Was versteht ihr unter "klassischer Musik"?

  • Ich versteh' kein Wort...

    maticus

    Social media is the toilet of the internet. --- Lady Gaga

    Ich lieb‘ den Schlaf, doch mehr noch: Stein zu sein.
    Wenn ringsum nur Schande herrscht und nur Zerstören,
    so heißt mein Glück: nicht sehen und nicht hören.
    Drum leise, Freund, lass mich im Schlaf allein.
                       --- Michelangelo Buonarroti (dt. Nachdicht. J. Morgener)

  • Ein Beispiel für vertrackt eingesetzten Drumcomputer:

    https://youtu.be/IUc0R8bbWQE

    Ich habe schon nicht verstanden, worin du die Komplexität des Trommel-Ostinatos des "Bolero" siehst. Aber auch hier, bei Prince, kann ich nicht nachvollziehen, wie du auf "vertrackt" kommst.

    Aber mal auf deine Ausgangsfrage zurückkommend: Ich merke, dass ich mit dem Begriff "klassische Musik" vor allem in zweierlei aufeinander bezogener Hinsicht umgehe. Zum einen ist es für mich ein Etikett zur Orientierung. Als ich noch CDs im Laden (oder gar LPs) gekauft habe, wusste ich, in welche Abteilung ich gehen musste, um Ligetis "Atmosphères" und Alben von Gould zu finden, und ich wusste, dass ich die Abteilung wechseln musste, um Musik von Prince zu finden (mit stumpf klingender Linn-Machine) - dort allerdings fand ich dann nicht Coltranes "Ascension", sodass ich nach dem nächsten Etikett Ausschau halten musste. "Klassik" ist für mich praktischer Hilfsbegriff, um Musik finden zu können. Gilt natürlich erst recht für entsprechend etikettierte Veranstaltungen.
    Zum anderen schließe ich mich den Ausführungen an, in denen die Linie traditioneller Konzertmusik ursprünglich europäischer Provenienz betont wird. Damit komme ich persönlich ziemlich weit. Ob nun der Begriff "Kunstmusik" oder "Konzertmusik" hier besser passt, da bin ich mir unsicher. Aber ich könnte mir vorstellen, dass es sinnvoll ist, auch die Orte in die Überlegungen einzubeziehen, die für die Wirkungsgeschichte von Musik eine bedeutende Rolle spielen. Die Tradition klassischer Musik lässt sich zurückverfolgen in europäische Kirchenräume sowie größere und kleinere Konzertsäle, Salons u.Ä.
    Spirituals, Blues, Jazz und auch Rock stammen ganz woanders her. Ich meine, dass man auch anhand solcher Überlegungen wesentliche Unterscheidungskriterien findet, die z.T. dann natürlich auch mit klanglich-strukturellen Organisationsformen von Musik korrespondieren.
    Aber das sind alles Aspekte kultureller (intersubjektiver) Abmachung. Es gilt die Terminologie, die sich durchsetzt. Das ist alles nicht für die Ewigkeit festgeschrieben und prinzipiell angreifbar, allerdings hält sich das nicht gänzlich trennscharfe Etikett "Klassik" weiterhin hartnäckig aus z.T. pragmatischen Gründen.
    Wenn "quasi-ideologische" Überlegungen an solche Etiketten geknüpft werden, hört es aber bei mir sehr schnell auf. Richtig ist natürlich, dass die Tradition klassischer Musik, wie ich sie verstehe, zu einem guten Teil elitär geprägt war. Aber das ist für mich ein historischer Aspekt und keiner, der ein überzeitliches Kriterium oder Wesensmerkmal der Musik betreffen - darf. Mit schönen Grüßen ans Nachbarforum.

    ...schreibt Christoph :wink:

  • Wenn nicht - wem nutzt die Diskussion, außer zum Zeitvertreib und zur Selbstklärung? Ich bin sehr unsicher, ob wir eine bessere Definition finden werden. Hier kann m. E. nur der Weg das Ziel sein.

    Da bin ich ganz dabei! Wenn man sich um die Definition des Begriffes "Klassische Musik" Gedanken macht, ist das wirklich Denksport, Zeitvertreib und Selbstklärung. Wenn ich den Thread so verfolge, ist wirklich der Weg das Ziel (ein Ergebnis kaum möglich). Wahnsinnig viel Neues! Wo kann ich etwas darüber lesen, dass Felix M-B der Matthäuspassion Töne hinzugefügt hat? Darüber habe ich noch nie etwas gehört im Gegensatz zum "bekanntlich". Übrigens: Wenn Nicht-Musikfans unseren Thread verfolgen würden - was gäbe es für ein Geschrei: "Die sitzen in ihrem Elfenbeinturm, und kümmern sich nicht um die wirklichen Probleme der Welt wie Hunger, Rente, Wohnungsnot, Straßenausbauträge, Tierschutz usw." So können wir wiederum über die Schützenvereine denken, die die Vielfalt ihrer Waffen dikutieren...

    Nun ja, es gab ja auch welche, die in den Krieg ziehen wollten wie in einen Gottesdienst. Ich würde die Sakralisierung also nicht allzu hoch hängen, um mich nicht mit solchen Gedanken gemein zu machen. Die Versuchung, überirdische Kräfte vor den Karren eigener Vorlieben zu spannen, war zu allen Zeiten groß. Uns ist gesagt, dass wir seinen Namen nicht missbrauchen sollen. Und Musik ist nun einmal Menschenwerk.

    Das könnte man als Abituraufsatzthema auf einem Musikgymnasium geben: "Wo sehen Sie die Parallelen von der Praktizierung Klassischer Musik zur religiös-liturgischen Kultur der Kirchen und Glaubensgemeinschaften?" Da würde es nur so von Ideen so sprudeln. Das allgemein Religiöse (Stichworte Mysterium fascinosum, Numinosum, Pantheismus) ist aber noch "weit, weit weg" vom Theismus, dass der betende Mensch sich von einem biblisch begründeten tranzendenten "Du" angesprochen fühlt. Das mit meiner Nähe zum Sakralen war auch nur ein "Versuch". Übrigens: Jedes Mal, wenn ich auf die Kanzel gehe oder einen geistlichen Artikel schreibe, stehe ich in der Gefahr, "seinen Namen zu missbrauchen". Dann ist nur noch die Frage, wie das "Der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der..". für mich konkret aussieht. Diesen Missbrauch hat schon der berühmte Theologe Karl Barth begangen, als er die Musik von Mozart als die einzig wahre göttliche Musik bezeichnet hat. Für mich ist in Schönbergs "Ein Überlebender aus Warschau" mehr "Mysterium tremendum" spürbar als in der Zauberflöte.
    "Musik ist nun einmal Menschenwerk" korrespondiert mit dem Satz "Die Bibel ist auch bloß Menschenwerk". Oder doch vielleicht an vielen Stellen vom Heiligen Geist inspiriert? Aber bestimmt nicht an allen...

    Aber Dein In-Beziehung-setzen von klassischer Musik und Religion scheint doch eines Deiner Bedürfnisse beim Eröffnen dieses Threads anzudeuten. Worauf willst Du hinaus?

    Wie gesagt: Nur ein Versuch, um sich der Phänomenologie von Klassischer Musik zu nähern. Die nicht klassische Musik von "Dead can dance" lässt mehr quasireligiöse Gefühle zu als die klassische Musik der "Brandenburgischen Konzerte". Auf meinem Avatar bin ich mit Talar und Beffchen zu sehen. Das heißt aber nicht, dass Jesus sagt: "Kommt alle her zu mir, die ihr euch mit klassischer Musik beschäftigt..." Ich fühle mich eher als nächtlicher Wellenreiter auf diesem Thread (den ich nicht eröffnet habe) mit ergebnisoffenem Ende. Mit herzlichem Gruß Wolfgang

    Auf dem Wege durch die Welt wirst auch du stets angebellt. Hör nicht hin, geh ruhig weiter, nimm das Lästern still in Kauf; denn dann hören deine Neider schon von selbst zu Kläffen auf! (Krylow)

  • Ich versteh' kein Wort...

    maticus

    Das bezieht sich wohl auf Bowies Song "Blackstar" vom gleichnamigen letzten Album. Melione hatte den weiter oben verlinkt. Kann man durchaus als eine Art "Vermächtnis" Bowies interpretieren, wenn man will.

    ...schreibt Christoph :wink:

  • Ofentür
    Overtüre

    Zum Glück ein Wortspiel und Scherz! Ich mutmaßte schon, das wäre Musik, die man getrost hinter der Ofentür verfeuern kann!

    Auf dem Wege durch die Welt wirst auch du stets angebellt. Hör nicht hin, geh ruhig weiter, nimm das Lästern still in Kauf; denn dann hören deine Neider schon von selbst zu Kläffen auf! (Krylow)

  • Nee, nee Björk Gudmundsdottir und Damon Albarn bzw auch insbesondere ihre Musik werden doch noch gebraucht. :)

    ... Alle Menschen werden Brüder.
    ... We need 2 come 2gether, come 2gether as one.
    ... Imagine there is no heaven ... above us only sky

  • Nee, Beethovens Neunte mit Pop-Beat eher weniger... dafür aber beispielsweise Aphex Twin und andere Mucke, die man nun wirklich nicht als "leichte Berieselung" verschubladieren kann... http://youtube.com/watch?v=SqayDnQ2wmw

    Oder - noch fordernder - die Elektronikerinnen Antye Greie-Ripatti und Kateryna Zavoloka auf Ihrem Album "Nature never produces the same beat twice" :

    https://www.youtube.com/watch?v=I9imOJa5GmI

    zwischen nichtton und weißem rauschen

  • Ich schließe mich Symbol an, wobei ich einfach "westliche Kunstmusik" sagen und Komponisten wie Tan Dun für zugehörig halten würde. Dass Operette dazugehört und frühes Musical nicht, empfinde ich zwar als willkürlich, aber Grenzen sind immer willkürlich. Dass Gregorianik nicht dazugehört, hat mich überrascht, aber logisch ist es schon, wenn man mit der Etablierung der Mehrstimmigkeit ein wesentliches zur Abgrenzung zu anderen Kulturen signifikantes Merkmal erkennt.

    Zum Elitecharakter: Die Polyphonie des späten Mittelalters war sicher elitärer als Verdi und auf wenige Zentren beschränkt, trotzdem mag es sein, dass immer nur die Minderheit Kunstmusik gehört hat.

    This play can only function if performed strictly as written and in accordance with its stage instructions, nothing added and nothing removed. (Samuel Beckett)
    playing in good Taste doth not confit of frequent Passages, but in expressing with Strength and Delicacy the Intention of the Composer (F. Geminiani)

  • also wenn man etwas definiert, kommt man mMn nicht darum, es irgendwie auch zu "separieren".

    Man kann dazu mal die Etymologie von definieren nachschlagen... ;)

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Für mich ist klassische Musik vor allem an ihre Entstehungszeit und an die Art und Weise ihrer Verbreitung gebunden. Bis zum 19. Jahrhundert war es ausschließlich möglich, ein Werk live vor Ort aufzuführen. Zu diesem Zweck ist es in der Regel auch komponiert worden.
    Doch ab den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts ergaben sich mit dem Rundfunk und der Schallplatte neue Möglichkeiten der Verbreitung. Neu entstandene Werke wurden den modernen Medien angepasst. Doch auch die Musik, die nach wie vor meist auf klassische Art und Weise aufgeführt wurde, konnte sich diesem Wandel nicht entziehen. Das bedeutete das Ende der Ära der klassischen Musik.
    Sicher sind die Grenzen zu anderen Arten der Musik fließend, aber für mich bleibt als Hauptkriterium für die Klassik deren Entstehungszeit.

    Viele Grüße aus Sachsen
    Andrea

  • Klassische Musik hat durchaus viel Schlagwerk, aber es muss dort genauso virtuos und notengetreu gespielt werden wie jedes andere Instrument

    Hm... Ich versuch mir grad vorzustellen, daß der Drummer einer Rockband nicht im Rhythmus bleibt... :D

    viele Grüße

    Bustopher


    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • Ohne den ganzen Thread nun gelesen zu haben...

    Das, was als "klassische" Musik angesehen wird unterscheidet sich von Rock und Jazz ja vor allem dadurch daß es fixierte, in Noten dargelegte Musik ist. Sie kann jahrhundertelang in Archiven vermodern, vergessen werden, aber auch wiederentdeckt und aufgeführt werden.

    Beatles oder Ellington oder wer auch immer: nee, das müssen die Erfinder selber spielen. Also wird diese Musik mit dem Ableben ihrer Schöpfer schneller historisch.

    Mit "Qualität" hat das nix zu tun. Was in drei Generationen noch gehört wird entscheiden unsre Urenkel aber nicht wir.

    Wird Mozart in dreihundert Jahren noch goutiert? Ich vermute ja. Und die Beatles? Möglicherweise ja, dann wären sie "klassisch". Wenn nicht eben nicht. Ist das wichtig? Nein denn ich lebe nur heute.

    "Verzicht heißt nicht, die Dinge dieser Welt aufzugeben, sondern zu akzeptieren, daß sie dahingehen."
    (Shunryu Suzuki)

  • Beatles oder Ellington oder wer auch immer: nee, das müssen die Erfinder selber spielen. Also wird diese Musik mit dem Ableben ihrer Schöpfer schneller historisch.

    dann wären die Standards von Ellington schon eher klassisch?
    die werden sicher noch eine Weile gespielt werden, und so mancher Beatles-Song auch.

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • Das Problem sind doch nicht die genannten Beispiele, das Problem ist der dogmatische Charakter von Aussagen wie "es muss genauso virtuos und notengetreu gespielt werden wie jedes andere Instrument" - diese Aussagen sind in dieser dogmatischen Zuspitzung halt falsch, auch wenn die eigentlich intendierte Grundaussage richtig sein mag.

    Wenn es danach ginge, dass es unschicklich ist, mit Selbstbewusstsein eine These in den Raum zu setzen, dann müsste ich bei jeder Meinungsäußerung so formulieren:
    "Hallo, ich möchte auch etwas sagen, obwohl ich 1. weiß, dass ich viel zu wenig weiß - 2. weiß ich, dass ich vor der Welt der Musik dastehe wie ein Hauptschüler vor Einsteins Relativitätstheorie - 3. sollte man als Anfänger bei Capriccio nicht so weit die Klappe aufreißen - 4. zumal man von Berufs wegen sowieso mit dem Begriff der Dogmatik assoziiert wird - 5. dabei wissend, dass das Phänomen "Klassische Musik" nie ergründet werden kann - möchte ich mal Folgendes zu bedenken geben... ..." Und dann kommt eine vorsichtig formulierte Meinung...
    Kleine Anekdote: Ich war mal als Gast bei einer Trauung, da hat die Pastorin mitten im liturgischen Ablauf gesagt: "Ich denke, dass wir jetzt ein Lied singen sollten. Ich schlage vor, dass wir jetzt EG 317 Lobe den Herren singen..." Was, wenn sich da jemand melden und sagen würde: "Ich bin aber der Meinung, dass wir jetzt eine biblische Lesung hören sollten. Und wenn schon Lied, dann schlage ich doch eher EG BT 638 Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer vor... Lasst uns doch abstimmen!" ??
    Nein, kraft meiner Wassersuppe spreche ich bei einer Trauung in den Raum hinein: "Jetzt singen wir von dem Lied 317 die Strophen 1, 2 und 5."
    Genauso habe ich gesagt "Das Schlagwerk muss genauso virtuos und notengetreu gespielt werden wir jedes anderes Instrument!"
    Wenn bei einer Rockband der Drummer ein paar zusätzliche Schläge und Wirbel einbaut, bekommt er vielleicht Sonderapplaus - wenn aber der Pauker bei Händels Halleluja aus jedem Paukenschlag einen Doppelschlag macht, bekommt er mindestens eine Abmahnung.
    Und wenn ich hier den Thread verfolge, was meine dogmatische These für Reaktionen ausgelöst hat bis hin zur interessanten Besprechung des Beispiels "Bolero" - dann bereue ich nichts. (Bei den Smileys vermisse ich ganz einfach den mit den Augen zwinkernden, bei jedem Smartphone kommt dieser als erstes.)

    Auf dem Wege durch die Welt wirst auch du stets angebellt. Hör nicht hin, geh ruhig weiter, nimm das Lästern still in Kauf; denn dann hören deine Neider schon von selbst zu Kläffen auf! (Krylow)

  • Ist das der Beatniksmiley? Der fehlt mir nämlich auch.

    Stark die Meinung äußern passt schon! Gerade als Forenanfänger! Als ich vor sechs Jahren (nicht hier) begonnen habe, führte ich gleich mal im Namen Bachs einen "heiligen Krieg" gegen Händel. :D

    Dieser Ungestüm lässt dann irgendwann nach. ^^

    Im Zweifelsfall immer Haydn.

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