musikern, die Noten verwenden, nicht, daß sie ihr Fach nicht verstünden.

    Oder habe ich da etwas falsch verstanden?

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

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