Dmitri Schostakowitsch: Klavierquintett g-Moll op. 57
1940: Die Sowjetunion unter Stalin, die Welt vor einer Kriegsausweitung – und Dmitri Schostakowitsch komponiert sein einziges Klavierquintett. Musik als solche oder als Kommentar zur Zeit oder als verschlüsselter oder gar offener Ausdruck der eigenen Verunsicherung? Der zwischen Staatskritik und -anerkennung hin- und hergerissene Komponist wurde für dieses Werk mit dem Stalin-Preis Erster Klasse ausgezeichnet.
Das Werk hat fünf Sätze und dauert knapp über 30 Minuten. Es fällt auf, dass sich in jedem Satz (außer im ohnedies durchgehend grotesk verzerrten Scherzo) eine Verdichtung ins Schmerzverzerrte findet.
1 Prelude: Lento – poco più mosso – Lento
Die Rahmenteile feierlich streng (der zweite wirkt auf mich noch strenger als der erste), der Mittelteil leichtgewichtiger, aber mit der Verdichtung ins Schmerzverzerrte als Höhepunkt.
2 Fugue: Adagio
Die Musik schleicht sich elegisch ins Geschehen und verdichtet sich nach und nach ins zweite aufschreiend Schmerzverzerrte, um danach mysteriös, ruhig, irisierend geheimnisvoll, nahezu zerbrechlich noch eine Zeitlang dahinzugleiten, atmosphärisch seltsam schwebend.
3 Scherzo: Allegretto
Ein grotesker Puppentanz in einer Fabrik.
4 Intermezzo: Lento
Verlorenes barock statisches Schreiten, ätherische schöne Melodiebögen darüber, im Verlauf des Satzes wieder schmerzhafte Züge zeigend, direkt in…
5 Finale: Allegretto
Verblüffend und etwas irritierend – sanft und freundlich heiter geht es in eine Art Bolero, dann wird die Musik wieder geheimnisvoll zart, aber neuer Schmerz flammt auch auf, zurück zum sanften, zerbrechlichen Bolero. Ein scheinfriedliches Anti-Finale.
Mit Martha Argerich liegen je eine CD- und eine Fernsehliveaufnahme des Werks vor, meine akustische Grundlage dieser Threaderöffnung.
Die Audioaufnahme wurde am 21.6.2006 beim Progetto Martha Argerich im Rahmen des Lugano Festivals 2006 im Auditorio Stelio Molo mitgeschnitten (CD EMI 50999 5 04504 2 8, Spieldauer 34:28 Minuten). Mit Martha Argerich musizierten Renaud Capuçon und Alissa Margulis (Violinen), Argerichs Tochter Lyda Chen (Viola) und Mischa Maisky (Cello) – meinem Hörempfinden nach eine kammermusikantisch grandiose, tolle, intensive Aufnahme voll starker Livespannung zumal in den langsamen Abschnitten, auch akustisch großartig aufgenommen, das Klavier schön offen, die Streicher links und rechts.
Am 22.7.2008, beim Verbier Festival, bei der auf DVD veröffentlichten Fernseh-Liveaufnahme, wirkten neben Martha Argerich Joshua Bell und Henning Kraggerud (Violinen), Yuri Bashmet (Viola) und wieder Mischa Maisky (Cello) mit. Mir ist es da so gegangen: Noch genauer achtet man als Zuschauer mit dem Bild dazu auf die einzelnen Stimmeneinsätze. Das Werk hat etwas hochkonzentriert Verbissenes, und genauso spielen sie das, mit grimmiger Ernsthaftigkeit. Mein Eindruck: Fünf Vollprofis haben sich wohl in kurzen Vorbesprechungen und Proben am Wesentlichen auf das Abenteuer einer spontanen, ganz aus dem Augenblick heraus lebendigen Aufführung eingelassen, und das ist das für mich großartige Dokument davon, ein Dokument gelebter Konzertleidenschaft. Nach dem grimmig brillanten Scherzo wird applaudiert, wie schön, das ist live.
Ein ungewöhnliches, mehrfach schmerzhaft tiefgehendes großes Klavierquintett, zwei für mich tolle Aufnahmen mit Martha Argerich, aber sicher gibt es viele andere tolle Aufnahmen.
Die SRF 2 Kultur Diskothek etwa, auch eine Hörgrundlage dieser Einführung, findet diese Neuerscheinung vom April 2018 mit dem Belcea Quartett und Piotr Anderszewski herausragend.
Hier kann man sehen, welche Aufnahmen dort vorgestellt wurden und was die Experten meinten:
https://www.srf.ch/sendungen/disk…tt-g-moll-op-57