November 2018 - November 1918

  • November 2018 - November 1918

    Schon wieder so ein Thema, das ich keinem Bereich zuordnen kann. Vielleicht sollten wir erstmal abwarten, in welche Richtung der Thread sich entwickelt (wenn er sich denn entwickelt), um dann zu entscheiden, wohin er gehören sollte.

    In diesen Tagen wird nun dem Ende des I. Weltkrieges vor genau 100 Jahren gedacht. Sicherlich ist der 8. Mai 1945 für uns Deutsche das entscheidendere, stärker im Bewusstsein verankerte Datum, aber trotzdem hat dieses Ende in den Köpfen der Zeitgenossen unendlich wichtige Spuren hinterlassen. Auch und zumal bei den Künstlern.

    Manche Entwicklungen bahnten sich schon vor 1914 an oder waren bereits präsent. Ich denke da an den Expressionismus. Aber das Kriegsende, die gescheiterte Revolution, auch die relativ schnell folgende Inflation mit dem Höhepunkt 1923, die Hoffnungslosigkeit, der Zusammenbruch alter Ordnungen usw. hat noch einmal bestehende Richtungen verstärkt oder zu einem Kreativitätsschub geführt.

    Vielleicht können wir hier die unterschiedlichen Auswirkungen auf eben unterschiedliche Kunstformen anhand von exemplarischen Beispielen diskutieren. Wie hat sich das Ende des I.WK auf Musik, Literatur, Malerei, Architektur, Film etc. ausgewirkt? Welche Kunstwerke stehen ganz besonders exemplarisch da? Für welche Richtungen stehen sie jeweils und welche weiteren Entwicklungen lassen sich bei ihnen jeweils schon erkennen?

    :wink: Wolfram

    "Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern." (Samuel Beckett)

    "Rage, rage against the dying of the light" (Dylan Thomas)

  • Für mich ist da der Film recht deutlich: der Expressionismus, wie er z.B. in Das Cabinet des Dr. Caligari (1920) aufgezeigt wird. Diese Verschiebung/Verzerrung der Perspektiven, die sich auch auf die Protagonisten auswirkt. Dieses beklemmende Gefühl der Hilfslosigkeit, einer drohenden Gefahr nicht entgehen zu können. Es folgten einige Filme, die das aufgriffen: Der Golem, wie er in die Welt kam (1920), Nosferatu (1922), Dr. Mabuse, der Spieler (1922) in bestimmten Aspekten auch; Spuren davon lassen sich noch in vielen anderen Filmen finden (Nibelungen, Metropolis, freudlose Gasse u.a.).

    Zur Musik fällt mir zunächst erstmal der Zirkel um Arnold Schönberg ein, die die Neue Wiener Schule begründeten: die Zwölftontechnik mit ihren neuen Ausdrucksmöglichkeiten. Das Aufkommen des Jazz ist ebenso zu nennen; zwar in den USA entstanden, aber gewisse Strömungen wurden in der Weimarer Republik sehr schnell populär.

    "Interpretation ist mein Gemüse." Hudebux

    "Derjenige, der zum ersten Mal anstatt eines Speeres ein Schimpfwort benutzte, war der Begründer der Zivilisation." Jean Paul

    "Manchmal sind drei Punkte auch nur einfach drei Punkte..." jd

  • Ist das in Bezug auf einen bestimmten Kulturkreis gemeint? Bereits 1917 gab es ja noch eine weitere bedeutende Zäsur, nämlich die russische Revolution. Davon ausgehend hat sich in den davon betroffenen Ländern eine gewaltige Änderung in den Künsten ergeben. Durch den 1. Weltkrieg hat es eigentlich kaum nennenswerte Impulse in der Kunstentwicklung gegeben, die nicht schon vorher angelegt worden waren. Viele Komponisten haben ja, sofern sie nicht direkt Opfer des Krieges waren, während des Krieges weiter komponiert. Von einigen ist bekannt dass sie wegen der traumatischen Erlebnisse Blockaden hatten, aber das der Krieg einen radikalen Wandel hervorgerufen hätte kann ich nicht erkennen. Entwicklungen in der Kunst sind ja immer fliessend.

    Peter

    "Sie haben mich gerade beleidigt. Nehmen Sie das eventuell zurück?" "Nein" "Na gut, dann ist der Fall für mich erledigt" (Groucho Marx)

  • aber das der Krieg einen radikalen Wandel hervorgerufen hätte kann ich nicht erkennen. Entwicklungen in der Kunst sind ja immer fliessend.

    Das ist sicherlich richtig, deshalb schrieb ich ja auch, dass sich manche Entwicklungen sich bereits vor 1914 anbahnten. Aber trotzdem denke ich, dass diese vier Jahre plus Revolution plus Abdankung und Ausrufung der Republik plus Versailler Vertrag und all die Folgen danach, diese Entwicklungen wohl noch einmal verstärkt haben.

    Der Film, da gebe ich Josquin Dufay recht, war da vielleicht besonders deutlich, auch weil die Technik seit 1914 vorangeschritten war und man nun noch wieder andere Möglichkeiten besaß. Aber ein Film wie Cagligari wäre wohl trotzdem vor dem Krieg nicht möglich gewesen. Erst die Verzweiflung, die Wut, was auch immer, trieb die Künstler dann zu solch einem 'Experiment.

    Paul Wegener hatte sich ja schon vor und während des Krieges mit der Figur des Golem beschäftigt. Aber nach dem WK trat das Unheimliche, Unerklärliche, Bedrohliche immer stärker in den Vordergrund und spiegelte damit ja auch den Seelenzustand dieser Gesellschaft. Murnaus Faust würde ich in die obige Liste noch mit hinzunehmen.

    Aber wie sieht es z.B. in der Architektur aus? Hans Poelzig Bauten vor 19188 sind oftmals noch relativ konventionell. Aber 1918/19 baut er dann das Große Schauspielhaus in Berlin ganz in expressionistischer Manier um. Und bleibt dann bei dem Stil. Gleiches gilt wohl für Erich Mendelsohn.

    In der Musik ist am auffälligsten sicherlich die Zwölftonmusik. Aber wie sieht es mit anderen Werken aus? Gibt es da welche, die die Ereignisse direkt reflektieren?

    :wink: Wolfram

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  • Spontan fiele mir Vaughan-Williams 3. Symphonie ("Pastoral") ein.

    Stimmt.

    Für die Engländer bedeutete der I.WK ja auch eine Zeit des großen gesellschaftlichen Umbruchs. Trotzdem geht Vaughan Williams hier ja ganz anders mit dem Krieg um, als es vielleicht deutsche Komponisten gemacht hätten oder gemacht haben. (In Ermangelung einer Komposition aus Deutschland, die mir gerade einfällt, schließe im Moment noch von den anderen Künsten auf die Musik.) Große Trauerklage um die Toten, aber gesellschaftliche oder politische Aspekte werden ja doch ziemlich ausgeblendet.

    Nun schreiben sich eine Sinfonie, eine Oper ja auch nicht so schnell, wie ein Film damals gedreht wurde. D.h., man muss wohl auch den Blick auf die folgenden Jahre richten. Und da ist so etwas wie 'Jonny spielt auf' sicherlich auch immer noch eine Reaktion, vielleicht weniger auf den I.WK, als auf die gesellschaftlichen Veränderungen, die dieser mit sich brachte.

    Wie sieht es eigentlich mit Hindemith und seinen drei expressionistischen Einaktern aus?

    :wink: Wolfram

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  • Hindemith war ja auch wirklich an der Front - im Gegensatz zu den drei Wienern. Aber trotzdem ist mir kein spezifisches Werk über den WKI bekannt. Interessanterweise auch nichts von Bartók, der den ersten Weltkrieg ziemlich ignoriert zu haben scheint.

    Im Zweifelsfall immer Haydn.

  • Hindemith war ja auch wirklich an der Front - im Gegensatz zu den drei Wienern. Aber trotzdem ist mir kein spezifisches Werk über den WKI bekannt.

    Spontan fällt mir da auch nichts ein. Nur, dass er eben sich modernerer Formen der Musik in seinen Kompositionen bediente und damit beim klassischen Konzertpublikum durchaus aneckte. Aber das ist ja noch nicht unbedingt eine Verarbeitung des I.WKes.

    :wink: Wolfram

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  • Das würde ich auch als ziemlich unabhängig voneinander sehen. Während des Kriegs schrieb er sein zweites SQ, welches aber noch relativ konservativ ist.

    Im Zweifelsfall immer Haydn.

  • Das würde ich auch als ziemlich unabhängig voneinander sehen. Während des Kriegs schrieb er sein zweites SQ, welches aber noch relativ konservativ ist.

    Op.22 ist da sicherlich schon moderner, aber da nun irgendetwas hineinzudoktern was den Weltkrieg angeht...

    Wenn es nun aber keine direkten Reaktionen deutscher Komponisten, was den WK angeht, gibt, ist das natürlich auch interessant. Weills erste Oper Protagonist oder auch Korngolds Tote Stadt sind ja doch, vielleicht nur vordergründig, eher privater Natur. Von Strauss müssen wir gar nicht reden. Schreker ist da vielleicht eine Ausnahme, aber schon sind wir wieder in Österreich.

    :wink: Wolfram

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  • Da gibt es die Oper "Die Vögel" von Walter Braunfels. Er begann zwar mit der Oper bereits im Jahr 1913 aber dann kam der 1. Weltkrieg, Braunfels wurde als Soldat eingezogen und 1918 verwundet. Die Oper vollendete er dann 1919 und sie wurde 1920 im Nationaltheater in München unter der Leitung von Bruno Walter uraufgeführt.

    Die Oper bezieht sich zwar auf Aristophanes Vorlage aber aufgrund der Erfahrungen im 1. Weltkrieg wich Braunfels von der Vorlage ab indem er es zum Krieg zwischen den Vögeln und den Göttern kommen lässt: Die Menschen stacheln die Vögel zum Krieg gegen die Götter an, die von Zeus für ihre Hybris bestraft werden und zerstört die Vogelstadt. Die überlebenden Vögel huldigen danach in einem frommen Hymnus der göttlichen Macht.

    "Musik ist für mich ein schönes Mosaik, das Gott zusammengestellt hat. Er nimmt alle Stücke in die Hand, wirft sie auf die Welt, und wir müssen das Bild zusammensetzen." (Jean Sibelius)

  • :clap:

    Endlich mal was gefunden. Das ist wirklich eine direkte Reaktion auf den WK, wenn auch lyrisch-verschleiert, um es mal so zu nennen. Aber damit bewegte er sich ja durchaus im 'Mainstream' der Künste, in denen sich ja nicht unbedingt direkte Anklagen (Otto Dix natürlich ausgenommen) finden. Verstanden haben es die Zeitgenossen aber wohl trotzdem.

    So weit ich weiß,, gibt es nur eine Aufnahme auf CD:

    :wink: Wolfram

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  • In der Musik ist am auffälligsten sicherlich die Zwölftonmusik.


    Das würde Arnold Schönberg aber wahrscheinlich anders gesehen haben... Anders als den meisten Leuten, die seine Musik hören, empfand er selbst Zwölftonmusik nicht als immanent grauenerregend (oder, um es im Threadkontext zu formulieren, grauenerregt). Im Gegenteil glaubte er mit Zwölftonmusik alle emotionalen Spektren abbilden zu können, die auch tonale Musik abbilden könne; Zitat: "I have proved in my operas Von heute auf morgen and Moses und Aron that every expression and characterization can be produced with the style of free dissonance.”

  • Anders als den meisten Leuten, die seine Musik hören, empfand er selbst Zwölftonmusik nicht als immanent grauenerregend

    Was sie ja nun auch eindeutig nicht ist. ^^

    Aber vielleicht doch, und so meinte ich es eigentlich, eine Reaktion insofern, dass Schönberg das Wissen und das Bewusstsein dafür besaß, dass nach dem Ende des Weltkrieges nichts mehr so war wie vordem und dass man daher auch für den Ausdruck von Empfindungen eine neue (Ton-)Sprache benötigte.

    :wink: Wolfram

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  • Aber vielleicht doch, und so meinte ich es eigentlich, eine Reaktion insofern, dass Schönberg das Wissen und das Bewusstsein dafür besaß, dass nach dem Ende des Weltkrieges nichts mehr so war wie vordem und dass man daher auch für den Ausdruck von Empfindungen eine neue (Ton-)Sprache benötigte.

    Da kann ich nun nichts gegen sagen... :wink:

  • Zwölftonmusik und 1. Weltkrieg? Gibt es da irgendwelche Ansatzpunkte, oder ist das einfach mal so vermanscht? Funktioniert sicher bei Hauer besonders gut ...
    :neenee1:

    This play can only function if performed strictly as written and in accordance with its stage instructions, nothing added and nothing removed. (Samuel Beckett)
    playing in good Taste doth not confit of frequent Passages, but in expressing with Strength and Delicacy the Intention of the Composer (F. Geminiani)

  • Zwölftonmusik und 1. Weltkrieg? Gibt es da irgendwelche Ansatzpunkte, oder ist das einfach mal so vermanscht?

    Einen direkten kausalen Zusammenhang sicherlich nicht, aber die unsichere Zeit um 1918-1920 hat vielleicht eine bestimmte Stimmung gefördert, die zu neuen "Ufern" führen sollte.

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  • Eher als die weltgeschichtliche Situation hat die unsichere Musik ca. 1900-1918 zur Idee der Notwendigkeit einer Methode, die die Freiheit stärker reguliert, geführt. Es gab hier auch schon mal eine Diskussion, in der jemand darauf hingewiesen hat, dass in den Jahrzehnten vor der Zwölftonmusik bestimmte Akkordfolgen häufig auftreten, die einige Regeln der Zwölftönigkeit nahelegen. Auch die Tatsache, dass mindestens zwei Komponisten unabhängig voneinander auf die Methode kamen, spricht dafür, dass es eine (freilich nicht die einzige) schlüssige Reaktion auf die Musik der Jahrhundertwende und des frühen 20. Jhds. gewesen ist.
    (Ich habe neulich zufällig mit einer Kunsthistorikerin aus meiner Verwandschaft darüber gesprochen, wie erstaunlich es ist, dass in der bildenden Kunst fast alle epochalen "Skandalstücke" dem WK vorausgehen. In der Musik ist es sehr ähnlich.)

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Einen direkten kausalen Zusammenhang sicherlich nicht, aber die unsichere Zeit um 1918-1920 hat vielleicht eine bestimmte Stimmung gefördert, die zu neuen "Ufern" führen sollte.

    Du meinst, die Sehnsucht nach festem Halt, den dann die 12-Ton-Technik bietet?
    Oder das Gegenteil, den Wagemut, ein neues System zu installieren?
    Die "neuen Ufer", äh, "anderen Planeten" waren doch schon 1908.

    Reaktionen auf den Weltkrieg waren doch der Unsinn des Dadaismus und die Sachlichkeit - beides als Absagen auf die Phrasen, die in den Krieg geführt hatten, das bedeutungsschwangere Hyperventilieren der Futur- und Expressionisten, die ja dann gleich begeistert an die Front gehoppelt waren. Sachlichkeit gibt's ja auch in der Musik, wo man bspw. die mechanische und die Gebrauchsmusik für sich entdeckte (Hindemith, Toch, Butting u.a.), beim Dada sieht es etwas mager aus, aber André Souris verkörpert vielleicht so etwas wie einen vollwertigen Dada-Komponisten.


    Auf der anderen Seite die Fortsetzung der Gewaltphantasien auf gegenüberliegenden Seiten: Brecht und Jünger als aufmagazinierte Sachlichkeit, die fröhliche Kriegsmaschine auferstehend aus Schutt und Asche - was gibt's da in der Musik? Brecht-Vertonungen.

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  • von wegen butting und so: die "novembergruppe" passt ja zum threadnamen, hatte mit der novemberrevolution zu tun und umfasste komponisten, die, wie oben angedeutet, sachlichkeit und mechanik schätzten sowie eine brauchbare musik für ein publikum und nicht für die schublade schreiben wollte. natürlich ist sie gescheitert.

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