Gibt es schlechte Musik (/Kunst)?

  • Geschmacksurteile sind subjektiv und stets auf einen Einzelfall bezogen (identisch mit ... sind nicht diskutierbar)

    wenn "diskutierbar" heißen soll, daß man da "Recht haben" und davon andere überzeugen kann, stimme ich Dir zu. Aber beim Austausch von Gründen für Geschmacksurteile findet ja noch ein bißchen mehr statt - zum Glück, sonst wäre dieses Forum ein kompletter Irrtum - : Erweiterung der Sicht-(bzw Hör-)weisen, womöglich Flexibilisierung der Urteilsfähigkeit - simpler ausgedrückt ein durch andere Hörer vermittelter Zugang zu Werken oder Interpretationen, die man vorher nicht verstanden oder einfach nur abgelehnt hat.

    PS aber natürlich auch umgekehrt: daß man darauf hingewiesen wird, einer "schlechten" Interpretation aufgesessen zu sein - nach den Maßstäben und der Kenntnis eines zugegebenermaßen Prof(i)s.

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • Ich fang mal neu an mit ein paar Thesen:

    1. Wenn wir über gute oder schlechte Kunst reden, dann fällen wir zweifellos ein ästhetisches Urteil

    Und doch glaube ich, dass es auch objektive Kriterien für gute oder schlechte Musik gibt, außerhalb unseres subjektiven Empfindens. Wenn ein Klavierspieler "Alle meine Entchen" spielt, den ersten Takt mit dem traditionellen C-Dur hamonisiert, die nächsten "a" (schwimmen auf dem) mit A-Dur, das "g" mit Es-Dur, die Wiederholung der nächsten vier "a" mit H7, das nächste "g" mit g-Moll, dann aber den letzten Abgang wieder im klassischen C-Dur harmonisiert, dann hat er doch schlechte Musik gemacht!? Wenn schon schräg, dann vom ersten bis zum letzten Ton schräg. Das kann durchaus interessant werden.

    Auf dem Wege durch die Welt wirst auch du stets angebellt. Hör nicht hin, geh ruhig weiter, nimm das Lästern still in Kauf; denn dann hören deine Neider schon von selbst zu Kläffen auf! (Krylow)

  • wenn "diskutierbar" heißen soll, daß man da "Recht haben" und davon andere überzeugen kann, stimme ich Dir zu.

    genau so meinte ich es.
    Daß man sich darüber trotzdem austauschen kann, bleibt unbenommen

    viele Grüße

    Bustopher


    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • Und doch glaube ich, dass es auch objektive Kriterien für gute oder schlechte Musik gibt, außerhalb unseres subjektiven Empfindens. Wenn ein Klavierspieler "Alle meine Entchen" spielt, den ersten Takt mit dem traditionellen C-Dur hamonisiert, die nächsten "a" (schwimmen auf dem) mit A-Dur, das "g" mit Es-Dur, die Wiederholung der nächsten vier "a" mit H7, das nächste "g" mit g-Moll, dann aber den letzten Abgang wieder im klassischen C-Dur harmonisiert, dann hat er doch schlechte Musik gemacht!? Wenn schon schräg, dann vom ersten bis zum letzten Ton schräg. Das kann durchaus interessant werden.

    da hast Du implizit ästhetische Werte angenommen, nach denen Dein Urteil dann auch ausfällt, sowas wie "stilistische" Kohärenz" oder so. Wenn man diesen Wert nicht teilt, sondern stattdessen "Unvorhersehbarkeit" wichtiger findet, wäre das Urteil über Deine, mal sagen, etwas gesuchte Harmonisierung ein Anderes.

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  • Vielleicht täusche ich mich ja, aber ich könnte mir vorstellen, daß so schräge Harmonisierungen, wie Du, lieber Capella-Wolfgang, sie bei "Alle meine Entchen" beschreibst, bei Strawinskinski und Hindemith zu finden sind. Gerade Strawinski hat "stilistische Kohärenz" in seiner neoklassiszistischen Phase gern verfremdet (z. B. in seinem Violinkonzert). Ist das deshalb "schlechte Musik"? Meine Meinung: Nein.

    Und daß Geschmacksurteile rein subjektiv, also ohne jeden objektiven Bezug, wären, würde ich eher bezweifeln. Entscheidend sind hier m. E. die Begründungen der Urteilenden.

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Und doch glaube ich, dass es auch objektive Kriterien für gute oder schlechte Musik gibt, außerhalb unseres subjektiven Empfindens. Wenn ein Klavierspieler "Alle meine Entchen" spielt, den ersten Takt mit dem traditionellen C-Dur hamonisiert, die nächsten "a" (schwimmen auf dem) mit A-Dur, das "g" mit Es-Dur, die Wiederholung der nächsten vier "a" mit H7, das nächste "g" mit g-Moll, dann aber den letzten Abgang wieder im klassischen C-Dur harmonisiert, dann hat er doch schlechte Musik gemacht!? Wenn schon schräg, dann vom ersten bis zum letzten Ton schräg. Das kann durchaus interessant werden.

    hat er? OK: strange. Choralharmonisierung geht anders... wie wärs damit: Des-G-C für den Schluß ab dem F? Schräg? Ja. Plus Querstand bei der direkten Auflösung in die Dominante. Böser Satzfehler. Schlecht? Oder etablierte Wendung, vor allem in der Barockmusik.... Neapolitaner als Ersatz der Subdominante und Ankündigung des bevorstehenden Endes...
    Und: Haben nicht alle Grossen der Zunft immer wieder etwas gemacht, was "man" eigentlich im strengen Sinne nicht tut - und sind sie nicht auch gerade deswegen im Zirkel der Großen und nicht im großen Heer der Epigonen? Es hängt doch immer der Weg von Ziel ab und nicht umgekehrt!

    viele Grüße

    Bustopher


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    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • Und daß Geschmacksurteile rein subjektiv, also ohne jeden objektiven Bezug, wären, würde ich eher bezweifeln.

    Teilst Du uns auch den Grund Deiner Zweifel mit?

    viele Grüße

    Bustopher


    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • Teilst Du uns auch den Grund Deiner Zweifel mit?

    Ich versuch's mal. Wenn ich urteile: "Diese Musik gefällt mir nicht", dann ist das eine subjektive Aussage, ich äußere etwas über mich. Im Zusammenhang mit anderen Aussagen, die ich getroffen habe, könnte allein aus der Aussage etwas über meine Kriterien geschlossen werden. Und schon hätte meine subjektive Aussage objektive Aspekte. Wenn ich mein Nichtgefallen am Werk näher begründe, sind wir sofort ebenfalls im Bereich des Objektiven. Zumal wenn wir dann in ein Gespräch miteinander kommen, Kriterien reflektieren usw.

    Übrigens fällt mir kein einziges Beispiel für eine Aussage, in der der Sprecher sich ohne jeglichen Bezug auf Äußeres nur über sich selbst mitteilt. Vielleicht wenigstens "cogito, ergo sum"? Ich vermute, nicht einmal hier... (das begründe ich jetzt nicht ;) )

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

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    Helmut Lachenmann

  • .....könnte allein aus der Aussage etwas über meine Kriterien geschlossen werden. Und schon hätte meine subjektive Aussage objektive Aspekte......

    Sehe ich nicht so. Auch die Kriterin, die Du ins Feld führst, sind die die für Dich wichtig sind. Jemand anderer hält vielleicht andere Punkte für wichtiger, oder legt zwar die selben Maßstäbe an wie Du, kommt aber zu einer anderen Beurteilung. Somit ist und bleibt deine Aussage Ansichtssache. Allerdings könnte man in der Tat durch Diskussion Gemeinsamkeiten herausstellen. Möglicherweise entsteht dann soetwas wie Objektivität bei der Bewertung.
    Wie es schon einmal jemand von uns geschrieben hat: "Viele (ich schiebe mal ein: mit den selben Ansichten) können nicht irren."

    Palisander

  • Auch die Kriterin, die Du ins Feld führst, sind die die für Dich wichtig sind.

    Wie geschrieben: Die Kriterien sollten kritisch reflektiert werden, vgl. die Diskussion oben über "Alle meine Entchen". Dann sind sie nicht mehr nur subjektiv.

    Aber ein subjektives Kriterium dafür, ob ich eine Musik gut oder schlecht finde, möchte ich dann doch noch anführen: Musik muß, damit ich sie gut finden kann, mich in irgendeiner Weise überfordern, mir mehr bieten, als ich eigentlich fassen kann. (Gilt für Philosophie übrigens gleichermaßen.) Musik, die ich zu verstehen glaube, finde ich langweilig und damit schlecht. Musik (bzw. Kunst allgemein) ohne Geheimnis ist belanglos.

    Im Moment bin ich zu müde, um darzulegen, warum das für mich so ist.

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

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    Helmut Lachenmann

  • Hier habe ich zufällig bei Youtube eine Musik gefunden, die mir wirklich "schlechte Musik" zu sein scheint, warum auch immer. https://youtu.be/1Fty23qExQA
    Oder findet sich jemand, der das anders empfindet?

    Wenn du so fragst: Ich sehe das schon anders bzw. differenzierter. Das einzige, was mich hier wirklich stört, ist, dass der Text implizieren könnte, dass in der DDR alles gut war, weil - auch nur angeblich - "Prolet Krauses" (Symbolfigur) Wünsche an den Staat voll erfüllt gewesen sein sollen. Das ist natürlich Quatsch und insgesamt wird man das Gefühl nicht los, dass die Sichtweise auf die deutsche Teilung hier eine krass einseitige ist. Die einen (westlichen) Schieflagen werden (durchaus berechtigt) kritisiert, die anderen (östlichen)- allerdings auch nur im Subtext, soweit ich den langen Text behalten habe - ausgelassen.

    Trotzdem finde ich es recht erstaunlich, wie treffsicher Marxens komplexe Mehrwerttheorie und kapitalistische Gegebenheiten einfach vermittelt werden. Mithilfe eines einfachen Strophenliedes. Man kann sich politisch hierüber sicher streiten und die musikalische Aufbereitung geschmacklich nicht mögen, aber es als "schlechte Musik" pauschal abzutun, finde ich ohne Begründung zu wenig. Woraus schöpfst du dein Werturteil? Etwa nur aus einer vielleicht von dir abgelehnten politischen Richtung?

    Wenn man dagegen die reine Melodie des Horst-Wessel-Liedes hört, den Text nicht kennt und nicht die politischen Zusammenhänge - warum sollte man sie als schlechte Musik bewerten?

    So habe ich das tatsächlich kennengelernt. Das wurde auf dem Klavier gespielt im Verwandtenkreis und ich hatte erst gar keine Ahnung, was das ist. Als dann ein Gesang dazukam, hat es mir allerdings gereicht. Nazitexte dikreditieren nach meinem Dafürhalten leider jede Musik.

    Das Gefühl, etwas sei "schlechte Musik", ist sicher auch mit der Hör-Abnutzung verbunden. "ich bete an die Macht der Liebe", "So nimm denn meine Hände" und "Ich bin durch die Welt gegangen" - diese Lieder wurden Anfang der 50iger Jahre aus den Gesangbüchern geschmissen, in den 90iger Jahren waren sie wieder da und die älteren Gemeindeglieder haben sich gefreut.

    Da ist was dran, wenn die Betonung auf "Gefühl" liegt. Denn rein objektiv liegt hier der Ball bei den Hörenden. Die Menschen schaffen sich leider überall Moden, es wird etwas gehypt, bis man es nicht mehr hören kann. Umso tiefer fällt eine Musik dann in der Gunst. Oft schade. Schlimmer empfinde ich jedoch den Missbrauch des Kirchechorals mit dem Text "Ich bete an die Macht der Liebe" als "Soundtrack" für verschiedenen Arten von Soldatenauflauf und Kriegstreiberei. "Helm ab zum Gebet!" (Gewehr geschultert) und dann Anbetung der Liebe. Gehts noch? Trotzdem würde ich das Stück nie als schlecht bezeichnen, auch wenn es durch diesen fortgesetzten Missbrauch in die Fragwürdigkeit rutscht.

    Eine andere Geschichte ist der Chor "Baal, erhöre uns!" aus dem "Elias". Ich weiß nicht, ob ihn Felix Mendelssohn-Bartholdy zu pseudo-schlechter Musik verfremden wollte (weil es ja die heidnischen Gegner des Elia singen) - ich finde diese Musik so toll, dass man einen anderen Lobpreis-Text unterlegen sollte, damit man das Stück auf jedem Kirchentag schmettern kann.

    Musik, die das Böse oder irgendwelche Gegenpole darstellt, ist in vielen Werken viel faszinierender als die Darstellung des Guten. Das ist mir im Elias auch aufgefallen. Ich bin auch ein absoluter Fan dieses Chores, ebenso des interessanten Isebel - Solos (Wir haben es gehört) Aber hätte er noch seine starke Wirkung in isolierter Form oder gar mit einer anderen Textausrichtung?

    Musik, die verführt, ist in irgendeiner Form für eine Mehrheit der Hörenden berührend, was für mich ein Qualitätsindiz ist. Sie kann ein Motivator und Ansporn sein, aber auch ein Brandbeschleuniger. Der linke Krupp - Krause - Song ist für letzteres sicher nicht geeignet, der kommt viel zu sachlich - spröde daher......

    :wink: :wink:

    Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren (Bert Brecht)

    ACHTUNG, hier spricht Käpt´n Niveau: WIR SINKEN!! :murg: (Postkartenspruch)

  • aber es als "schlechte Musik" pauschal abzutun, finde ich ohne Begründung zu wenig. Woraus schöpfst du dein Werturteil? Etwa nur aus einer vielleicht von dir abgelehnten politischen Richtung?

    Zuerst möchte ich mich bei Ulrica bedanken, dass sie so gründlich auf meinen Beitrag eingegangen ist. Mit der politischen Richtung hat mein Werturteil wenig zu tun - wenn es dafür ein Forum gäbe, würde ich selbst (das von Ernst Busch so eindrücklich interpretierte) Lied schmettern "Und weil der Mensch ein Mensch ist, drum braucht er was zu fressen, bittesehr..." Oder "Er rührte an den Schlaf der Welt" von Hanns Eisler. Das ist richtig gute Musik, wo ich auch am liebsten einen neuen Text unterlegen würde, wenn ich im Besitz der Rechte wäre! Aber wenn ein paar stupide Ton- und Akkordfolgen dafür herhalten müssen, eine endlose Ideologie zu transportieren, dann noch mit quäkender Stimme... Schlecht! Aber was soll's? Das Phänomen gibt es auch auf christlich/kirchlichem Gebiet: EG BT 589 "Ein Schiff, das sich Gemeinde nennt" - da kann man sich auch über die Qualität der Musik streiten. Aber da sind wir schon wieder bei dem späteren Punkt, dass Musik schnell ausgelutscht sein kann. Heute gehypt - morgen ab in die Tonne! "Gottes Liebe ist wie die Sonne"... Wer da neunmalklug sagt: "Die Kirche sollte mehr moderne Lieder ins Gesangbuch aufnehmen...", der weiß nicht, dass es unökonomisch ist, alle 10 Jahre ein neues Gesangbuch herausgeben zu müssen.
    Doch zurück zu meinen gewagten und zugespitzten Versuchen (im Sinne von "Extrem-Denken"), nicht-subjektive Kriterien für gute und schlechte Musik zu finden. Stellen wir uns vor, J.S.Bach hätte das Rezitativ Nr. 2 aus dem Weihnachtsoratorium "Es begab sich aber zu der Zeit" folgendermaßen gestaltet: Er nimmt die ersten vier Takte mit ihrer Melodie und der Harmonisierung h-moll, Fis-Dur, h-moll - wiederholt das unablässig und legt alle weiteren Texte darauf, macht gegebenfalls ein Achtel zu zwei Sechzehnteln oder zwei Achtel zu einer Drei-Sechzehntel-Triole, zwingt den Text in dieses Prokrustesbett bis hin zu der letzten Wiederholung mit dem Text "dass sie gebären sollte". Was wäre das für eine miserable Musik! So aber liegen Welten zwischen diesem hypothetisch gedachten Murks und den "göttlich inspirierten" und mystisch durchwehten Tonfolgen und Harmonien, die uns in der Weihnachtszeit in höhere Sphären emporziehen (obwohl wir jeden Ton schon unzählige Male gehört haben)!

    Auf dem Wege durch die Welt wirst auch du stets angebellt. Hör nicht hin, geh ruhig weiter, nimm das Lästern still in Kauf; denn dann hören deine Neider schon von selbst zu Kläffen auf! (Krylow)

  • Zugegeben: Der Krupp-und-Krause-Song ist musikalisch einfach gestrickt. Aber macht es das a priori zur "schlechten" Musik? Es muß mir nicht gefallen, aber wäre der Song besser, wenn er mehrchörig gesetzt und mit mit doppelten Kontrapunkt wäre? Ich formuliere das bewußt provozierend, um deutlich zu machen, worauf ich hinaus will. Ist es nicht eher anders herum, daß das dann für das, was damit eigentlich beabsichtigt ist, nämlich politische Propaganda zu betreiben in einer leicht fasslichen Form, die jedermann das (auswendige) Mitgrölen ermöglicht (mindestens im Refrain), eine klare Themaverfehlung wäre und die einfache Faktur der Textaussage wesentlich angemessener ist? Mal Hand auf's Herz: Ist vieles im GL/EG besser? Da müssen wir gar nicht auf NGL ausweichen. Mir gefällt da vieles auch nicht, aber es gibt viele, die das gut finden, und damit hat es auch seine Berechtigung! Sinn von Gemeindegesang ist ja nicht hohe Kunst (war es noch nie!) sondern Identitätsstiftung, Anteilnahme am Gottesdienst und Erzeugen einer religiösen, andächtigen, wie auch immer Stimmung. Nehmen wir doch mal das demnächst wieder zu hörende "Stille Nacht" GL249/EG46: Da beschränkt sich sich Grubers Original-Harmonisierung auf T, D und S. Die beiden Stimmen sind in Terzparallelen gesetzt, mit gelegentlichen Wechsel zu parallelen Sexten. Die heute gängige Fassung (einstimmig..!) ist in der Melodie sogar auch noch vereinfacht. Das ist alles andere als hohe Kunst, da ist heute vermutlich jeder Kaufhaus-Jingle auf diese Melodie anspruchsvoller arrangiert. Aber muß es anspruchsvoll sein, um wirksam zu sein? Besteht Kunst nicht gerade darin, wirksam zu sein, und weniger in der Einhaltung bestimmter Formen oder gar in der Anwendung bestimmter Floskeln? Muss Kunst Erwartungen erfüllen? Was unterscheidet in dieser Hinsicht "Stille Nacht" vom Krupp-und-Krause-Song, wenn wir davon absehen, daß das eine halt einfach "schön" ist und zu Herzen geht, und das andere bewußt ruppig? Beides ist einfach.
    (Bitte nicht falsch verstehen: Ich möchte jetzt beides nicht zum großen Kunstwerk stilisieren, beides bleibt selbstverständlich "kleine Form".)

    In seiner Machart folgt der Krupp-und-Krause-Song übrigens durchaus einer langen Tradition von Arbeiter- und Revolutionsliedern: Eingängiger Rhythmus, leicht zu merken, geringer Tonumfang der Melodiestimme mit nicht allzugroßen Intervallsprüngen - Weills Moritat von Meckie Messer ist musikalisch nicht so weit weg davon...

    Die Frage, was denn wäre, wenn Bach irgend etwas anders harmonisiert hätte, als er es harmonisiert hat, mit völlig hypothetischen Aussetzungen, die absichtlich so konstruiert sind, daß es im landläufigen Sinne "nicht gut klingt" (was ja wiederum auch nur eine Frage der Rezeption wäre), halte ich für nicht zielführend. Denn erstens hat er es nicht so gemacht - genaugenommen: Besagtes Rezitativ hat im Autograph nur einen unbezifferten Bass, jede darüber hinausgehende Harmonisierung ist also ohnehin der Continuo-Combo überlassen, die Art einer eventuellen Diminuierung - "macht gegebenfalls ein Achtel zu zwei Sechzehnteln oder zwei Achtel zu einer Drei-Sechzehntel-Triole" - sowieso (die meisten mir bekannten Ausgaben mit nicht originaler Bezifferung diminuieren übrigens Bachs Originalbass, wenn auch nicht sooo feingliedrig). Zweitens: Wenn jemand eine gegebene Melodie mit einem Zufallsgenerator harmonisieren will, wäre das ein komplett neuer Ansatz sui generis und selbstverständlich nicht mit anderen Arten der Harmonisierungen vergleichbar. Aber es wäre legitim. Und Drittens: Sogar wenn Bach es so gemacht hätte, bin ich mir ziemlich sicher, daß es alle Welt für hohe Kunst halten würde. Wir würden es nämlich seit fast 300 Jahren nicht anders kennen und es stünde "Bach" darunter...

    viele Grüße

    Bustopher


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    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • Wie geschrieben: Die Kriterien sollten kritisch reflektiert werden, vgl. die Diskussion oben über "Alle meine Entchen". Dann sind sie nicht mehr nur subjektiv.

    Machen wir das gleich mal an einem Beispiel fest. Nehmen wir irgend ein strittiges Thema, "Vibrato in der alten Musik" z.B. Da hat jeder seine subjektive Meinung darüber. Die einen sagen: "historisch belegt, daß nicht, oder wenigstens nicht permanent, also muß das so gespielt werden", die anderen sagen, "völlig irrelevant für die heutige Aufführung derartiger Musik, weil..." Jetzt können die beiden einen Disput über ihre gegensätzlichen Positionen führen und ihre Argumente austauschen, sie also kritisch reflektieren (aus solchen Debatten besteht ja auch ein Großteil der Diskussionen hier im Forum). Damit wird aber im vorliegenden Fall sicher kein "objektives" Ergebnis zu erreichen sein, im Sinne von richtig und falsch, oder irgend etwas in der Mitte, oder etwas ganz anderes. Die Wichtung der Kriterien bleibt weiterhin subjektiv. Damit hat es auch keine Auswirkungen. Kenntnis des Disputes vorausgesetzt, muß trotzdem jeder Interpret an jeder einschlägigen Stelle eine subjektive Entscheidung darüber fällen, wie er sie interpretieren will, mit oder ohne Vibrato, und der Hörer entscheidet in gleicher Weise subjektiv, ob ihm die gewählte Interpretation zusagt, oder nicht.

    Das Reflektieren subjektiver Kriterien macht sie nicht objektiv. Das macht aber nichts. Die meisten Phänomene dieser Welt sind im wesentlichen unscharf und entziehen sich einer binären Logik.

    viele Grüße

    Bustopher


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    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • Musik muß, damit ich sie gut finden kann, mich in irgendeiner Weise überfordern, mir mehr bieten, als ich eigentlich fassen kann. (Gilt für Philosophie übrigens gleichermaßen.) Musik, die ich zu verstehen glaube, finde ich langweilig und damit schlecht.

    Ja aber würdest Du sagen, dass z.B. Prokofiev´s "Peter und der Wolf" schlechte Musik ist ? Ich habe jetzt mal bewußt ein sehr simples Beispiel genommen.

    Ich habe das Stück schon als Kind geliebt und das hat sich bis heute nicht geändert. Dieses Stück überfordert glaube ich niemanden. Man muß sich nicht daran abarbeiten um es zu verstehen. Aber ich finde nicht dass es schlechte Musik ist. Oder z.B. die vielen sinfonischen Tänze die geschrieben wurden um mal ein weiteres Beispiel eher simpel zu verstehender Musik zu nennen (?)

    Von daher ist das Kriterium "Musik muß mich überfordern, damit ich sie gut finde" ein eher subjektives Kriterium zur Qualitätsbeurteilung, welches keine Allgemeingültigkeit besitzt. So sehe ich es jedenfalls.

    VG

    Palisander

  • Das Reflektieren subjektiver Kriterien macht sie nicht objektiv.

    Genauso sehe ich es auch. Wobei ich aber auch der Meinung bin, wenn eine große Anzahl an Individuen haargenau die selben (Mis-) Empfindungen haben wenn sie sich mit einem Musikstück beschäftigen (und ich sagen bewußt nicht "hören", weil die Interpretation das Stück durchaus zum Nachteil verfälschen kann - siehe meinen Beitrag zur "Unvollendeten") dann denke ich, dass man schon daraus auch auf die Qualität der Komposition schließen kann.

    Klar gibt es bei der Beurteilung auch Ausreißer. Ihr dürftet mich z.B. nicht bitten ein Stück, ich sage mal von Peter Eötvös zu bewerten, da ich von dieser Art Musik keine Ahnung habe. Aber ich denke, im Mittel sollte die Vielzahl von Beurteilungen zutreffend bzw. objekiv sein.

    VG

    Palisander

  • Wenn man Musik komponiert bzw. macht, dann findet das nicht im ahistorischen luftleeren Raum statt, sondern im Kontext von ästhetischen Zusammenhängen und Traditionen.

    Aus diesem Kontext ergeben sich letztlich die Kriterien zur Beurteilung musikalischer Werke. Wenn ich eine Sinfonie für großes Orchester komponiere, begebe ich mich nunmal in eine Tradition von Haydn bis Schostakowitsch, und aus deren Werken (deren Haltbatkeit belegt ist) ergeben sich dann auch Kriterien wie z. B. thematische Prägnanz, Stringenz des Formaufbaus, Spannungsbögen etc.

    Wenn ich hingegen einen Popsong schreibe, dann gelten andere Kriterien, weil mein ästhetischer Kontext nun nicht mehr Haydn oder Mozart heißt, sondern (je nach Stilrichtung meines Songs) ggf. McCartney, Jagger, Bowie oder Johnny Marr.

    Das heißt nicht, dass die Kriterien sich im bloßen Abgleich mit namhaften Vorbildern erschöpfen, sondern sie ergeben sich gewissermaßen aus meinem Werk selbst und dem ästhetischen Bezugssystem, welches ich mit seiner Faktur ansteuere.

    Natürlich ist das nicht einfache Binärlogik, sondern eine recht komplexe Angelegenheit - es ist aber eben auch nicht einfach nur subjektiv. Sonst müsste man ja jeden Mist als große Musik annehmen, wenn man denn nur irgendwen finden kann, dem es gefällt.

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Ja aber würdest Du sagen, dass z.B. Prokofiev´s "Peter und der Wolf" schlechte Musik ist ?

    Keineswegs, ganz im Gegenteil! Peter und der Wolf ist genial! Das mit dem "Überfordern" muß ich vielleicht noch erklären.

    Aber da muß ich erst noch überlegen, bin gerade nur beim Kurz-Hineinschauen hier.

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • sag' ich doch: man kann's immer nur im jeweiligen Kontext bewerten. Und dieser Kontext ist keine Konstante. Deswegen läßt sich auch eine Sinfonie von Haydn schlecht mit einer von Schosta vergleichen.

    (bezieht sich auf den vorletzten post. Gurnemanz ist mir dazwischengekommen...)

    viele Grüße

    Bustopher


    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

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