
Im November 1943 begegneten sich Béla Bartók und der 27-jährige Geiger Yehudi Menuhin erstmals persönlich anlässlich eines Recital des Geigers in der New Yorker Carnegie Hall. Menuhin, der seit 1936 in Kalifornien lebte, bereits einige ausgedehnte Konzerttourneen absolviert hatte und bestens etabliert war, trug zusammen mit seinem Klavierpartner Adolf Baller dem Komponisten privat dessen erste Violinsonate vor, die beim Carnegie-Recital neben u. a. der Solo-Sonate Nr. 3 in C-Dur BWV 1006 von J. S. Bach auf dem Programm stand. Noch am gleichen Nachmittag regte Menuhin Bartók an, für ihn eine Violinkomposition zu schreiben.
Bartók war 1940 in die USA emigriert, dort aber weder emotional angekommen noch als Komponist von Rang wahrgenommen. Damit befand er sich auch finanziell in einer prekären Situation, war zudem an Leukämie erkrankt. Erst ab 1943 hatte sich durch die Unterstützung einer Kurbehandlung seiner Erkrankung durch die amerikanische Komponisten-, Autoren- und Verlegervereinigung sowie durch mehrere Kompositionsaufträge, u. a. für das Konzert für Orchester durch Sergei Kussewizki und das – dann nicht vollendete – Bratschenkonzert durch William Primrose, eine gewisse Besserung seiner Lage ergeben. Menuhins Kompositionsauftrag dürfte ein weiterer Grund für vorübergehenden Optimismus gewesen sein. Bartók vollendete die Solosonate, seine letzte abgeschlossene Komposition überhaupt, wohl innerhalb dreier Wochen in Februar und März 1944. Menuhin brachte die Sonate am 26. November 1944 in der Carnegie Hall zur Uraufführung.
Bartók wollte sich bis zur Uraufführung mit Menuhin noch über die Spielbarkeit mancher Passagen austauschen. Nach Ausbleiben einer Antwort des Geigers auf einen entsprechenden Brief besprach er die Sonate mit Rudolf Kolisch, einem bereits 1937 in die USA emigrierten Wiener Geiger, der sich stark für die Verbreitung der Musik der Neuen Wiener Schule einsetzte und auch Bartóks Werke auf seinen Solo- und Quartettprogrammen hatte. Kolisch hielt die Sonate für schwierig, aber machbar, im Gegensatz zu Menuhin, der die Sonate beim ersten Durchsehen der Sonate im März 1944 das Werk zunächst für unspielbar befunden hatte.
Bartók bot Menuhin dann u. a. an, die vorgesehenen Passagen mit Vierteltönen im letzten Satz beim Vortrag durch Halbtöne zu ersetzen, da die Vierteltöne lediglich farb-, nicht strukturgebend seien, und erarbeitete Alternativen für manche Doppel- und Mehrfachgriffe. Menuhin seinerseits ergänzte nach Bartóks Anpassungen nur noch einige Vorschläge für Detailänderungen. Später bezeichnete er die Sonate als „eminently playable, beautifully composed for the violin, one of the most dramatic and fulfilling works that I know of, [the] most important composition for violin alone since Bach“.
Die erste Druckausgabe der Sonate durch Menuhin erfolgte – nicht legitimiert durch den Komponisten – ohne die Viertelton-Variante und zeigte noch weitere Abweichungen vom Original. Kolisch war 1955 der erste, der die Vierteltonversion aufführte.
Das Werk hat vier Sätze:
1. Tempo di ciaconna
2. Fuga
3. Melodia
4. Presto
Bartók machte für alle Sätze wie gewohnt sehr detaillierte Metronomangaben, auch für Tempowechsel innerhalb der Sätze. Die aus diesen Vorgaben berechnete und in der Partitur der Urtext-Edition von Peter Bartók vermerkte Aufführungsdauer beträgt 23 Minuten und 35 Sekunden.
In den Satzbezeichnungen nimmt Bartók in den ersten beiden Sätzen Bezug zu Bach.
„Ciaconna“ ist allerdings keine Aussage bezüglich der Form, sondern als eine Beschreibung der gewünschten Auffassung von Stimmung und Tempo des Satzes zu verstehen. Der Kopfsatz ist in Sonatenform angelegt. Der erste Themenkomplex mit seinem Sarabanden-Rhythmus und der zweite mit einer Melodie über einen längeren a‘-Orgelpunkt sind ebenfalls klar mit barocken Vorbildern assoziiert, der dritte Themenkomplex mit einer Neuntonmelodie ohne Tonwiederholungen weist hingegen eher in Richtung der Neuen Wiener Schule.
Das Thema der Fuga „erforscht“ von der Kleinterz-Keimzelle c‘-es‘ ausgehend den Tonraum von h bis g‘. Es folgt eine vierstimmige Fuge mit mehreren Zwischenspielen und Durchführungen. Wie bei Bartók immer wieder anzutreffen, schließt der Satz mit dem kurzen Statement der Motiv-Keimzelle im ff. „Aggressivere, brutalere Musik habe ich in meinem Leben vielleicht noch nicht gespielt“, meinte Menuhin seinerzeit.
Die Melodia in dreiteiliger Liedform mit choralartigem Mittelteil kontrastiert A- und A‘-Abschnitt v. a. auch durch die unterschiedliche Lage. Der Satz beginnt auf der G-Saite, das Thema wird im A‘-Teil dann zwei Oktaven höher wiederholt, der Satz schließt mit künstlichen Flageoletts im Diskant.
Im Presto schließlich wechseln sich vorwiegend ein motorischer Sechzehntel-Ostinato-Komplex und verfremdet folkloristische Abschnitte ab. In den Ostinato-Passagen kommen dabei die besagten Vierteltöne zum Einsatz. Das Werk schließt mit einer crescendierenden chromatischen Sechzehntelskala über drei Oktaven und einem G-Dur Schlussakkord im ff ziemlich affirmativ.
Die Sonate verlangt dem Interpreten einiges an technischen Fertigkeiten ab, ob es nun Doppel- und Vielfachgriffe (für den im Original verlangten Doppelgriff as-as‘‘ in der Fuga in T. 65 z. B. benötigt man schon eine ordentliche Handspannweite), Doppelgriffskalen, künstliche, teils mehrstimmige Flageoletts, polyphones Spiel überhaupt oder eben die Vierteltöne sind.
Sz. 117 ist eines der prominenten Solowerke für Streicher der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Die Solosonate für Streicher hatte nach einer längeren Phase des Stillstands im 19. Jahrhundert ja erst etwa ab der Jahrhundertwende mit den Reger-Sonaten, später mit Ysaÿes Op. 27 wieder an Bedeutung gewonnen.
Beeindruckend für mich sind wie so oft bei Bartók wieder einmal die starken Kontraste, etwa in der Stimmung zwischen, aber auch der Themen innerhalb der Sätze, und die auf mich so wirkende formale Strenge und Geschlossenheit. Das Stück ist für mich trotz dieser attraktiven Eigenschaften keine leichte Kost und steht nicht so oft auf dem Hörprogramm wie verdient. Allerdings betrifft das bei mir auch andere Sololiteratur für Streicher, so dass es wahrscheinlich nicht an der Sonate selbst liegt.
Auf Eure Eindrücke und Empfehlungen zu Aufnahmen bin ich wie immer gespannt.
Quellen:
Urtextausgabe der Partitur (von Peter Bartók, Boosey and Hawkes 1994)
Dissertation über Spieltechniken in Sz. 117
Übersicht zum Aufbau
Einführung unter besonderer Berücksichtigung der Quellenlage
Wikipediaseiten zu Bartók und Menuhin