Joachim Kaiser - Großer alter Mann der Kulturkritik oder Auslaufmodell?

  • Joachim Kaiser - Großer alter Mann der Kulturkritik oder Auslaufmodell?

    Liebe Cappricisten,

    ich lese gerade das wahrscheinlich mehreren geläufige Buch "Ich bin der letzte Mohikaner", welches von Joachim Kaiser und seiner Tochter Henriette stammt und welches sein Leben und seine Tätigkeit nachzeichnet.

    Die universelle klasische Bildung dieses Mannes kann einen schon umhauen! Dennoch schleicht sich bei mir beim Lesen des Buches, welches ja auch ausgewählte Kritiken Joachim Kaisers enthält, ein gewisses Gefühl ein, daß der junge Joachim Kaiser ein Niveau hatte, das der späte Kaiser nicht mehr erreicht. Die Rezensionen von Adornos "Philisophie der neuen Musik" (1951, Kaiser war 23 und noch Student!) wie auch einer Produktion von "Dantons Tod" durch Korthner (1959, Kaiser wagte als einer der wenigen einen Verriss des mächtigen Theatermannes) sind wahrlich brilliant. Später jedoch scheint sich eine gewisse eitle Selbstgefälligkeit einzustellen, mal ganz abgesehen davon, daß Kaisers sicherlich verblüffendes Fachwissen etwa 1972 endet. So scheint er bei Pianisten mit jenen auszukommen, die noch im 19. Jahrhundert geboren worden waren, Bach endet bei Karl Richter, HIP wird kaum erwähnt.

    Was denkt Ihr über Joachim Kaiser? Ist er der große alte Mann deutscher Kulturkritik, oder hat er seinen Zenit vor erheblicher Zeit überschritten?

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Lieber Symbol,

    ich glaube, wir alle wissen spätestens seit wir versuchen, in entsprechenden Foren Sinnvolles zu schreiben, wie schwer es ist, über Musik zu reden. Ich habe Kaiser immer sehr dafür bewundert, wie ihm das gelingt, mit welcher Genauigkeit und Sprachkraft er die spezifischen sounds von Interpreten beschreibt. "Große Pianisten in unserer Zeit" und "Beethovens 32 Klaviersonaten und ihre Interpreten" sind, was das angeht, in meinem Empfinden immer noch fantastische Bücher - auch wenn man natürlich immer und überall darüber streiten kann, was oder wer fehlt und welches Einzelurteil man anders fällen würde.

    Grüße,
    Micha

  • Auf den online-Seiten der Süddeutschen Zeitung hat Kaiser seit Kurzem die wochentliche Videokolumne "Kaisers Klassik Kunde". Er beantwortet Leserfragen, z.B. zum Thielemann-Rauswurf oder zur Akkustik der Philharmonie am Gasteig, oder zur Daseinsberechtigung von Kunstkritikern.

    In seinen Kritik scheint mir Kaiser gerne alten Zeiten nachzutrauern, a la: Die Sängerin der Brünnhilde war sehr gut gut. Aber früher ... Birgit Nilsson ... arm ist, wer sie nicht mehr live erlebt hat ... diese Fortissimo-Stimme ... das gibt es heute nicht mehr ...

    Falstaff

  • Ich kann MICHA nur zustimmen, kaisers Buch zu den Interpretationen von Beethovens 32 Klaviersonaten gehört für mich zu den brilliantesten Büchern, sehr differenzierte Kritiken, tiefe Einsichten in Beethovens Sonaten und eine brilliante Schreibe. :juhu: :juhu: :juhu: :juhu: :klatsch: :klatsch:

    Kein Buch habe ich mit so viel Vergnügen gelesen.

    Das Buch gab es mal als Radiosendung (im WDR oder SWR) vor gut 25 Jahren, von Kaiser selbst gesprochen (Sonntags 18.00). Ich finde es sehr schade, dass man bisher nicht die Gelegenheit genutzt hat daraus ein Hörbuch zu machen.

    Hat vielleicht jemand eine Aufnahme davon???

    Ich kenne von Kaiser nichts aus heutiger Zeit - natürlich ist er inzwischen ein ziemlich alter Mann - kann also nichts zu kaiser heute sagen.

    Danke für den Hinweis auf die Kolumne

    Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum (Nietzsche)
    In der Tat spuckte ... der teuflische Blechtrichter nun alsbald jene Mischung von Bronchialschleim und zerkautem Gummi aus, welchen die Besitzer von Grammophonen und Abonnenten von Radios übereingekommen sind Musik zu nennen (H Hesse)
    ----------------------------
    Im übrigen bin ich der Meinung, dass immer Sommerzeit sein sollte (gerade im Winter)

  • Lieber Micha,

    meine volle Zustimmung! Die Formulierungskünste dieses Mannes sind, neben seinem stupenden Fachwissen, absolut bemerkenswert! Meine Beobachtung (Kritik möchte ich es kaum nennen) zielt eher in die Richtung, daß er sich in den letzten Jahren, wenn nicht gar Jahrzehnten, etwas auf dieser Fähigkeit ausruht. Die "Großen Pianisten in unserer Zeit" kenne ich auch, war aber inhaltlich enttäuscht - IIRC kam das inhaltlich dringend notwendige Update noch nicht mal von Kaiser selbst, sondern von jemand Anderem.

    Lieber Falstaff,

    dies spiegelt auch meinen Eindruck recht gut wider. Ich habe seinerzeit im Radio (ca. 2002/2003) die Reihe "Kaisers Beethoven" verfolgt. Sicher, der Mann kennt Beethovens Werk praktisch auswendig. Wenn aber bei den Beethoven-Symphonien Namen wie Gardiner, Norrington oder Zinman noch nicht mal genannt werden, dafür aber die Unterschiede bereits verstorbener Pultgrößen ausführlich auseinanderklambüsert werden, bekommt das Ganze doch einen recht angestaubten Eindruck.

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Ich fand das Buch über die grosen Pianisten sehr gut. Meine Fassung ist von 1989, gibt es da inzwischen was neueres?

    Die Reihe zu Beethoven kenne ich leider nicht (hat jemand Aufnahmen davon)

    Allerdings muss ich auch der Meinung zustimmen, dass Kaisers Kenntnisse über Pianisten und Dirigenten ziemlich veraltet sind und von daher kann ich die Enttäuschung schon sehr gut nachvollziehen.

    Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum (Nietzsche)
    In der Tat spuckte ... der teuflische Blechtrichter nun alsbald jene Mischung von Bronchialschleim und zerkautem Gummi aus, welchen die Besitzer von Grammophonen und Abonnenten von Radios übereingekommen sind Musik zu nennen (H Hesse)
    ----------------------------
    Im übrigen bin ich der Meinung, dass immer Sommerzeit sein sollte (gerade im Winter)

  • Ich fand das Buch über die grosen Pianisten sehr gut. Meine Fassung ist von 1989, gibt es da inzwischen was neueres?

    Gibt es: 1997 ist eine erweiterte Neuauflage erschienen. Klaus Bennert hat dabei das Buch um ein Kapitel ergänzt, um die zum Erscheinungszeitpunkt "neuesten" Entwicklungen einzufangen:

    Inzwischen liegt sogar eine fünte Auflage vor, ob es sich dabei aber lediglich um einen schlichten Nachdruck oder eine nochmals ergänzte Auflage handelt, entzieht sich meiner Kenntnis:

    Kaisers Beethoven Buch ist für mich ein Klassiker- und gehört mit Sicherheit zum Besten, was Kaiser geschrieben hat. Da verbinden sich profunde Sachkenntnis mit stilistischer Brillianz. Wobei natürlich auch dieses Werk inzwischen nicht mehr dem neuesten Stand entspricht- zumindest im Hinblick auf die berücksichtigten Interpreten. Aber lesenswert sind die Analysen Kaisers nach wie vor.

    Ob das Buch aber noch im Handel ist weiß ich nicht, jpc führt es zumindest nicht- meine ich.

    Herzliche Grüße, :wink: :wink:

    Christian

    Rem tene- verba sequentur - Beherrsche die Sache, die Worte werden folgen

    Cato der Ältere

  • Wobei natürlich auch dieses Werk inzwischen nicht mehr dem neuesten Stand entspricht- zumindest im Hinblick auf die berücksichtigten Interpreten.

    Klar. Andererseits kann man ja die Interpretationen der alten Meister noch immer hören, und ich genieße es besonders, durch diese Texte an so großartige Pianisten wie Géza Anda, Wilhelm Kempff oder Clifford Curzon erinnert zu werden, die ich sonst nicht ständig aufm Schirm habe. Ich habe das Buch, angeregt durch diesen thread, gerade mal wieder zur Hand genommen (ich habe die ursprüngliche Ausgabe ohne jegliche Aktualisierungen) und bin schon dabei, die entsprechenden Schallplatten wieder rauszukramen...

    Grüße,
    Micha

  • Klar. Andererseits kann man ja die Interpretationen der alten Meister noch immer hören, und ich genieße es besonders, durch diese Texte an so großartige Pianisten wie Géza Anda, Wilhelm Kempff oder Clifford Curzon erinnert zu werden, die ich sonst nicht ständig aufm Schirm habe.

    Finde ich auch. Wie gesagt im besten Sinne ein Klassiker- zeitlos. Gerade auch weil Kaiser die "großen Alten" eben auch noch alle aus eigenem Erleben heraus beschreibt.

    Herzliche Grüße, :wink: :wink:

    Christian

    Rem tene- verba sequentur - Beherrsche die Sache, die Worte werden folgen

    Cato der Ältere

  • Finde ich auch. Wie gesagt im besten Sinne ein Klassiker- zeitlos. Gerade auch weil Kaiser die "großen Alten" eben auch noch alle aus eigenem Erleben heraus beschreibt.

    Herzliche Grüße, :wink: :wink:

    Christian


    Lieber Micha, lieber Christian,

    sicherlich habt Ihr Recht, daß Kaiser uns die großen alten Pianisten auf eine Art und Weise nahebringt, vor der man nur den Hut ziehen kann. Als Buchautor hat er ohne Frage große Verdienste, wenn auch der Titel des Pianisten-Buches inzwischen besser "Große Pianisten zur Zeit unserer Großeltern" lauten sollte. :D

    Fragwürdig finde ich aber, bei aller offenen Bewunderung meinerseits für diesen großen Intellektuellen, daß er in seiner Funktion als Kritiker kein erkennbares Bemühen zeigt, "up to date" zu bleiben. Ich meine schon, daß ein Kritiker die aktuellen Strömungen in seinem Fach kennen muß. Er beurteilt schließlich Werke oder Aufführungen von heute. Wie will man im Jahr 2009 eine Rezension zur Aufführung einer Beethoven-Symphonie verfassen, wenn man offensichtlich keine HIP- oder HIP-nahe Einspielung kennt (oder diese Kenntnis zumindest sehr oberflächlich zu sein scheint)? Hier bin ich relativ radikal: entweder ein Kritiker hält sich auf dem aktuellen Stand, oder er sollte aufhören.

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • entweder ein Kritiker hält sich auf dem aktuellen Stand, oder er sollte aufhören.

    Das mit dem rechtzeitig Aufhören ist natürlich immer so 'ne Sache. Da kenn ich aber schlimmere Beispiele, Theaterkritiker z.B., denen schon mit Ende fünfzig nichts anderes mehr einfiel, als zu lamentieren, dass heute alles nicht mehr so ist wie in den 70ern mit Zadek & Peymann. Und mit Herrn Reich-Ranickis Zugang zu aktueller Literatur ist es ja auch nicht so wirklich weit her. Die Frage ist eher die nach dem rezeptiven Umgang mit solchen alten Herren: da sollte man eben auch ihren historischen Hintergrund und ihre Prägung in Betracht ziehen - und gegebenenfalls mal deren Urteile für sich selbst nicht gelten lassen, weil der eigene Hintergrund denn doch ein völlig anderer ist mit einem Lebenszeitunterschied von einem halben Jahrhundert oder so. Zu altern und dabei aktuell zu bleiben (oder immer aktueller zu werden), das scheint mir nur jenen gegeben zu sein, die schon als Junge quer zu allen Strömungen lagen und in schönem Eigensinn sich ihre eigene Zeit gestalteten. Die wurden aber meist nicht Kritiker.

    Dein Vorschlag für eine Titeländerung des Pianistenbuches gefällt mir ausgesprochen gut...

    Grüße,
    Micha

  • Ehrlich gesagt finde ich das, was hier zu Kaiser geschrieben steht, recht despektierlich. Wenn ich mit über 80 noch einen solch wachen Verstand haben würde, würde mich das sehr freuen. Dass die Schaffenskraft in diesem Alter nicht mehr ausreicht, die Hauptwerke aktuell zu halten, drängt sich ebenso auf wie die Tatsache, dass Kaiser wie jeder Kind seiner Generation ist und sich deshalb nicht mehr mit aktuellen Zeitströmungen und Moden befasst - was sich durchaus als Altersweisheit auslegen ließe. Man muss nämlich auch einzuschätzen wissen, wozu man Profundes beitragen kann und wozu man dies nicht kann oder auch nur nicht mehr will. Deswegen bleibt Kaiser "der große alte Mann" und wird nicht gleich zum "Auslaufmodell". Natürlich muss man, wenn man sich denn damit befassen will, zu "HIP", Sudbin und Osborne woanders nachschlagen.

    Gruß
    Henning

    Stattdessen sind Sie Knall und Fall mitten im Unterricht vom Gymnasium abgegangen.
    GULDA: Ja, ich hab' gesagt, Herr Professor, darf ich aufs Klo, und bin nicht wiedergekommen. Ich glaub', es war in der Mathematikstunde .
    Warum sind Sie nicht in der Pause gegangen?
    GULDA: Das wär' ja fad gewesen. Keiner lacht. Die Tür ist eh offen. Ich wollte schon, daß es prickelt.

  • Lieber Henning,

    nur damit keine Mißverständnisse aufkommen: es liegt mir sehr fern, Kaiser in irgendeiner Art und Weise abfällig beurteilen zu wollen. Ich bewundere seine Bildung (dieses Wissen in drei Disziplinen - Musik, Literatur, Theater - muß man erstmal haben), und ich bewundere auch seine bis ins Alter und trotz des Todes seiner Frau anhaltende Produktivität.

    Meine Aussagen beziehen sich nicht so sehr auf eine Entwicklung der letzten Jahre bei Kaiser, sondern etwas, was m. E. bereits früher einzusetzen scheint (späte 70er, frühe 80er Jahre?) - nämlich eine gewisse Sattheit, was die Ergänzung des eigenen Wissensstandes angeht. Dies mag auch damit zu tun haben, daß Kaiser sich ungefähr zu dieser Zeit eine unglaubliche Arbeitslast aufgebürdet hat - er war Kritiker, Buchautor, Vortragsreisender und Professor in Stuttgart - und er ganz schlicht keine Zeit mehr hatte, sich so manche neuere Aufnahme in Ruhe anzuhören. Nun weiß er wahrlich genug, um seine anderen Aufgaben formidabel ausfüllen zu können, nur für die Profession des Kritikers sehe ich eine derartige Stagnation als problematisch an.

    Um meine eigene etwas provokante Eingangsfrage zu beantworten: allein schon aufgrund der Lebensleistung dieses Mannes ganz klar "großer alter Mann"! Trotzdem würde ich so manche heutige Äußerung von ihm aus den genannten Gründen cum grano salis aufnehmen.

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Meine Aussagen beziehen sich nicht so sehr auf eine Entwicklung der letzten Jahre bei Kaiser, sondern etwas, was m. E. bereits früher einzusetzen scheint (späte 70er, frühe 80er Jahre?) - nämlich eine gewisse Sattheit, was die Ergänzung des eigenen Wissensstandes angeht. Dies mag auch damit zu tun haben, daß Kaiser sich ungefähr zu dieser Zeit eine unglaubliche Arbeitslast aufgebürdet hat - er war Kritiker, Buchautor, Vortragsreisender und Professor in Stuttgart - und er ganz schlicht keine Zeit mehr hatte, sich so manche neuere Aufnahme in Ruhe anzuhören. Nun weiß er wahrlich genug, um seine anderen Aufgaben formidabel ausfüllen zu können, nur für die Profession des Kritikers sehe ich eine derartige Stagnation als problematisch an.

    Solange er nicht Aufnahmen oder Aufführungen kritisiert, die er nicht kennt, finde ich auch das nicht weiter problematisch. Mir ist es im Gegenteil sogar sympathisch, dass er nicht dem verbreiteten Fehler verfällt, die Leistungen der "Großen Alten" nachträglich herabzusetzen, bloß weil sich der Zeitgeschmack geändert hat. Gelehrsamkeit nach Art des Famulus Wagner ("wie wir es dann zuletzt so herrlich weit gebracht") ist ihm Gott sei Dank fremd. Was ich eher problematisch finde ist diese gewisse Eitelkeit, die ihn dazu veleitet, mit großer rhetorischer Geste auch manche Banalität von sich zu geben: So hat er z.B. neulich in einem Fernseh-Portrait die angeblich außerordentliche musikalische Klugheit von A.S. Mutter (eine allerdings auch ziemlich steile These ;+) ) mit der Weltsensation begründet, sie würde bei Wiederholungen immer ein klein wenig variieren, einen anderen Fingersatz o.ä. nehmen. Er scheint von der Überzeugung durchdrungen, dass alles aus seinem Munde von höchster Bedeutung sei. Das geht mir ziemlich auf die Nerven.

    Viele Grüße,

    Christian

  • Lieber Christian,

    diese Eigenheit Kaisers ist mir auch aufgefallen. In dem genannten Buch äußert er sich beispielsweise über Mahler dahingehend, daß er den Eindruck habe, in dessen Finali treten Schwächen der Konzeption zutage, die er auf Zeitmangel Mahlers beim Komponieren schiebt. Bitte korrigiere mich, wenn ich falsch liege, aber nach allem, was ich über Mahler weiß, hat dieser doch für viele Symphonien ein Particell angefertigt und dieses dann später ausinstrumentiert. Dies würde aber beinhalten, daß die Konzeption seiner Symphonien recht früh feststand (sicher, es gibt Außnahmen, so die 2., wo die "Todtenfeier" zur ganzen Symphonie ausgebaut wurde). In jedem Fall erscheint mir die These reichlich kühn und wird daran gemessen mit recht großer Inbrunst dargeboten. Mal ganz abgesehen davon, daß ich wahrlich nicht verstehe, was an den Finali der 5., 6. oder auch 9. von Mahler schwach sein soll (die 7. wäre vielleicht noch diskutabel, die "Wunderhorn-Symphonien" und die 8. kann man hier ob ihrer Konzeption m. E. ohnehin schwerlich betrachten). Dieses Vermischen von subjektivem Eindruck mit großem Verkündigungsdrang finde ich nicht unproblematisch, auch über Mozarts d-moll-Klavierkonzert findet sich so etwas (Kaiser bezeichnet den Schluß des Finales als "albern").

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Lieber Symbol,
    die erwähnte "Konzeptionsschwäche" von Mahler scheint bei JK auch aus einer Erfahrung als junger Mann begründet (habe allerdings selbst sowas von ihm noch nicht gelesen). Ich habe mehrere Konzertführer aus den 50er Jahren (z.B. Schnoor) antiquarisch erworben, die Mahlers Bedeutung als Dirigent hervorheben, seine als Komponist (v.a. gegenüber Richard Strauss) herabsetzen. Scheint damals Zeit(un)geist gewesen zu sein.
    Bezugnehmend auf den Threadstart muss ich sagen, dass ich seine Literatur über Pianisten immer noch sehr hoch einstufe (anhand der Nachvollziehbarkeit durch Aufnahmen). Aktuelle Kritiken kann ich deshalb nur schwer beurteilen, da ich meist nicht in den besprochenen Veranstaltungen selbst zugegen war. Mit dem aktuellen Stand bei Kritikern ist es so eine Sache: Viele Nachwuchskritiker haben leider im Vergleich wenig Kenntnisse bezüglich der vergangenen Interpretationsepochen (nachvollziehbar seit Einführung des Grammophons). JK nervt auch mich manchmal mit seinen Anflügen von eitlen Allüren, wobei ich Kesting als viel unsäglicher empfinde.
    Zinman nicht zu erwähnen, ist in meinen "Ohren" kein großer Verlust. Vor einigen Jahren war ja um seinen Beethoven-Zyklus mit dem Tonhalle Orchester ein wahrer "Heilsbringer"-Hype. Deshalb habe ich mir mit ihm und seinem Orchester einen Beethovenabend in Rosenheim gegönnt. Trotz live Atmosphäre muss ich gestehen, dass es sich eher um eine Veranstaltung der langweiligeren Art handelte. Das Orchesterspiel war ordentlich, mehr nicht. Die Eroica war zwar "entschlackt", leider aber unter dem Preis eines Aromaverlustes analog den light-Produkten in unseren Supermärkten.
    Gardiner und Norrington sind interessant, dass trifft aber auf zig Interpreten zu, die uns im Verlauf der Geschichte der Ton- und/oder Videoaufzeichnung ihre Sicht der Dinge hinterlassen haben. Alle zu erwähnen, würde wohl den Rahmen seiner Beiträge sprengen. Außerdem hören weltweit wohl viel mehr Menschen in dieser Minute Aufnahmen mit Artur Rubinstein oder Vladimir Horowitz als mit den aktuellen Pianisten ( :D "freies" Zitat nach JK).Hängt Euch nicht zu sehr an der bereits selbst historischen und ermüdenden HIP-Debatte auf! Kaiser macht das, was er zweifelsohne gut kann, und lässt das andere wohlweislich sein.

    Gruß,
    scherchen

    "Music is the voice of the all - the divine melody - the cosmic rhythm - the universal harmony." aus Music for all of us (Stokowski, 1943)

  • Ich scheine ja hier mit meiner Position zum notwendigen Kenntnisstand eines Kritikers auf nicht sooo viel Gegenliebe zu stoßen. :D Doch ganz im Ernst: ich bleibe dabei - zur Beurteilung eines hier und heute stattfindenden Konzerts oder einer hier und jetzt publizierten Aufnahme muß man zumindest in wesentlichen Zügen den Materialstand kennen. Soll heißen: allein schon, um dem interssierten Leser eine Einodnung zu ermöglichen, sollte man in der Lage sein zu verdeutlichen, ob der Interpret gewissen Trends, vielleicht sogar Modeerscheinungen gefolgt ist oder aber ob die Interpretation eher herkömmlich, klassisch, vielleicht sogar bewußt altmodisch war/ist. Das Beispiel Beethoven war hier willkürlich gewählt, da ich hier einen besonderen Umbruch in der Interpretationstradition, auch infolge der HIP-Bewegung, ausmache. Wem der Name Zinman nicht zusagt, der möge ihn durch Järvi ersetzen, selbst Metzmacher habe ich mal mit einer 8. erlebt, die ganz klar durch diesen "neuen Beethoven-Stil" beeinflußt war. Sicherlich gibt es Bereiche der Musikpflege, die weniger Veränderung der Interpretation erlebt haben (z. B. Chopin), aber sie werden weniger. Einen Kritiker sehe ich wie einen Arzt: er kann sicherlich bis ins hohe Alter praktizieren, aber er schuldet es seinen Patienten, sich auf dem Laufenden zu halten.

    Sehr lobend möchte ich aber noch das Buch "Leben mit Wagner" von Joachim Kaiser erwähnen. Das fand ich wirklich unterhaltsam und informativ, gerade auch wegen seines eigenen Erlebens des "Neuen Bayreuth" und des Jahrhundert-Rings.

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Ich scheine ja hier mit meiner Position zum notwendigen Kenntnisstand eines Kritikers auf nicht sooo viel Gegenliebe zu stoßen. :D Doch ganz im Ernst: ich bleibe dabei - zur Beurteilung eines hier und heute stattfindenden Konzerts oder einer hier und jetzt publizierten Aufnahme muß man zumindest in wesentlichen Zügen den Materialstand kennen. Soll heißen: allein schon, um dem interssierten Leser eine Einodnung zu ermöglichen, sollte man in der Lage sein zu verdeutlichen, ob der Interpret gewissen Trends, vielleicht sogar Modeerscheinungen gefolgt ist oder aber ob die Interpretation eher herkömmlich, klassisch, vielleicht sogar bewußt altmodisch war/ist.

    Wenn ich Kaisers Pianistenbuch richtig in Erinnerung habe (es ist sehr lange her, dass ich es gelesen habe), dann versucht er darin gerade jeden besprochenen Pianisten in seiner eigenen, künstlerisch ganz und gar persönlichen Spielweise zu verstehen und zu beschreiben. Der wertende Vergleich mit anderen spielt letzten Endes kaum eine Rolle sondern dient allenfalls gelegentlich zur präziseren Charakterisierung. Gerade dieser Ansatz überzeugte mich seinerzeit, weil er den Einzelnen künstlerisch wirklich ernst nimmt, und weil er viel mehr der - immer subjektiven - künstlerischen Wahrheit des Einzelnen entspricht als das übliche Punkte- und Ranglisten-System. Ich habe mit Studenten öfter mal Einspielungen einzelner Werke verglichen und dabei festgestellt, dass es den meisten sehr schwer fällt, ein fundiertes Urteil abzugeben, ohnemit einer zweiten Aufnahme zu vergleichen. Ab der zweiten Einspielung sprudeln die "Meinungen" nur so, bei einer einzigen, nur mit der Paritur in der Hand, fällt das wesentlich schwerer (wenn es mal ein Capriccio-Treffen gibt, sollten wir das mal ausprobieren...). Genau das ist aber Kaisers Ansatz, wenigstens soweit ich ihn in Erinnerung habe, und der ist der Entstehung einer Interpretation meiner Meinung und Erfahrung nach sehr angemessen: Ich erwarte von einem Interpreten, dass er nicht "Trends" oder "Modeerscheinungen" folgt, sondern seinen, aus akribischer Beschäftigung mit der Partitur und weiteren relevanten Informationen gewonnenen Einsichten. Entsprechend sollte ein Kritiker die Interpretation an ihrer eigenen Stimmigkeit, zunächst nicht im Vergleich mit anderen, wahrscheinlich unter ganz anderen Voraussetzungen entstandenen, Darstellungen bewerten. Auch wenn ich wahrlich mit Kaiser nicht immer einer Meinung bin, schätze ich an seinen Rezensionen gerade diese Ernsthaftigkeit, mit der er sich auf den Einzelnen einlässt, ohne "Trends" zum Maßstab zu nehmen.

    Viele Grüße,

    Christian

  • Lieber Christian,

    vieles von dem, was Du schreibst, unterstütze ich voll und ganz, und es ist sehr interessant, die Sicht eines Profis auf die Arbeitsweise eines Kritikers zu lesen. Die Ernsthaftigkeit und Detailliertheit, mit der Kaiser Interpretationen und Künstler bespricht, ist sicherlich bewundernswert. Er vergleicht dabei übrigens durchaus, allerdings weniger im Sinne eines Rankings, sondern eher, um die Verschiedenartigkeit möglicher Ansätze zu verdeutlichen.

    Trotzdem habe ich mich - bei dem sicherlich fabelhaft geschriebenen und von umfangreicher Kenntnis geprägten - Pianistenbuch seinerzeit etwas veräppelt gefühlt. Da steht als Autor Joachim Kaiser drauf, und der bespricht dann auch - aber fast ausschließlich bereits verstorbene Pianisten! Die Ergänzung um die Jetztzeit hingegen hat ein Co-Autor besorgt - warum nicht der Meister selbst? Keine Zeit? Kein Interesse? Keine Kenntnis der betreffenden Künstler? Etwas ähnlich ging es mir mit der Beethoven-Reihe im Rundfunk vor ein paar Jahren - fast keine aktuellen Künstler (Ausnahme: Barenboim). Bei den "Vier Jahreszeiten" empfielt er die Aufnahme Mutter/Karajan (ernsthaft!). Sicherlich, Kaiser bespricht das, was er kennt, absolut virtuos, er ruft große Künstler der Vergangenheit in Erinnerung, aber irgendwie wirkt das alles inzwischen ob des geradezu demonstrativen Desinteresses am Hier und Jetzt etwas angestaubt auf mich. Trotzdem lese ich seine Sachen gerne, ob seines wunderbaren Ästhetizismus, seiner Formulierungskunst und seiner umfangreichen Bildung!

    LG :wink:

    P.S.: Beim Vergleichshören bei einem evtl. Capriccio-Treffen würde ich gerne mitmachen! :thumbup:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

Jetzt mitmachen!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!