Gibt es schlechte Musik (/Kunst)?

  • Ach, es sind doch fast alle ehemals relativ Großen heute "vergessen", einfach, weil nur ganz wenige gepflegt werden. Vom NS Unterdrückte haben heute mehr Chancen, wiederbelebt zu werden, als Mitläufer.

    This play can only function if performed strictly as written and in accordance with its stage instructions, nothing added and nothing removed. (Samuel Beckett)
    playing in good Taste doth not confit of frequent Passages, but in expressing with Strength and Delicacy the Intention of the Composer (F. Geminiani)

  • Da möchte ich auch noch meinen Senf dazugeben:
    Grundsätzlich scheinen gute und weniger gute bzw. schlechte Musik an persönliche Vorlieben oder Abneigungen gebunden zu sein. Wenn ich Leute fragte, welche Art von Musik sie gern hören, bekam ich oft etwa diese Antwort: „Eigentlich jede gute Musik.“ Niemand scheint schlechte Musik zu hören.
    Ich selbst benutze diesen Begriff nicht, weil ich davon ausgehe, dass jede Musik ihre Daseinsberechtigung hat, auch wenn ich sie persönlich nicht mag.
    Es gibt allerdings Stücke, und einige davon sind hier bereits verlinkt worden, bei denen fällt es mir schwer, diese als Musik zu bezeichnen, weil diese völlig im Gegensatz zu meinen Hörgewohnheiten stehen. Zur Musik gehören für mich Melodien, Rhythmen und Harmonien. Wenn ich davon nichts erkennen kann, dann ist das in meinen Augen (oder Ohren) keine schlechte Musik, sondern überhaupt keine!

    Viele Grüße aus Sachsen
    Andrea

  • Wenn ich Leute fragte, welche Art von Musik sie gern hören, bekam ich oft etwa diese Antwort: „Eigentlich jede gute Musik.“ Niemand scheint schlechte Musik zu hören.


    Vielleicht mit einer Einschränkung - auf Englisch gibt es den hübschen Begriff "guilty pleasure", zu Deutsch also etwa "schuldbewusstes Vergnügen". So bezeichnet man Musik, die einem gefällt, obwohl man sie eigentlich für schlecht hält :) Als Teenager hab ich etwa Britney Spears als "guilty pleasure" bezeichnet.

    Es gibt allerdings Stücke, und einige davon sind hier bereits verlinkt worden, bei denen fällt es mir schwer, diese als Musik zu bezeichnen, weil diese völlig im Gegensatz zu meinen Hörgewohnheiten stehen. Zur Musik gehören für mich Melodien, Rhythmen und Harmonien. Wenn ich davon nichts erkennen kann, dann ist das in meinen Augen (oder Ohren) keine schlechte Musik, sondern überhaupt keine!


    Das find ich eigentlich noch herablassender, als sie als schlechte Musik zu bezeichnen :) Dazu hatten wir hier schonmal einen (107 Seiten langen) Thread: musik oder kakophonie ?? - Ist moderne klassische Musik ein Evolutionsfehler?

  • Das find ich eigentlich noch herablassender, als sie als schlechte Musik zu bezeichnen

    Das sehe ich eher umgekehrt. „Schlecht“ assoziiert für mich fast immer etwas Negatives. Dagegen etwas nicht in bekannte Kategorien einordnen können, ist doch grundsätzlich erst einmal eine neutrale Aussage. Wer Wert auf feste Zuordnungen legt, kann das allerdings auch als unvollständig oder minderwertig interpretieren.

    Viele Grüße aus Sachsen
    Andrea

  • Dagegen etwas nicht in bekannte Kategorien einordnen können, ist doch grundsätzlich erst einmal eine neutrale Aussage.

    Naja, Musik in die Kategorie "Nichtmusik" einzuordnen ist schon eine (nichtneutrale) Aussage, eine Bewertung, und zwar eine negative.

    maticus

    Social media is the toilet of the internet. --- Lady Gaga

    Ich lieb‘ den Schlaf, doch mehr noch: Stein zu sein.
    Wenn ringsum nur Schande herrscht und nur Zerstören,
    so heißt mein Glück: nicht sehen und nicht hören.
    Drum leise, Freund, lass mich im Schlaf allein.
                       --- Michelangelo Buonarroti (dt. Nachdicht. J. Morgener)

  • Musik in die Kategorie "Nichtmusik" einzuordnen ist schon eine (nichtneutrale) Aussage, eine Bewertung, und zwar eine negative

    tja, ob es "Musik" ist, ist ja gerade strittig. Ist es keine, dann ist auch die Einordnung als "Nichtmusik" keine Negativbewertung ...

    ---
    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Es gibt allerdings Stücke, und einige davon sind hier bereits verlinkt worden, bei denen fällt es mir schwer, diese als Musik zu bezeichnen

    Hättest du "diese als 'gute' Musik zu bezeichnen" geschrieben, wäre ich ja sofort bei dir. Nur dass wir uns dann wieder in dieser gut-schlecht-Diskussion befinden würden. Aber Musik ist doch zunächst einmal alles, was als solche verkauft wird, mag man sie mögen oder nicht.

    zu Deutsch also etwa "schuldbewusstes Vergnügen". So bezeichnet man Musik, die einem gefällt, obwohl man sie eigentlich für schlecht hält

    O ja, so ergeht es mir mit machen Filmen, Büchern etc. Fürchterlicher Kitsch eigentlich, aber trotzdem herrlich und sehr von mir geliebt. Schade eigentlich, dass das Vergnügen daran 'schuldbewusst' ist. Wenn Kunst uns gefällt, aus welchen Gründen auch immer, hat sie ja schon eine Daseinsberechtigung. ;)

    :wink: Wolfram

    "Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern." (Samuel Beckett)

    "Rage, rage against the dying of the light" (Dylan Thomas)

  • Danke! :D Okay, dann werde ich dieser Bitte wirklich demnächst nachkommen! Ich hab zwar kaum Zeit, um im Forum zu schreiben, aber Zeit hat man ja bekanntlich nicht, man nimmt sie sich. Also dann auf ein baldiges Diskutieren in Deinem Thread! :D

    Melione hat mich jetzt schon mehrfach gebeten hat, mich hier einzubringen - also muss ich das wohl tun ^^ Allerdings bin ich, nachdem ich die bisherigen 9 Seiten dieses Threads überflogen habe, noch ratloser als zuvor :/

    Erstens:
    Natürlich sind solche Bewertungen bis zu einem gewissen Grade subjektiv, weil Menschen zur Beurteilung derselben Sache unterschiedliche Kriterien heranziehen und unterschiedliche Wertmaßstäbe/Erwartungshaltungen haben.
    Meine Erwartungshaltung ist, dass ich von Musik angeregt, geistig gefordert, "anspruchsvoll" unterhalten, innerlich aufgewühlt werden will - demgemäß interessiere mich großteils für Musik des 20. und 21. Jahrhunderts, finde aber zum Beispiel auch manches von Johann Sebastian Bach interessant und hörenswert. Mit zum Beispiel Mozart oder Verdi oder J. Strauss kann man mich großteils jagen.
    (Jedoch ist das natürlich nicht alles, denn ich mag auch bestimmte Arten von Musik, die nicht-klassische Musik ist.)

    Zweitens:
    Wer legt fest, was gut ist und was schlecht? Für mich ist klar, dass es da Kriterien geben MUSS, denn ich halte es für selbstverständlich, dass es innerhalb der Musik qualitative Abstufungen gibt. Es ist einfach nicht alles und jeder gleich gut und austauschbar. Wenn ich mich hinsetze und auf einem Instrument improvisiere, klingt es für mich teilweise sogar recht interessant, aber natürlich ist das keine gute Komposition, erstens weil mir das handwerkliche Rüstzeug fehlt und zweitens, weil mir Musik fast nur beim Improvisieren einfällt und ich sie kaum im Kopf "entwickeln" kann, also bin ich dafür zu unbegabt.
    Das wäre mal ein Kriterium für Musik: Handwerklich muss es stimmen. Ein Tischler kann auch nur ein Objekt anfertigen, wenn er mit seinem Werkzeug umzugehen weiß.

    Drittens:
    Was unterscheidet jetzt gute Musik von nur handwerklich brauchbarer Musik? Als mögliche Antwort würde ich formulieren: Wenn der Komponist die Musik innerlich gespürt hat und sie sozusagen aus seinem Inneren, aus seinen Gedanken geflossen ist. (das kann man natürlich nicht überprüfen, aber man hat ja gewissermaßen einen Eindruck beim Zuhören - der ist natürlich wieder subjektiv, okay) Sozusagen würde ich das meiste von Arnold Schönberg (Ausnahme: Gurrelieder!) nicht als gute, also als schlechte Musik bezeichnen.
    Desweiteren: Ob der Komponist Mut hatte, etwas eigenes zu schaffen, oder ob er bloß im Schatten seiner Zeitgenossen oder Vorgänger wandelt. (ich kenne mich bei von-Einem nicht aus, aber er war ja gewissermaßen ein Epigone; und gefällt mir das 2. Klavierkonzert Beethovens viel weniger als das 4., das seinen eigenen Weg geht, während das 2. für mich stark nach Mozart klingt)
    Und (wieder subjektiv): Ob die Musik zum Herzen vordringt. Also ob es etwas in der Musik gibt, das einen persönlich trifft und berührt. Kurz gesagt: Wenn ja, wird Musik dann wohl als gut empfunden - und wenn es so etwas in dieser Musik gibt, dann wohl als belanglos/langweilig/uninteressant/schlecht.

    Übrigens geht es mir so, dass mir eine Musik oft (nicht immer!) besser gefällt, je länger ich mich damit beschäftige. Aber in manches will ich einfach keine (weitere) Energie investieren, weil das Leben nicht unendlich ist.

    Conclusio: Die Sache ist mehr oder weniger subjektiv. Ob es wirklich gültige objektiv fassbare Kriterien dafür gibt? Ich denke schon, auch wenn ich sie nicht aufzählen kann. Darüber wurde sich schon über 9 Seiten der Kopf zerbrochen...

    Das wären meine chaotischen Gedanken zu dem Thema. Ich bin gerne bereit, darüber weiterhin nachzudenken und die Meinung gegebenfalls zu ändern. :D

    Wegen der im Mai 2023 in Kraft getretenen Forenregeln beteilige ich mich in diesem Forum nicht mehr (sondern schreibe unter demselben Pseudonym in einem anderen Forum), bin aber hier per PN weiterhin erreichbar.

  • Ob es wirklich gültige objektiv fassbare Kriterien dafür gibt?

    Die gibt es. Es gibt sie immer und überall, man muss sie nur formulieren. Anschließend kann man "messen", nach den zuvor festgelegten Kriterien.

    Ok, du schreibst "wirklich gültige". Du meinst damit "sinnvolle", "allgemeine akzeptierte".

    Das ist natürlich dem Zeitgeist unterworfen. Nichtsdestotrotz habe ich ein Kriterium, welches universell gültig ist: Wirkmächtigkeit.

    Qualität=Wirkmächtigkeit

    So wurde jedenfalls in den letzten 3000 Jahren die Qualität von Kunst definiert.

    Die Wirkmächtigkeit bezieht sich auf alle Zeitskalen:

    kurzfristig: Welchen Eindruck macht das Konzert, das Buch, der Museumsbesuch, wie lange hält er an?
    mittelfristig: Wie lange ist das Werk, die Aufführung, etc. im Gespräch? Wie lange wird es gespielt?
    langfristig: Wie viele Bücher werden darüber geschrieben, wie viele spätere Künstler werden davon beeinflusst, wie viele Jahrhunderte bleibt das Interesse bestehen?

    Damit lassen sich problemlos Bach, Berg, Bohlen und Bushido miteinander vergleichen. Die berühmten 4 B's.

    Ergebnis: Bach vor Berg, Berg vor Bushido, Bushido vor Bohlen. Eigentlich ganz einfach. Und das hat nichts mit Geschmack zu tun. Das ist einfach das Ergebnis einer Messung. Also völlig objektiv.


    Thomas

  • kurzfristig: Welchen Eindruck macht das Konzert, das Buch, der Museumsbesuch, wie lange hält er an?

    Sehr subjektiv, denn da kann bei der selben Person Helene Fischer möglicherweise weit vor einem Besuch des Louvre landen. ^^

    mittelfristig: Wie lange ist das Werk, die Aufführung, etc. im Gespräch? Wie lange wird es gespielt?

    Womit alte Werke immer klar im Vorteil wären. Also Bach wäre automatisch besser als Berg weil älter. Was ist übrigens mit der 'Aufführungspause' bei der Matthäus-Passion? Wie schlägt die zu Buche? ;)

    langfristig: Wie viele Bücher werden darüber geschrieben, wie viele spätere Künstler werden davon beeinflusst, wie viele Jahrhunderte bleibt das Interesse bestehen?

    Auch da klar wieder alte Werke im Vorteil, weil aus rein zeitlichen Gründen mehr über sie geschrieben werden konnte. Übrigens bin ich mir nicht sicher, ob es über Bushido mehr Bücher gibt oder über Bohlen. Es kann auch passieren, dass über einen Künstler in einer Epoche ganz viel geschrieben wird und dann versinkt er in Vergessenheit. ^^

    Ich bin von daher nicht sicher, ob selbst die Kombination aller drei Kriterien, bei so vielen Unwägbarkeiten, einen wirklichen Aufschluss ergibt.

    Der Film 'Jud Süß' machte bestimmt kurzfristig starken Eindruck auf die Zuschauer, er ist heute noch im Gespräch und alleine an Zeitungsartikel und an Erwähnungen in Büchern ist er auch langfristig weiterhin sehr präsent. Ober er deshalb ein besserer Film als z.B. 'Der Verlorene' von Peter Lorre ist? Ich wage es zu bezweifeln.

    :wink: Wolfram

    "Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern." (Samuel Beckett)

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  • Lieber Thomas! Deine Definition klingt ja in sich schlüssig und wird (leider viel zu) oft angewendet, allerdings bin ich damit persönlich nicht einverstanden, denn sie beurteilt, ob das Musikstück von der Allgemeinheit als gut angesehen wird, und nicht, ob es tatsächlich gut ist.

    Natürlich, die Wirkmächtigkeit kann man vermutlich objektiv feststellen. Aber Wirkmächtigkeit bestimmt meiner Meinung nach nicht die Qualität der Kunst. Denn wenn es so wäre, wäre ein Werk umso besser, je öfter es auf den Spielplänen steht bzw. je mehr Aufnahmen es davon gibt. Und das kann's doch nicht sein, oder?

    Wegen der im Mai 2023 in Kraft getretenen Forenregeln beteilige ich mich in diesem Forum nicht mehr (sondern schreibe unter demselben Pseudonym in einem anderen Forum), bin aber hier per PN weiterhin erreichbar.

  • Antwort an beide:

    Natürlich ist das alles subjektiv. Aber nicht wie ihr denkt. Der einzelne "Marktteilnehmer" urteilt mehr oder weniger subjektiv (in eurem Verständnis). Auch der Experte. Aber dessen Urteil wird eher respektiert. Möglichicherweise ist sein Urteil weniger subjektiv. Aber wenn niemand auf den Experten hört, bringt das auch nichts.

    Das ist aber nicht der Punkt. Subjektiv ist vor allem die Festlegung der Kriterien. Den Zeitfaktor kann man berücksichtigen. Aber in welchem Maß? Das ist subjektiv. Die einen sagen, es ist eine besondere Leistung, nach 300 Jahren immer noch gespielt zu werden. Da muss der Berg einfach noch 200 Jahre "Leistung zeigen", dann kommt er automatisch auf das Niveau von Händel. Aber halt, Händels Vorsprung in Jahren bleibt ja. Also wird man einen geeigneten "Altersfaktor" in das Bewertungsschema einfügen. Aber der ist eben subjektiv, je nachdem, wie man den langfristigen Erfolg gewichtet. Man könnte ja auch sagen, Erfolg im 3. Jahrtausend ist schwieriger, weil man mehrere Jahrhunderte an "Konkurrenz" hat. Ich persönlich besitze übrigens mehr Einspielungen von Werken von Händel als von Berg. Berg liegt bei mir mit erinem gewissen Abstannd vor Bushido, aber weit vor Bohlen. Bin aber kein Experte.

    Weiteres kontrovers zu diskutierendes Kriterium: Wer urteilt? Ist das Musical besser, welches von Experten gelobt wird oder dasjenige, das 20 Jahre lang von Laien besucht wird?
    Welche Relevanz hat es, wenn Helene Fischer von Kennern als schwach bewertet wird? Es hat natürlich eine Relevanz. Aber welche?

    Die Geschichte hat gezeigt, dass die Experten langfristig im Recht sind. Oft aber auch nur deshalb, weil sie rechtzeitig ihr Urteil an den Zeitgeist angepasst haben ;)

    Ich denke, man muss sich über den Erfolg von Helene Fischer, Bushido oder Bohlen nicht ärgern. Das wird sich über die Jahrzehnte von alleine zurechtrücken.


    Thomas

    PS: Bekanntlich komme ich vom Anlagenbau. Da haben wir die gleichen Probleme. Was ist eine gute Anlage? Geringer spezifischer Energieverbrauch? Hoher Durchsatz? Hohe Verfügbarkeit (wenig Ausfälle)? Geringer Verschleiß? Hohe Fehlertoleranz (bei unmotiviertem Personal)? Und wie werden diese Kriterien gemessen? Frage 5 Experten, und du bekommst 6 Meinungen...

  • auf Englisch gibt es den hübschen Begriff "guilty pleasure", zu Deutsch also etwa "schuldbewusstes Vergnügen". So bezeichnet man Musik, die einem gefällt, obwohl man sie eigentlich für schlecht hält Als Teenager hab ich etwa Britney Spears als "guilty pleasure" bezeichnet.

    nee, Du hälst sie nicht für schlecht. Deine peer-group hält sie für schlecht. Das ist ein Unterschied. Dir gefällt sie. Niemand beschäftigt sich freiwillig mit Dingen, die ihm nicht taugen, eingefleischte Masochisten ausgenommen...
    Schere im Kopf....

    viele Grüße

    Bustopher


    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • Nein, Menschen sind schon ein bißchen komplexer, nicht nur Masochisten. Und damit meine ich nicht nur pathologisches Verhalten wie Sucht, Zwangsstörungen, obwohl es da auch sehr viel im vorpathologischen Bereich gibt, das Menschen nicht lassen können, obwohl sie es eigentlich nicht tun wollen oder jedenfalls wissen, dass ihnen auch andere erfüllendere Beschäftigungen offen stünden. (Das ist ja ein Kernproblem des Menschen, dass er niedere höheren Gütern vorzieht, weil es bequemer ist.)
    Guilty pleasure ist für mich analog zu Naschen. Und halt nicht eine handgemachte Praline langsam genießen und dann zwei Tage nichts Süßes mehr, sondern eine Packung Toffifee auf einen Sitz essen, obwohl man schon nach der hälfte verklebte Zähne hat... D.h. man folgt einer eher schlichten Begierde, anstatt sie zu beherrschen.
    Die Übertragung auf Kunst/Musik mag ein bißchen hinken, aber konkret: Ich lese seit mehreren Wochen an Manns "Felix Krull" (nun ist das für manche wohl guilty pleasure). Genauer habe ich das erste Drittel oder so recht zügig gelesen, bin dann etwas hängengeblieben und nun immer noch nicht viel weiter als halb durch. Denn ich habe stattdessen mindestens sechs Krimis "dazwischen" geschoben. Halt der guilty pleasure nachgegeben statt pflichtbewusst einen Klassiker fertigzulesen.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Das ist aber nicht der Punkt. Subjektiv ist vor allem die Festlegung der Kriterien.


    Jein. Christian Köhn hat mal (sinngemäß - ich hoffe, ich gebe es richtig wieder) geschrieben, dass sich die Kriterien aus dem Stück ergeben.

    Das muss man einen Moment sacken lassen, weil es zunächst nach Selbstkonsistenz klingt - wenn man dann länger drüber nachdenkt, macht es aber sehr viel Sinn.

    Wenn jemand eine Fuge schreibt, dann begibt er/sie sich in den Bereich der polyphon aufgebauten Musik, also gelten auch Kriterien, die dafür üblicherweise angelegt werden (z. B. die Komplexität der Konstruktion).

    An einen Walzer von Strauss hingegen lassen sich diese Kriterien nicht anlegen, das ergibt sich aber bereits aus der Faktur des Stücks.

    Zum Beispiel Bohlen: es kommt darauf an, welche Kriterien, die sich aus seiner Musik ergeben, wie gewichtet werden. Einerseits schreibt er geradezu bekennend kommerzielle Musik - er möchte viele Platten verkaufen (erkennbar z. B. an der eingängigen Melodik, dem einfachen Aufbau der Stücke und den simplen Texten). Das schafft er, also ist seine Musik in gewisser Hinsicht "gut".

    Andererseits steht er - aufgrund der Faktur seiner Musik - in der Tradition der Popmusik. Diese hat ein sehr hohes Potenzial, Authentizität zu vermitteln und kleine Geschichten zu erzählen. Bei Meistern des Genres - Prince, Bowie, Cohen - findet man all diese Eigenschaften in ihrer Musik, bei Bohlen halt nicht. So gesehen ist es "schlechte" Musik.

    Insgesamt sind diese Betrachtungen ästhetischer Natur aber nie einfache Rechenaufgaben - das sollte man nicht vergessen.

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Jetzt machst du aber genau das: Du sinnierst über die Sinnhaftigkeit diverser Kriterien. Und das ist dann eben subjektiv. Die Diskussion ist aber wichtig. Ist eine "mäßig" gelungene Fuge besser als ein "perfekt" gelungerner Popsong? Beim Wein: Ist ein perfekter Silvaner (eine eher einfache Rebsorte) besser als ein sehr guter, aber nicht genialer Riesling?

    Wie gesagt: Mein Kriterium ist die Wirkung des jeweiligen Werkes. Nehmen wir Kater Murrs Krimi-Problem. Wird er sich in 5 Jahren eher an einen der Krimis oder eher an Felix Krull erinnern? Hat Bohlens Musik wirklich Gewicht, oder erinnern wir uns eher an den Namen, weil er als "Bohlen" in seiner Branche seit 30 Jahren präsent ist, aber die letzten 25 Jahre nicht als Musiker?

    Christian Köhn sieht die Sache eher technisch, aber da begibt er sich auf dünnes Eis. In unserer heutigen Wissensgesellschaft wird es immer Leute geben, die perfekte Werke schaffen. Ok, bei der Kunst ist auch noch Originalität gefragt. Aber das findet sich auch. Und doch hinterlassen manche Werke mehr Spuren als andere.

    Die Diskussion über Alma Deutscher habe ich gelesen. Ich bin da ganz pragmatisch. Lena Meyer-Landrut hat mich als Person angesprochen, und die ersten beiden Jahre haben einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Den Kauf der ersten beiden Alben bereue ich nicht. Beim Hören derselben erinnere ich mich genau an die Zeit, und es ist jedes Mal interessant, sich zu fragen, welche Stücke sind originell und welche nur biederes Handwerk. Und wie groß ist der Anteil der Interpretin am Erfolg. Bei Alma Deutscher dagegen lehne ich mich einfach zurück. Falls sie wirklich mal groß herauskommt, werde ich einfach das am meisten gehypte Album kaufen und sehen, welchen Eindruck es macht. Ggf. werden dann weitere Alben gekauft oder eben nicht. Bei Liszt oder Haydn mache ich das genau so. Mit unterschiedlichem Ergebnis. Das Ganze dann aufsummiert über 7 Milliarden Menschen und entsprechend gewichtet... Ok, wir Europäer sind bekanntlich der Nabel der Welt...


    Thomas

  • Jein. Christian Köhn hat mal (sinngemäß - ich hoffe, ich gebe es richtig wieder) geschrieben, dass sich die Kriterien aus dem Stück ergeben.

    Also muss sich ein Kunstwerk an dem messen lassen, was es erreichen will. Ich glaube, dass ist richtig.

    Wenn Caravaggio seine Laute so gemalt hätte wie George Braque wäre das damals schlichtweg falsch und schlecht gewesen (und umgekehrt natürlich auch). Aber die Malweise in die jeweilige Zeit versetzt, den Intentionen des Künstlers zugerechnet, wird es zu entsprechend 'guter' Kunst.

    Aber wird es das wirklich? (Im Falle von Caravaggio und Braque dürfte da kein Zweifel herrschen (warum eigentlich? ;) )). Denn hat der Künstler seine eigentlich Intention wirklich erreicht? Hätte er nicht mehr geben können? Konnte er vielleicht aufgrund von Alter, Krankheit etc. manche der angestrebten Intentionen nicht mehr erreichen, war aber in der Lage andere Aspekte in überwältigender Form zu verwirklichen?

    Und im Fall Bohlen: Er hat sein Ziel (wenn es denn sein Ziel war) erreicht, wenn er kommerziell erfolgreich war. Damit ist es 'gut', aber ist es auch gute 'Kunst'?

    Was sicherlich keinen Sinn macht, Kunst über Genregrenzen zu vergleichen, aber vielleicht auch mit anderen Künstlern des selben Metiers oder auch innerhalb des eigenen Oeuvres. Ist ein Strauß-Walzer weniger wert, weniger gut als der Tristan? Aber welche Strauß-Walzer sind nun die besten und welche sind eher 'schlecht'? 'Der zerrissene Vorhang' von Hitchcock ist innerhalb seines Oeuvres wohl nicht einer der besten Filme, aber verglichen mit anderen von anderen Regisseuren?

    Was wohl nie außer Acht gelassen werden darf, sind handwerkliche Qualitäten. Stimmt z.B. das Drehbuch, das Casting, die Kameraeinstellung etc.? Solche Qualitätsmerkmale verändern sich aber von Epoche zu Epoche und sind vielleicht gar nicht einmal immer von Interesse.

    Wenn man ausführende Künstler noch mit hinzu nimmt, fällt mir Gwyneth Jones ein. Rein handwerklich, rein technisch war ihr Gesang in den letzten Jahren, als ich sie erlebte, oftmals 'markerschütternd'. ;) Aber die Wucht, die sie damit erzielte, war überwältigend. Frage ist, war das nun 'gut' oder 'schlecht'? Wollte sie mehr, d.h. handwerklich sauber und gleichzeitig ausdrucksvoll singen oder gab sie sich mit weniger zufrieden? Im ersten Fall wäre es dann 'schlechte' Kunst gewesen, ansonsten 'gute'. Für das Publikum war es jedenfalls das zweite, was allerdings ein Kriterium außerhalb des Stücks, des Interpreten ist.

    Ich befürchte langsam, dass das alles ein ziemlich weites Feld ist und wir wohl keine allgemein Kriterien finden werden. Letztlich bleibt es wohl dem Konsumenten überlassen, was er, aus welchen Gründen auch immer, für 'gute' Kunst erachtet.

    :wink: Wolfram

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  • Hat Bohlens Musik wirklich Gewicht, oder erinnern wir uns eher an den Namen, weil er als "Bohlen" in seiner Branche seit 30 Jahren präsent ist, aber die letzten 25 Jahre nicht als Musiker?

    Für einen Bohlen-Fan hat seine Musik Gewicht und wird sie vielleicht immer haben. Für einen Wagnerianer vielleicht eher nicht. Kann man nun von oben herab entscheiden, dass das eine besser ist als das andere?

    Und doch hinterlassen manche Werke mehr Spuren als andere.

    Denk an die 'Pause' bei der Matthäus-Passion. Manche Werke verschwinden auch ("Zemlinsky kann warten.") mindestens eine Zeitlang, was ja nicht unbedingt gegen ihre Qualität spricht, und hinterlassen womöglich keine oder nur sehr wenige Spuren, die, wenn die Werke Glück haben, von manchen Leuten gerade noch aufgegriffen werden. Und das kann dann zu einer Art Renaissance führen, muss es aber nicht, was wiederum von vielen Umständen abhängt. Die 'Matthäus-Passion' hat sich sicherlich letztlich mehr durchgesetzt und mehr Spuren hinterlassen als Zemlinskys 'Der Zwerg'. Aber ist deshalb das eine Werk 'gut' und das andere nicht?

    :wink: Wolfram

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  • Die künstlerischen Ziele sind eben auch nicht gleichwertig. Ein "guter Schlager" oder ein "erfolgreicher Popsong" mag sein gesetztes Ziel perfekt erfüllen. Aber verglichen mit der Matthäuspassion ist das eben ein eher bescheidenes Ziel, auch abgesehen vom kommerziellen Erfolgskriterium, das natürlich auch ein äußerliches Kriterium ist. Aber selbst ein perfekter Ausdruck des Zeitgeistes des Summers of '69 oder 2019 oder was weiß ich, ist halt nicht mit der Zielsetzung von Tristan, Matthäuspassion etc. vergleichbar.

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    (B. Pascal)

  • Also muss sich ein Kunstwerk an dem messen lassen, was es erreichen will. Ich glaube, dass ist richtig.

    Naja ... es gibt so ein paar generelle Kriterien wie Originalität, Einfluss, Verbreitung, Handwerk, Stimmigkeit(?), Vorwegnahme(?) und dann ergibt sich aus dem jeweiligen Werk, wie diese allgemeinen Kriterien konkretisiert werden und welche dann relevant sind. Es geht sicher nicht nur darum, ob der Komponist seine Aufgabe ordentlich gelöst hat.

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