München, Bayerische Staatsoper, 28.6.18, Petrenko - Kaufmann, Stemme, Gerhaher, Pape, Koch
Noch etwa 10 Tage steht bei BR Klassik der Mitschnitt der Parsifal-Premiere an der Bayerischen Staatsoper vom 28. Juni zur Verfügung:
https://www.br-klassik.de/audio/parsifal-106.html (erster Akt ab 35:15, zweiter Akt ab 2:53:25, dritter Akt ab 4:38:10)
In der (den meisten Reaktionen nach durchgefallenen) Regie/Bühnenbild-Kooperation von Pierre Audi und Georg Baselitz singen u.a. Jonas Kaufmann (Parsifal), Nina Stemme (Kundry), Christian Gerhaher (Parsifal), René Pape (Gurnemanz) und Wolfgang Koch (Klingsor). GMD Kirill Petrenko dirigiert das Bayerische Staatsorchester und den Staatsopernchor.
Das ist auf jeden Fall überaus hörenswert! Ein Orchesterspiel, das so farbenreich, aber eben auch zart ist, um den Sängern alle Möglichkeiten zu geben, ihre Partien nicht zu brüllen, sondern dynamisch differenziert zu gestalten. Trotzdem wird kein "nazarenisch"-sanfter Orchestersound erzielt (am ehesten noch in Teilen des ersten Akts), sondern ein durch lebendig pulsierende Begleifiguren sowie zahlreiche ungehörte Details und Akzente lebendiges Klangbild (ein beliebig herausgegriffenes Detail: das tonartfremde, mit einem Akzent versehene fis der Geigen zu Kundrys Taufe schneidet scharf wie ein Messerstich). Auch bei den Chören erscheint mir übrigens die Forderung von Pierre Boulez erfüllt wie noch nie (Ich hätte gern speziell die Chöre des ersten Akts etwas "geheimnisvoller" gesungen, und nicht wie das Horst-Wessel-Lied oder Lily Marlen! das ist kein Soldatentrupp! das ist vielmehr eine Mannschaft von Freimaurern wie zu Mozarts Zeiten!). Nur bei rein orchestralen Passagen und in Teilen des zweiten Akts lässt Petrenko das Orchester aufdrehen, nie unkontrolliert, sondern in der ersten Verwandlungsmusik gezielt den Höhepunkt anstrebend (und ihn dynamisch dann erst erreichend). Besonders bewegend in ihrer Mischung aus Klagefiguren und Unerbittlichkeit gerät die Verwandlungsmusik im dritten Akt. Tempomäßig ist Petrenko ganz nah bei den insgesamt schnellsten Interpretationen, z.B. Boulez. Die Zeiten der einzelnen Aufzüge: 1:35, 1:01, 1:07. Ich habe auch nach zweimaligem Hören noch nicht rausgekriegt, wie er das macht; die Tempi wirken auf mich oftmals nicht schnell, die Temporelationen sind andere als bei Boulez oder Kegel: im dritten Akt erklingt das Vorspiel überaus langsam, ermattet, an einigen Stellen fast in sich zusammensinkend. Erst dann nimmt Petrenko (der das Werk übrigens zum erstenmal dirigiert) allmählich fließendere Tempi, gesteigert bis zu einem sehr flüssigen Karfreitagszauber.
René Pape habe ich zum drittenmal live in der Partie gehört, er hat sie bestimmt inzwischen hundertmal gesungen. Er ist nach wie vor großartig, mit Stimmkraft und balsamischem Timbre. Gestaltung ist vielleicht nicht seine primäre Fähigkeit, aber wie er bestimmte Passagen (...den nun des Grales Anblick nicht mehr labte) extrem leise, fast ersterbend, und doch mit stimmlicher Substanz rüberbringt, finde ich bewegend. Jonas Kaufmann erfuhr, wie meistens, geteilte Reaktionen. Ich mag seine Stimme, das Baritonale, Abgedunkelte. Die Amfortas-Rufe im zweiten Akt gelangen markerschütternd, in der folgenden Passage ist er rhythmisch sowie in puncto Textartikulation und Ausdruck richtig gut. Er nimmt auch das Angebot Petrenkos, die Dynamik zu reduzieren, oft an - allerdings klingt die Stimme dann ab und zu (vor allem im dritten Akt) etwas brüchig, hinzu kommen ein paar verzeihliche Ermüdungserscheinungen am Ende. Zusammen mit Nina Stemme legt Kaufmann eine packende zweite Hälfte des zweiten Akts hin. Stemme hat die Partie der Kundry noch nicht lange im Portfolio, aber sie ist bombensicher in allen stimmlichen Lagen und Anforderungen. Koch als Klingsor (meist singt er inzwischen ja den Amfortas) sehr gut, stark charakterisierend, aber nicht chargierend. Die ungewöhnlichste Leistung bot wohl Christian Gerhaher mit sehr hell klingender Stimme bei seinem Debut in der Rolle des Amfortas: in Bezug auf Tonhöhe und Rhythmus nicht immer perfekt (es ist halt ein Debut), aber mit einem enormen Gestaltungswillen - jedem Wort wird nachgespürt, jede Phrase klingt anders, auf engstem Raum wechseln sich unterschiedlichste Affekte ab. Zumal bei der Klage im ersten Akt wirkt das ungewohnt rezitativisch. Kein baritonal-wohlklingend Leidender, kein schmerzverzerrt Dröhnender, sondern ein fast zynisch Zerrissener ist der Gralskönig hier.
Es gibt übrigens am Sonntag (8.7.) einen Livestream (https://www.staatsoper.de/meldungen/pars…ive-stream.html). Ob sich die zusätzliche visuelle Ebene lohnt, weiß ich nicht, bezweifele es aber.