Gibt es schlechte Musik (/Kunst)?

  • Qualität (im Sinne von Güte) lässt sich immer messen, auch bei der Kunst. Voraussetzung ist, wie in allen Gebieten, dass entsprechende Kriterien formuliert werden. Sobald man diese hat, muss man nur noch die Evaluierung durchführen.

    Die Frage muss also lauten: Was sind sinnvolle Kriterien zur Bewertung von Kunst?

    Mein Vorschlag: Die "Wirkmächtigkeit", und sonst gar nichts.

    Begründung:
    Kunst wird als "kreativer Prozess" definiert. Und der Künstler möchte damit irgendetwas bewirken. Eine Aussage machen, ein Statement abgeben, einen Sachverhalt deuten, Emotionen erzeugen, und so weiter. Jedenfalls irgendwie die Welt verändern. Also liegt es doch nahe, das Werk daran zu messen, wie "stark" sein Einfluss auf das Weltgeschehen ist.

    Ich habe das jetzt mal durchgespielt mit Picasso, Michelangelo, Bushido, Mozart, Dieter Bohlen und den Beatles. Es passt immer. Man muss nur auf geeignete Art Besucherzahlen, Plattenverkäufe, Ausstellungen, Sekundärliteratur, Einfluss auf nachfolgende Künstlergenerationen, etc. gewichten.

    Zeitgenössische Künstler haben es da etwas schwerer, aber man kann ja vorläufige Bewertungen abgeben, indem man ein bisschen auf die Zukunft spekuliert.

    Z.B. hat es evtl. mal ein Jahr gegeben, in dem Bohlen mehr Platten verkauft hat als Mozart. Aber das war maximal ein Jahr, und es war nur in Deutschland, und es waren nur Platten und Konzerte. Langfristig tendiert Bohlens Relevanz gegen null. Oder: Shakira verkauft Platten in Südamerika und in Europa. Helene Fischer fast nur in Deutschland.

    Schwieriger wird es mit Bushido vs. Alma Deutscher. Das Problem ist, die heutigen Künstler der "Hochkultur" leben in ihrer eigenen Welt, in einer Art Filterblase. Hat Alma Deutscher jemals was "aufs Maul" bekommen? Leute sterben sehen? Mobbing erlebt? Mozart vermutlich ja, Bushido auch. Alma Deutscher ist komplett abgeschirmt von solchen Dingen. Wie will sie da die Leute erreichen? Über ihren eigenen Tod hinaus, meine ich. Ok, letzteres wird Bushido auch nicht gelingen. Aber man sieht, wie hoch die Latte hängt. Mein Problem mit den zeitgenössischen Musikern ist, dass sie sich von der Lebensrealität normaler Menschen abgekoppelt haben. Im Gegensatz übrigens zu Schriftstellern und Malern. Das liegt sicher auch an den unterschiedlichen Medien bzw. Disziplinen. Aber früher ging's doch auch. Oder fehlt mir einfach die Fantasie hinsichtlich der Komponistennamen, die in einem imaginären Musiklexikon des Jahres 2518 besonders viele Zeilen bekommen würden? Bzw. die 2518 noch aufgeführt werden?


    Thomas

  • Hm. Wer hat sich gegen was gewehrt und wann?

    Ja klar ! Gustav Mahler z.B. hatte zu Lebzeiten offenbar ein recht Schwieriges Verhältnis zum Publikum wie man verschiedenen Quellen entnehmen kann (als Komponist wohlbemerkt, nicht als Dirigent). Die Leute haben das Neue in seinen Sinfonien schlichtweg abgelehnt weil sie es nicht verstanden haben. Heute wird wohl niemand mehr abstreiten, dass das große Musik ist. Aber wann hat dieser Sinneswandel eingesetzt und wieso - zunehmende Erfahrung der Hörer aufgrund intensiver Auseinandersetzung ?

    VG

    Palisander

  • Jaja. ... je genauer man hinschaut, desto mehr stellt man fest: Es gibt weder Stile noch Entwicklungslinien, sondern nur individuelle Komponisten und individuelle Kompositionen ... das ist jetzt überspitzt, aber die Verschubladisierung ist weniger als eine Krücke. Aber vielleicht braucht man die Krücke, um irgendwann auf sie verzichten zu können - oder zu wollen.

    Irgendwie bekomme ich das jetzt nicht gut formuliert, aber was soll denn tatsächlich die Gemeinsamkeit von Bach und Händel sein, außer stark überlappender Lebensdaten? ?(

    Gruß
    MB

    :wink:

    ... oder zu wollen :fee:

    ... Alle Menschen werden Brüder.
    ... We need 2 come 2gether, come 2gether as one.
    ... Imagine there is no heaven ... above us only sky

  • Qualität (im Sinne von Güte) lässt sich immer messen, auch bei der Kunst. Voraussetzung ist, wie in allen Gebieten, dass entsprechende Kriterien formuliert werden. Sobald man diese hat, muss man nur noch die Evaluierung durchführen.

    In was wird Deiner Meinung nach Kunst "gemessen"? In Zentimetern, Dezibel oder Grad Celsius ? Diese Aussage finde ich doch sehr gewagt.

    Das schreibst Du dazu :


    Die Frage muss also lauten: Was sind sinnvolle Kriterien zur Bewertung von Kunst?

    Mein Vorschlag: Die "Wirkmächtigkeit", und sonst gar nichts.

    Begründung:
    Kunst wird als "kreativer Prozess" definiert. Und der Künstler möchte damit irgendetwas bewirken. Eine Aussage machen, ein Statement abgeben, einen Sachverhalt deuten, Emotionen erzeugen, und so weiter. Jedenfalls irgendwie die Welt verändern. Also liegt es doch nahe, das Werk daran zu messen, wie "stark" sein Einfluss auf das Weltgeschehen ist.

    Welches Weltgeschehen mag dann bei Mozarts "Prager Sinfonie" passiert sein? Laut Wikipedia ist der Anlass, warum sie geschrieben worden ist unklar.

    Du schreibst auch, der Künstler möchte "irgend etwas" bewirken. Sorry, aber das möchte jeder Künstler, selbst die Pop-Gruppe "Trio" hatte in den 1980-er Jahren was mit ihrem Hit "Da,da,da" "bewirken" wollen, und es nur ein volles Bank-Konto ist.


    Ich habe das jetzt mal durchgespielt mit Picasso, Michelangelo, Bushido, Mozart, Dieter Bohlen und den Beatles. Es passt immer. Man muss nur auf geeignete Art Besucherzahlen, Plattenverkäufe, Ausstellungen, Sekundärliteratur, Einfluss auf nachfolgende Künstlergenerationen, etc. gewichten.

    Da bin ich jetzt besonders böse : Nach diesem Absatz kann man also ALLES als "Nachhaltige Kunst" bezeichnen, denn wenn die vermeintliche "Qualität" nicht stimmt, stimmt aber das Bank-Konto, wenn das nicht zutrifft, wird das Bild (um mal ein Beispiel zu geben) eben in eine Ausstellung gepackt, dort stimmen dann vielleicht die Besucherzahlen auch noch. Wir haben es also bei dem Bild mit einem "erstklassigen Kunstwerk" zu tun, fabelhaft.


    Schwieriger wird es mit Bushido vs. Alma Deutscher. Das Problem ist, die heutigen Künstler der "Hochkultur" leben in ihrer eigenen Welt, in einer Art Filterblase. Hat Alma Deutscher jemals was "aufs Maul" bekommen? Leute sterben sehen? Mobbing erlebt? Mozart vermutlich ja, Bushido auch. Alma Deutscher ist komplett abgeschirmt von solchen Dingen. Wie will sie da die Leute erreichen?

    Das spielt doch nach Deinen Kriterien nun keine Rolle mehr. Bei Bushido stimmt der Verkauf der CDs, das Konto ist gut gefüllt, "Nachhaltigkeit" ist durch die neuen Medien wie Youtube gewährleistet.

    Ich musste erst mal schauen, wer überhaupt Alma Deutscher ist. Den Namen habe ich noch nie gehört. Also ein "Wunderkind", quasi ein Mozart der Neuzeit. Da sie gerade mal 13 Jahre jung ist, kann man hier noch keine wirklichen Prognosen abgeben. Da kann noch viel passieren. Nicht alle "Wunderkinder" wurden berühmt.

    Entschuldige bitte meine Spitzfindigkeiten. Ich möchte Dich damit NICHT provozieren, sondern aufzeigen, wie komplex das Thema in Grunde ist. Jeder hat eine andere Sichtweise, und keine davon muss wirklich falsch sein.

    Viele Grüße sendet Maurice

    Musik bedeutet, jemandem seine Geschichte zu erzählen und ist etwas ganz Persönliches. Daher ist es auch so schwierig, sie zu reproduzieren. Niemand kann ihr am Ende näher stehen als derjenige, der/die sie komponiert hat. Alle, die nach dem Komponisten kommen, können sie nur noch in verfälschter Form darbieten, denn sie erzählen am Ende wiederum ihre eigene Geschichte der Geschichte. (ist von mir)

  • Was ich damit meine ist, als die Romantik aufkam hat man sich auch erst einmal dagegen gewehrt.

    Hm. Wer hat sich gegen was gewehrt und wann?

    Ja klar ! Gustav Mahler z.B. hatte zu Lebzeiten offenbar ein recht Schwieriges Verhältnis zum Publikum wie man verschiedenen Quellen entnehmen kann (als Komponist wohlbemerkt, nicht als Dirigent). Die Leute haben das Neue in seinen Sinfonien schlichtweg abgelehnt weil sie es nicht verstanden haben.

    meines Wissens sind, als Mahler seine Symphonien schrieb, seit den ersten romantischen Werken in der Musik mindestens 80 Jahre vergangen... und was man Mahler angekreidet hat, war NICHT das Romantische an ihnen, sondern die Verwendung als banal empfundener Elemente der Volksmusik in der Symphonie. Man könnte das natürlich als radikalisierte Einlösung der "Volkston"-Ideen der Romantik begreifen.

    Aber Mahler als Beispiel für eine angebliche Ablehnung der Romantik zu Zeiten ihres Aufkommens ist schon arg über den Daumen historisiert.

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • Irgendwie bekomme ich das jetzt nicht gut formuliert, aber was soll denn tatsächlich die Gemeinsamkeit von Bach und Händel sein, außer stark überlappender Lebensdaten?

    schwer.... okay, Beide sind in marxistischen Konzertführern aus dem Barock heraus- und in eine "humanistisch" definierte Klassik hineinerklärt worden...
    Spass beiseite: der Generalbass? okay, den haben Hunderte andere zu der Zeit auch...

    Ich würde sagen, Bach fällt eher aus seiner Zeit, weil er komplexitätsmäßig immer noch einen drauf gesetzt hat.

    Aber wenn man von sehr weitem schaut, findet man schon gemeinsames: (was natürlich Telemann und andere auch betrifft) die barocken Formen, also Suiten aus Tanzsätzen, Solokonzerte (meist italienisch beinflusst), dann natürlich bestimmte Instrumente, also keine Klarinetten - was schon einen bestimmten "Barock"-Sound ausmacht.... Okay, das sind so spielerische Versuche - die Unterschiede deutlich zu machen, wäre vermutlich erhellender.

    Aber wenn ich meinen Nachbarn anschaue, dann meine ich, dass ich ganz schön verschieden von ihm bin

    das kenne ich.

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht


  • legst Du Wert auf das Copyright für diesen Satz?


    Was ist an dem Satz so besonders?

    Spinnen wir das Thema lieber mal weiter:

    Mozart: Symphonie Nr. 8 D-Dur KV 48, geschrieben 1768
    Bohlen: Cheri Cheri Lady (Modern Talking), geschrieben 1985

    Beides war seinerzeit Mainstream. Gut gemacht, auf der Höhe der Zeit, aber der Erfolg war räumlich und zeitlich begrenzt.

    Mozart schrieb das im Alter von 11 Jahren. Bohlen im Alter von 31. Bei Bohlen war das sein künstlerischer Höhepunkt. Bei Mozart kam danach noch das eine oder andere. Zu Mozarts Zeit gab es auch 31jährige, die Ähnliches komponierten. Man kennt sie heute nicht mehr. Das ist der Unterschied.


    Thomas


  • In was wird Deiner Meinung nach Kunst "gemessen"? In Zentimetern, Dezibel oder Grad Celsius ? Diese Aussage finde ich doch sehr gewagt.

    Das schreibst Du dazu :



    Welches Weltgeschehen mag dann bei Mozarts "Prager Sinfonie" passiert sein? Laut Wikipedia ist der Anlass, warum sie geschrieben worden ist unklar.

    Du schreibst auch, der Künstler möchte "irgend etwas" bewirken. Sorry, aber das möchte jeder Künstler, selbst die Pop-Gruppe "Trio" hatte in den 1980-er Jahren was mit ihrem Hit "Da,da,da" "bewirken" wollen, und es nur ein volles Bank-Konto ist.


    Geh doch einfach mal auf meine Gedanken ein. Als ob Trio nur das Bankkonto füllen wollten. Zumal Mozart das auch wollte, das ist kein Kriterium. Trio hatten eine Idee, und die war ziemlich neu. Trio gehörten zu den wichtigsten Protagonisten der "Neuen Deutsche Welle". Sie stehen künstlerisch z.B. über Dieter Bohlen. Bohlen entwickelte keinen neuen Stil. Er ergänzte nur einen existierenden Stil um eine neue Facette.

    Dass Trio dennoch limitiert waren, zeigt sich daran, dass die "Neue Deutsche Welle" nicht so langlebig war wie z.B. die Sonatenhauptsatzform. Und dass sie mit anderen Stilen nichts Nennenswertes erreichten. Picasso hat sich in sehr vielen Stilen versucht. Es waren immer die modernsten Stile ihrer Zeit, und Picasso war immer mit an der Spitze. Und das über mehrere Jahrzehnte. So etwas hätte ich gern mal in der Musik von einem nach 1945 geborenen Künstler.

    Nach was kann man Kunst messen? Indem man eben irgendwelche Punkte vergibt, gewichtet nach den bereits genannten Kriterien.

    Natürlich kann man sich endlos über die Gewichtung streiten. Ist räumliche Verbreitung (über Kontinente) wichtiger als zeitliche (über möglichst viele Jahre)? Ist Einfluss auf spätere Generationen wichtiger als Anzahl der verkauften Platten?

    Du wendest solche Kriterien unweigerlich auch auf deine Jazz-Künstler an. Warum schreibst du über den einen 20 Seiten, über den anderen aber nur 5?


    Thomas

  • na ja, die Sachen, die Mozart mit 31 statt mit 11 geschrieben hat, sagen mir noch etwas mehr.
    Wenn Du schon "Höhepunkte" vergleichen willst.

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • Nach was kann man Kunst messen? Indem man eben irgendwelche Punkte vergibt, gewichtet nach den bereits genannten Kriterien.

    Du wendest solche Kriterien unweigerlich auch auf deine Jazz-Künstler an. Warum schreibst du über den einen 20 Seiten, über den anderen aber nur 5?

    Okay, ich sehe es schon. Es gibt halt immer wieder hoffnungslose Fälle. Damit lasse ich es sein, hier im Thread noch was zu schreiben. Es war mal eine recht anregende Diskussion. Ich betone: Es WAHR .....

    Viele Grüße sendet Maurice

    Musik bedeutet, jemandem seine Geschichte zu erzählen und ist etwas ganz Persönliches. Daher ist es auch so schwierig, sie zu reproduzieren. Niemand kann ihr am Ende näher stehen als derjenige, der/die sie komponiert hat. Alle, die nach dem Komponisten kommen, können sie nur noch in verfälschter Form darbieten, denn sie erzählen am Ende wiederum ihre eigene Geschichte der Geschichte. (ist von mir)

  • na ja, die Sachen, die Mozart mit 31 statt mit 11 geschrieben hat, sagen mir noch etwas mehr.
    Wenn Du schon "Höhepunkte" vergleichen willst.


    Ich vergleiche nicht Höhepunkte, ich vergleiche Musikerkarrieren. Bohlen hätte sich ja auch weiterentwickeln können. Unternehmerisch entwickelte er sich weiter, künstlerisch nicht.

    Haydn war mit 31 weniger bekannt als Bohlen. Künstlerisch zwar weiter (ca. 15 von insgesamt 107 Sinfonien geschrieben), aber wenn er sich nicht weiterentwickelt hätte, würde heute kein Hahn mehr nach ihm krähen.

    Auf Alma Deutscher bin ich echt mal gespannt. Ich hab 2 CDs von Bushido, 3 von Shakira, 4 von Haftbefehl. Von Shakira kann noch was kommen, von Haftbefehl wird nichts mehr kommen. Bei Alma Deutscher ist alles möglich, von 0 bis xxx.

    Und da sind wir wieder beim Kriterium "Wirkmächtigkeit". Bei der Deutscher hab ich jetzt echt nicht den Nerv, die einzelnen Werke zu begutachten. Wenn sie wirklich mal so gut sein wird, dann werden ihre Werke in allen möglichen Medien besprochen (unabhängig von ihrer Person), und sie erscheinen regelmäßig in den Konzertprogrammen. Ich kann mich also getrost auf die bereits existierende "Qualitätsmessung" verlassen.

    So bin ich übrigens auf Pink Floyd gekommen. Ich war ca. 15 Jahre alt und konnte schlecht Ahnung von der Popmusik der letzten 15 Jahre haben. Also einfach die damalige LP-Hitparade gecheckt. Und da waren (im Jahr 1980!) Platten von 1973 (The Dark Side of the Moon) und 1975 (Wish You Were Here). In diesen Listen steckt schon ein bisschen Wahrheit drin...


    Thomas

  • Okay, ich sehe es schon. Es gibt halt immer wieder hoffnungslose Fälle. Damit lasse ich es sein, hier im Thread noch was zu schreiben. Es war mal eine recht anregende Diskussion. Ich betone: Es WAHR .....

    Nachdem ich jetzt noch den Beitrag eine Nummer weiter oben gelesen habe: :S :thumbdown:

    Schade !!!

    He who can, does. He who cannot, teaches. He who cannot teach, teaches teaching.

  • Ja klar ! Gustav Mahler z.B. hatte zu Lebzeiten offenbar ein recht Schwieriges Verhältnis zum Publikum wie man verschiedenen Quellen entnehmen kann (als Komponist wohlbemerkt, nicht als Dirigent). Die Leute haben das Neue in seinen Sinfonien schlichtweg abgelehnt weil sie es nicht verstanden haben. Heute wird wohl niemand mehr abstreiten, dass das große Musik ist. Aber wann hat dieser Sinneswandel eingesetzt und wieso - zunehmende Erfahrung der Hörer aufgrund intensiver Auseinandersetzung ?
    VG

    Palisander

    Nun, die Ablehnung des Neuen, Unbekannten steckt vielleicht tief in uns. Es kann Unbehagen verursachen, mit Neuem konfrontiert zu werden.

    Weniger allgemein: Neuartige Kompositionen wurden wohl zu vielen Zeiten abgelehnt. Monteverdi wurde angefeindet, Bach wurden harmonische Verwirrungen vorgeworfen, Beethoven konfuses Komponieren usw.

    Teilweise vielleicht einfach ein Generationenthema, teilweise eine "bewahrende" Grundeinstellung, manchmal vielleicht auch Konkurrenzdenken.

    Haydn hatte die Größe, Mozarts Quartette zu bewundern. Schumann anerkannte den jungen Brahms. Mahler setzte sich für Schönberg ein. Es gibt also auch den anderen Weg. Pauschalisierungen helfen vielleicht nicht weiter.

    Gruß
    MB

    :wink:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • [Es geht eigentlich] erst einmal darum, dass eine sinnvolle (und keineswegs exotische) Unterscheidung zu treffen ist zwischen "gut für mich" (Medizin, gesunde Ernährung) und "fühlt sich gut an" (Heroin, Süßigkeiten). Das ist erst einmal unabhängig vom Problem, was denn wirklich gut für mich ist, wie ich das erkenne oder welcher Experte mich darüber aufklären kann. Mag ja sein, dass das manchmal kaum zu beantworten ist. Aber Schwierigkeiten bei der Beantwortung dieser Frage im Einzelfall heben diese Unterscheidung nicht auf. Und wie gesagt, wir treffen diese Unterscheidung ständig und in zahlreichen Fällen wie Drogenmißbrauch oder bestimmten Ernährungsgewohnheiten halten wir die Sachlage für ziemlich klar. Insbesondere ist uns klar, dass der Drogenabhängige oder der 250kg-Mann eben nicht weiß, was gut für ihn ist oder wenn er es weiß, nicht danach handelt.

    Aus einem ähnlichen Grund, warum ein Apfel gesünder ist als Nutella. Nur eben für die Seele. Und natürlich kann ich das nicht so einfach empirisch begründen wie ein Ernährungswissenschaftler. Und natürlich kann man auch Beethoven "mißbrauchen". Es ist zwar immer noch besser, den ganzen Tag auf der Couch zu liegen und Beethoven zu hören als Helene Fischer zu hören, aber es ist vermutlich nicht besonders gut (weder physisch noch psychisch) für jemanden (der sonst gesund ist), den ganzen Tag auf der Couch zu liegen und Musik zu hören.
    Oder konkreter: Die meisten Menschen haben so etwas wie einen ästhetischen Sinn, den man trainieren oder verkümmern lassen kann. Genauso wie jemand, der hauptsächlich fast food isst, seinen Geschmackssinn tendenziell verkümmern lässt, so lässt der Schlagerkonsument seinen ästhetischen Sinn verkümmern. Er entwickelt also einen wertvollen und lohnenden Aspekt seines Daseins nicht. Das ist nicht unbedingt verwerflich (wie z.B. jemand wäre, der sich durch fortgesetzte Tierquälerei zum Sadisten ausbildet), aber mindestens bedauerlich.
    Nun kann man nicht alle seine Potentiale entfalten, allein aus Zeitgründen, aber auch, weil nicht alle ähnliche Neigungen und Begabungen haben. Ein Schlagerhörer ist ein ästhetischer Couch-Potato. Genauso wie der eine sein Potential für Sport, Bewegung usw. verkümmern lässt, vernachlässigt der andere seinen ästhetischen Sinn (bzgl. Musik).

    Das ist bisher der Beitrag, der mir am meisten zu denken gibt; die Definition von guter/schlechter Musik sozusagen als nahrhafter/ungesunder Musik. Wie du schreibst - das mag zwar im Einzelfall schwer zu bestimmen sein (und sowieso von Individuum zu Individuum unterschiedlich - Winston Churchill hat ja auch Tausende Zigarren geraucht und ist alt geworden, waren die Zigarren also "schlecht" für ihn?), deswegen aber vielleicht noch nicht generell von der Hand zu weisen. Was Apfel und Döner dem Körper, sind Beethoven und Helene Fischer dem Geist...?

    Darüber muss ich auf jeden Fall noch eingehender nachdenken.

    Die Frage muss also lauten: Was sind sinnvolle Kriterien zur Bewertung von Kunst?

    Mein Vorschlag: Die "Wirkmächtigkeit", und sonst gar nichts.

    Damit sind wir doch aber von meinem Eingangsposting noch keinen Schritt weiter gekommen, oder? Mir stellte sich da jedenfalls nach wie vor die Frage, auf WEN die Musik positiv wirken muss, um als "gut" beschrieben werden zu können. Auf den individuellen Hörer? Auf eine Generation? Auf die Menschheitsgeschichte? :wink:

  • Was Apfel und Döner dem Körper, sind Beethoven und Helene Fischer dem Geist...?

    ja ja, die geistige Diätetik...
    interessant wirds, wenn sich die positive oder negative Wirkung auf die

    Menschheitsgeschichte

    garnicht mit ästhetischen Kategorien deckt.
    Ich sage nur (mal wieder): Wagner.
    Hat vermutlich auf die bildungsaffine Schicht seiner Zeit (und der nachfolgenden Genrationen) fataler gewirkt, als es die Helene Fischers aller Epochen je konnten. Aber trotzdem nach dem Urteil selbst der größten Gegner keine "schlechte Musik", ganz im Gegenteil - es gibt also zwischen "gut für den Geist und für die, nun ja, Menschheitsgeschichte" und "im musikalischen Sinne gut" keine so eindeutige Korrelation.

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • meine These: hilft bei Rondo V. auch nicht wirklich.

    Ich habe mich getraut.

    Als Hintergrundsgeräusch ist das Gedudel durchaus ein paar Minuten auszuhalten. Länger nicht oder nur sehr schwer. Die CD kann also ganz nützlich sein, etwa um unwillkommene Besucher zu einem frühen Abschied zu bringen.

    Angeblich wurde Ravels "Bolero" mitunter als Berieselungs-Foltermittel benützt. Den halte ich aber stundenlang aus. Rondo V. wäre hingegen das Mittel meiner Wahl, wäre ich der zuständige Torturgehilfe. :schwitz1:

    ______________________

    Homo sum, ergo inscius.

  • Mir ist natürlich klar, dass die Analogie zur Gesundheit überspitzt ist. Ich bringe die hauptsächlich, weil das eben ein Gebiet ist, auf dem wir ein relativ gutes Verständnis vom Unterschied zwischen "fühlt sich gut an" und "ist gut für mich" haben. Das reicht m.E. zur Widerlegung der Idee, dass etwas gut und wertvoll ist, sofern es irgendjemandem Spaß macht. (Sadismus ist ein zu plattes Gegenbeispiel; die Ernährung ist ja deswegen interessanter, weil Nutella durchaus nährstoffreich ist, kein Gift. Es kommt auf die Dosis und Balance an.)

    Die unproblematische Grundbedeutung von "gut" ist wohl instrumentell: "gut für ein bestimmtes Ziel", wie etwa den funktionalen Bestzustand des Körpers. Sobald man davon zu weit abstrahiert, wird es schwierig. Das ist bei der Musik genauso. "gut zum Paartanz", "gut zum Reigentanz", "gut zum Marschieren" u.ä. funktionale Einordnungen von Musik sind relativ unproblematisch und nicht so schwer bzg. ihrer Zweckerfüllung zu bewerten. Das Problem ist natürlich, dass sich Kunstmusik diesen Zwecken weitgehend entzogen hat. Und dass wir, wenn wir auf den eigentlich ästhetischen, "interesselosen" Rezeptionsmodus "schalten", jegliche Musik frei von diesen Zwecken betrachten können. Damit entfallen alle von Zwecken abgeleiteten Bewertungsmaßstäbe.

    Mein Vorschlag wäre, dass der Quasi-Zweck von Kunstmusik ist, besonders gut für die zweckfreie, interesselose ästhetische Kontemplation geeignet zu sein.
    (Und das geht nicht immer, aber oft besonders gut, wenn sich Musik den naheliegenderen Funktionen (wie Tanzbarkeit) möglichst weit entzieht.)

    Das ist dann wiederum doch gut für etwas, nämlich gut für die "Seele" (ich verbinde damit keine spezielle Theorie, jeder möge die für ihn passende spirituelle, psychologische, materialistische einsetzen), weil dieser ästhetische Sinn von Musik, die sich nur darauf richtet, statt auf äußere Zwecke, besonders gut angesprochen wird. Wieder eine Analogie aus der antiken Philosophie: Das Spezifikum des Menschen ist die Rationalität, deswegen ist der eigentliche und höchste Zweck der Seele die Kontemplation unveränderlicher rationaler Strukturen, also Mathematik, Ontologie, Theologie usw.

    Die erst einmal "materialistische" Kritik Adornos u.a. an der Kulturindustrie geht von anderen Voraussetzungen in eine ganz ähnliche Richtung: Die Kulturindustrie macht etwas sehr ähnliches wie der Konditor und der Sophist im "Gorgias": Sie verführen die Leute mittels einer täuschenden "Scheinkunst". Das ist mindestens zweifach schädlich: Erstens entgeht den Menschen so das Gut der authentischen Kunst (bzw. Gesundheit und Wahrheit) und zweitens verdirbt es ihren Sinn für das Schöne (das gesunde Essen/die Wahrheit).
    Den ethischen Aspekt im engeren Sinne kann man dabei erstmal ausklammern (auch wenn natürlich sowohl Platon als auch Adorno da Zusammenhänge sehen). Jemand kann ethisch der beste Mensch sein, wenn er sich von Fast food ernährt, schadet er dennoch seinem Geschmacksinn, und mit Schlagern schadet er seinem ästhetischen Sinn.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

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