Vaughan Williams: Symphonie Nr. 8 d-Moll
Entstehung, Hintergrund und Aufnahme
„Er hat doch nicht noch eine geschrieben“, entgegnete der englische Musikkritiker und -wissenschaftler Frank Howes Ursula Vaughan Williams, als sie ihn in einem Telefonat einlud, bei einem Durchspiel des Klavierauszuges der neuen Symphonie ihres Mannes Ralph am 4. April 1955 in London dabei zu sein. Ein Grund für seine Bemerkung war wohl, dass er (wie viele andere) nicht damit gerechnet hatte, dass der greise Komponist – Vaughan Williams war zu diesem Zeitpunkt bereits 82 Jahre alt – nach der "Sinfonia Antarica" noch eine weitere Symphonie vorlegen würde. Zudem war wenige Wochen zuvor sein Buch „The Music of Ralph Vaughan Williams“ erschienen, das das neue Werk unangenehmerweise natürlich mit keinem Wort erwähnte. Nachdem sich Ursula ironisch für die „Fruchtbarkeit“ ihres Gatten entschuldigt hatte, nahm Howes die Einladung gerne an und hörte das Werk, am Piano gespielt von Vaughan Williams‘ Amanuensis Roy Douglas, als Teil einer elitären Gruppe, die Vaughan Williams „den inneren Zirkel“, seine Gattin hingegen „das Komitee“ nannte. Diesem Zirkel gehörten neben ihm unter anderem Sir Arthur Bliss, Gerald Finzi, Herbert Howells und Edmund Rubbra an.
In seinem 10 Jahre nach dieser Gelegenheit publizierten Buch „The English Musical Renaissance“ charakterisiert Howes das Werk in aller Kürze wie folgt: „Die Nr. 8 ist seine einzige vollkommen absolute Symphonie, ein Werk, das sich mit Klangmöglichkeiten und Orchestration beschäftigt. Alle anderen haben ein mehr oder weniger explizites Programm […].“ (Howes, S. 328) Hier zeige sich, so Howes, „ein Musiker, der die Klangwelt, in der er arbeitet, erforscht […].“ (Howes, S. 329)
Tatsächlich schien Vaughan Williams auf seine alten Tage noch einmal daran gegangen zu sein, Klänge zu erforschen. Die Komposition der Filmmusik zu dem britischen Kinofilm „Scott of the Antarctic“ und die anschließende Ausarbeitung dieser Musik zur „Sinfonia Antartica“ hatten Vaughan Williams offenkundig auf die Idee gebracht, noch einmal mit Klängen zu experimentieren und gleichzeitig ein Werk zu gestalten, das in „kaleidoskopischer Form“ (Kennedy 1964, S. 366) die unterschiedlichen Facetten seines Stils „vom Zart-Pastoralen und Wilden zum Eloquenten und Scherzhaften“ (Kennedy, ebd.) in nuce aufzeigen würde.
Die „Antartica“ war am 15. Januar 1953 vom Hallé Orchestra unter der Leitung von Sir John Barbirolli in Manchester uraufgeführt worden. Nach einem geschäftigen Jahr machten Vaughan Williams und seine Frau im Frühjahr 1954 eine Reise nach Italien, von der sie Ende Mai zurückkehrten. Der Sommer gestaltete sich nach Aussage von Ursula Vaughan Williams ruhig: „Den größten Teil der Zeit arbeitete er [= RVW] an den Skizzen für seine neue Symphonie und den Vorlesungen, die er in Amerika halten würde.“ (UVW, S. 346) Auch wenn der Komponist viel Papier für die Ausarbeitung der Symphonie auf seine herbstliche Amerikareise mitnahm, so ist doch anzunehmen, dass er in dieser Zeit nicht nur wenig Zeit für die Arbeit an der Achten hatte. Im Dezember dann, kurz vor Weihnachten, ließ er Sir John Barbirolli wissen, dass die neue Symphonie auf dem Wege sei. Im Januar 1955 spielte Vaughan Williams das Werk erstmals Ursula vor, im April fand dann das oben erwähnte Vorspiel statt. Kurz darauf gab Vaughan Williams die Partitur Barbirolli, der sie auf einer Konzertreise nach Australien studierte und Vaughan Williams schrieb, dass er „enorm fasziniert“ (vgl. UVW, 358) von der Komposition sei. Am 24. Oktober 1955 schließlich gab Barbirolli der Öffentlichkeit bekannt, dass es eine neue Symphonie aus Vaughan Williams‘ Feder gäbe, die im Mai des darauffolgenden Jahres ihre Uraufführung unter seiner Leitung erleben würde (vgl. Kennedy, S. 333).
Die Uraufführung am 02. Mai 1956 schließlich war – wenn man den Worten Michaels Kennedys hier trauen darf – „ein Triumph, da die Öffentlichkeit diese ungezügelte Musik und akzeptierte sie mit dem rechten Geist.“ (Kennedy, S. 334). Auch Ursula spricht von einer „herausragenden Aufführung“ (UVW, 372). Aber es gab – wie immer – auch kritische Stimmen. Eine davon war diejenige Colin Masons vom Manchester Guardian, der nichts vom Einsatz des Vibraphons hielt und – trotz seiner Begeisterung für die ersten beiden Sätze – befand, dass die „Symphonie nicht wirklich als vollständige musikalische Form überzeuge“. (zit. n. Kennedy, S. 334) Auch besagter Frank Howes scheint von der Konzeption des Werkes von Anfang an nicht überzeugt gewesen zu sein. So geht es aus einem Brief von Vaughan Williams an Howes nach dem ersten Vorspiel, von dem weiter oben die Rede war, hervor: „Vielen Dank für Ihren Brief und dafür, dass Sie hier waren, um meine neue Melodie zu hören. Und obwohl ich nicht Ihren Rat noch denjenigen von irgendwem anders blind akzeptiere), so hat er doch Spuren hinterlassen. Beim Hauptpunkt jedoch kann ich Ihrem Rat nicht folgen. Ich fühle, dass das Ding eine Symphonie ist und auch eine bleiben wird.“ (zit. n. UVW, S. 358) Dass der altersweise Komponist Kritik mit Humor nehmen konnte, zeigt seine Replik auf einen Brief, den Barbirolli nach der Uraufführung von einem neunjährigen Jungen erhalten und an ihn weitergeleitet hatte. Der Junge schrieb, wie sehr er den ersten Programmpunkt (eine Haydn—Symphonie) gemocht hatte – ganz im Gegensatz zur Vaughans Williams Achter. Vaughan Williams schrieb zurück: „Lieber Tom, Sir John Barbirolli hat mir den Brief weitergeleitet, den Du ihm geschrieben hast. Ich freue mich, dass Du Haydn magst. Er war ein sehr bedeutender Mann und schrieb wunderbare Melodien. Ich muss eines Tages versuchen, eine Melodie zu schreiben, die Dir gefällt. Herzliche Grüße, Dein R. Vaughan Williams.“ (zit. n. Kennedy, S. 335)