Ihrer Zeit weit voraus?

  • Also

    Zitat

    Mein Ausgangspunkt ist, dass ich bei manchen Werken denke, "meine Güte, das rockt ja heute noch sowas von" oder so ähnlich, und denke dann, wie das wohl früher auf die Menschen gewirkt haben muss.

    Hat offenbar nicht besonders auf die Menschen gewirkt, früher. Konfus, zusammenhanglos, kunstlos, verkopft ... vielleicht so, wie Zwölftonmusik auf Dich wirkt.
    ;)

    This play can only function if performed strictly as written and in accordance with its stage instructions, nothing added and nothing removed. (Samuel Beckett)
    playing in good Taste doth not confit of frequent Passages, but in expressing with Strength and Delicacy the Intention of the Composer (F. Geminiani)

  • Das ist aber nun ein anderes Argument als "es rockt". Die Fuge wirkte "chinesisch" oder "marokkanisch", also exotisch und unverständlich.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Verstehe ich nicht. Deswegen schrob ich ja "a posteriori". Mit "rockt" meine ich nicht notwendig Rockmusik.

    Was dann? Begeistert? Das hat aber nichts mit modern zu tun - mich begeistert viele Musik, ohne deshalb zu meinen, sie sei besonders modern, weil sie schon so alt ist, und immer noch begeistert.

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  • Das ist aber nun ein anderes Argument als "es rockt". Die Fuge wirkte "chinesisch" oder "marokkanisch", also exotisch und unverständlich.

    Mich begeistert die Große Fuge in ihrer Radikalität und Modernität schon, also in dem Sinne "rockt". Das war ja offenbar für die damaligen Hörer undenkbar. Mit "chinesisch" war wohl eher "wie chinesisch" gemeint, also im Sinne von "völlig unverständlich", nicht im Sinne von traditioneller chinesischer Musik.

    maticus

    Social media is the toilet of the internet. --- Lady Gaga

    Ich lieb‘ den Schlaf, doch mehr noch: Stein zu sein.
    Wenn ringsum nur Schande herrscht und nur Zerstören,
    so heißt mein Glück: nicht sehen und nicht hören.
    Drum leise, Freund, lass mich im Schlaf allein.
                       --- Michelangelo Buonarroti (dt. Nachdicht. J. Morgener)

  • Was dann? Begeistert? Das hat aber nichts mit modern zu tun - mich begeistert viele Musik, ohne deshalb zu meinen, sie sei besonders modern, weil sie schon so alt ist, und immer noch begeistert.

    Okay, "rockt" allein reicht wohl nicht. Es ist eben alles im Kontext des Threadtitels zu verstehen.

    maticus

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  • Maticus, es ist anhand deiner Beispiele tatsächlich nicht recht klar, ob "weit voraus" einfach noch ein weiteres lobendes Beiwort ist. Es soll doch schon was anderes bedeuten als "begeistert mich sehr", oder?

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    (B. Pascal)

  • Das meiste vom großen Bach ist wohl seiner Zeit weit voraus. Aber wenn schon ein Orgelwerk, so würde ich eher die Fantasie in g-moll BWV 542 nennen...diese Harmonien im Beginn!

    Die schon erwähnte "Fantastique" erstaunt mich auch jedes mal in ihrem Einfallsreichtum und Wagemut, alleine das Oboensolo im ersten Satz ist isoliert betrachtet eigentlich fast schon freitonal, wenn überhaupt.

    Zu nennen ist sicherlich Wagners "Tristan" als quasi Verursacher einer harmonischen Existenzkrise und Wende- bzw. Reibungspunkt in der Musikgeschichte, oder auch Strauss' "Salome". Aber wenn es um die Frage "ihrer Zeit weit voraus" geht, denke ich eher an diejenigen Beispiele, welche gerade keine Nachfolger oder zumindest Nachahmer zur Folge hatten. Werke, die wirklich lange Zeit für sich stehen. Ich persönlich unterscheide hier auch zu handwerklichen Errungenschaften bsplsw. eines Mozart. Jener hat doch eher perfektioniert und nicht revolutioniert?

    Sibelius' "Kullervo" (1892), mitsamt den Schwächen, die es hat, wäre so ein Beispiel. Da kann man zwar schon Petruschka im 4. Satz und den 5/4-Takt aus der "Pathetique" vorgegriffen hören, aber ohne dass sich diese Werke bewusst oder unbewusst aufeinander beziehen. Ach und wer sie nicht kenn, sollte sich einmal die Original-Version von "En Saga" (auch 1892) anhören...wild stuff 8)

    „Music is a nexus. It's a conduit. It's a connection. But the connection is the thing that will, if we can ever evolve to the point if we can still mutate, if we can still change and through learning, get better. Then we can master the basic things of governance and cooperation between nations.“ - John Williams

  • Es soll doch schon was anderes bedeuten als "begeistert mich sehr", oder?

    Ja, natürlich. Ich schrieb ja im letzten Beitrag "Mich begeistert die Große Fuge in ihrer Radikalität und Modernität schon". Vorher schrieb ich irgendwo "meine Güte, das rockt ja heute noch sowas von". Letzteres zum besseren Verständnis aber ersetzen durch "meine Güte, wie modern ist das denn (sogar heute noch)?", natürlich bei einem Werk, welches schon ein gewisses Alter hat.

    maticus

    Nachtrag: Und diese "Modernität" soll halt musikalisch unmittelbar spürbar sein, und nicht indirekt durch eine gewisse Technik wie z. B. 12-Tonmusik. Es soll sich auch für den Laien (relativ) "modern" anhören.

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  • Nur ein Beispiel: die Synkopen im Mondscheinsonatenfinale. Oder das Finale der 7ten. Rockt im Sinne von: der Rhythmus steht in einer Weise im Vordergrund, wie sie erst Populärmusik des 20. Jahrhunderts konsequent fortgeführt hat.

    Witzig, dass Du dieses Beispiel erwähnst. Als ich vor 30 Jahren anfing, Klassische Musik zu hören, ich dann schnell bei Beethovens Klaviersonaten gelandet war und völlig begeistert, wollte ich bei meiner älteren Schwester (die keine Klassik hört), die gerade zu Besuch war, etwas "Werbung" machen und setzte ihr den Kopfhörer mit dem Finale von Beethovens Mondscheinsonate auf, mit dem Hinweis, dass das "fast wie Heavy Metal/Hardrock" (oder irgendwie sowas) sei, was sie mir bestätigte. Offensichtlich gefiel ihr das Stück auch (was allerdings nicht ausreichte, um sie generell zur Klassik zu bringen).

    maticus

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  • Ja, natürlich. Ich schrieb ja im letzten Beitrag "Mich begeistert die Große Fuge in ihrer Radikalität und Modernität schon". Vorher schrieb ich irgendwo "meine Güte, das rockt ja heute noch sowas von". Letzteres zum besseren Verständnis aber ersetzen durch "meine Güte, wie modern ist das denn (sogar heute noch)?", natürlich bei einem Werk, welches schon ein gewisses Alter hat.

    maticus

    Nachtrag: Und diese "Modernität" soll halt musikalisch unmittelbar spürbar sein, und nicht indirekt durch eine gewisse Technik wie z. B. 12-Tonmusik. Es soll sich auch für den Laien (relativ) "modern" anhören.

    Das ergibt für mich leider keinen Sinn ... gerade die sogenannte "klassische Musik" zeigt doch, dass nicht unbedingt die neuesten Sachen die breitere Hörermenge ansprechen. Insofern "rockt" gerade das Alte. Warum soll das dann "modern" sein, "sogar heute noch"?

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  • Und diese "Modernität" soll halt musikalisch unmittelbar spürbar sein, und nicht indirekt durch eine gewisse Technik wie z. B. 12-Tonmusik. Es soll sich auch für den Laien (relativ) "modern" anhören.


    Das verstehe ich nicht. Die meiste dodekaphon gearbeitete Musik klingt doch für die meisten Laien unmittelbar "modern", auch wenn die entsprechende Kompositionstechnik bereits ca. hundert Jahre alt ist. Was ist denn z. B. an Schönbergs Klavierkonzert nicht unmittelbar spürbar "modern" (zumindest in den Ohren der meisten nicht-spezialisierten Hörer)?

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Das ist auch bei "modern klingender" älterer Musik so. Harmonisch "waghalsige" Musik, zB Gesualdo: Moro, lasso, Tristanvorspiel usw. klingt ebenfalls für "naive" Hörer direkt modern. Und das ist m.E. sehr viel spezifischer als viele andere Aspekte. Weil nämlich bestimmte rhythmische Muster, Synkopen, Ostinato, "walking bass" etc. so allgegenwärtig sind seit mindestens 400 Jahren, teils länger, ebenso improvisatorische Variation über Bass oder Harmonieschema, dass "jazzig" älterer Musik sehr häufig nur aufgrund von musikhistorischer Ignoranz zugeschrieben wird.

    maticus. Du hast aber halt andere Werke aufgeführt, wie etwa Mozarts Klarinettenkonzert, die weder für ihre Zeit besonders modern sind noch für einen naiven Hörer modern klingen. Daher mein Problem mit der sehr wenig spezifischen Auszeichnung bestimmter Werke.

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    (B. Pascal)

  • maticus. Du hast aber halt andere Werke aufgeführt, wie etwa Mozarts Klarinettenkonzert, die weder für ihre Zeit besonders modern sind noch für einen naiven Hörer modern klingen.


    Mozarts Klarinettenkonzert würde ich auch unter "seiner Zeit voraus" einordnen, wobei ich mich dabei insbesondere auf den zweiten Satz beziehe. Dieser steht m. E. in einer gewissen Beziehung zu anderen langsamen Sätzen Mozarts, die sich durch eine Übersteigerung des Ausdrucks auszeichnen, die eher für die Romantik als für die Klassik und den galanten Stil typisch ist. Spontan fallen mir dazu noch die langsamen Sätze aus der Sinfonia concertante, aus dem A-Dur-Klavierkonzert KV 488 und der Jupiter-Sinfonie ein. Im Klarinettenkonzert kommt eine gewissermaßen entrückte Stimmung zu, wie man sie m. E. auch im langsamen Satz des Klavierkonzerts KV 595 findet. "Modern" würde ich das sicherlich nicht nennen, aber "über den Stil ihrer Zeit hinausweisend" sind diese Stücke aus meiner Sicht durchaus.

    LG :wink:

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  • Ich habe gerade ein Deja vu, aber die genannten langsamen Mozart-Sätze sind alle total unterschiedlich, so dass ich überhaupt nicht verstehe, warum sie gemeinsam als Beleg für irgendwas genannt werden.
    Der aus der Sinfonia concertante ist zB nicht liedhaft und hat keine "entrückte" Stimmung wie der im Klarinettenkonzert (der hat dafür keine "Übersteigerung des Ausdrucks"). Dass Mozart in diesen Werken keine rein konventionellen 08/15 Stücke liefert, sondern immer etwas besonderes, ist unwidersprochen. Aber ob das nun "10 Jahre seiner Zeit voraus" sein mag oder nicht, finde ich eine müßige *Überlegung, weil das kaum präzise feststellbar ist. Niemand mit einigermaßener Hörerfahrung und Stilgefühl würde einen dieser Mozart-Sätze versehentlich in die 1840er einordnen, was für ein quasi-/protoromantisches Stück zumindest naheliegen müsste.
    Wir sind uns vermutlich einig, dass es sich bei keinem der genannten Stücke um ein auffallend "unzeitgemäßes" Stück wie Beethovens op.133 oder vielleicht das Finale von Chopins b-moll-Sonate handelt.

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    (B. Pascal)

  • Wir sind uns vermutlich einig, dass es sich bei keinem der genannten Stücke um ein auffallend "unzeitgemäßes" Stück wie Beethovens op.133 oder vielleicht das Finale von Chopins b-moll-Sonate handelt.


    Nein, so deutlich aus der Zeit gefallen ist diese Musik natürlich nicht. Aber der langsame Satz des Klarinettenkonzerts ist in seinem musikalischen Idiom näher am langsamen Satz von Beethovens 5. Klavierkonzert als an den meisten "üblichen" langsamen Sätzen zu Mozarts Zeiten. So ca. 20 Jahre Vorgriff in Richtung der Frühromantik (und damit in Richtung der Folgeepoche) kann man da schon ausmachen. Und natürlich gibt es in dem Stück eine Übersteigerung des Ausdrucks, wenn man sich mal ansieht bzw. -hört, wie clever Mozart den A'-Teil gestaltet, um die Stimmung des A-Teils nochmal zu überhöhen.

    LG :wink:

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  • Es ist die Frage, was man denn "unter der Zeit voraus" verstehen möchte. Das ist ja immer erst in der Rückschau möglich.

    Ist es etwas, was heute noch "modern" klingt? Ist das dann u.U. nicht eher (oder auch) eine Frage der Rezeption? Beispiel d-moll-Toccata:

    Oder ist das doch eher eine Konnotation, die sich aufgrund filmmusikalischen o.ä. Einsatzes (mit historisch inkorrekt gespieltem Pralltriller am Anfang) usw. ergeben hat.

    Die ist ja ubiquitär für alles Mögliche in Verwendung (Wie anderes auch - Carmina Burana et alias z.B). Besteht da nicht die Möglichkeit, daß wir aus dem Umstand, es heute zu verwenden falsche Schlüsse ziehen bezüglich einem "der-Zeit-voraus-Sein" in der Vergangenheit? Nebenbei: Damit wäre das Kriterium "der Zeit voraus" völlig subjektiv.

    Oder ist es etwas, was zum Zeitpunkt der Entstehung innovative Elemente enthielt? Ist das dann aber "der Zeit voraus" - oder Teil einer zum Entstehungszeitpunkt gegenwärtigen Entwicklung? War die Erfindung des Automobils, des Dynamos oder des Flugzeugs (zweifellos alles Innovationen - und wir nutzen sie immer noch, s.oben) "ihrer Zeit voraus", oder waren das einfach kreative Leistung "auf der Höhe der Zeit" im Zuge einer normalen Entwicklung? Waren Newton, Einstein Heisenberg, Planck ihrer Zeit voraus, oder eher auf der Höhe der Zeit? Wenn die Existenz innovativer Element bedeutet, daß das entsprechende Objekt seiner Zeit voraus wäre, dann wäre jede beliebige Erfindung ("Erfindung" im weitesten Sinne) jeweils ihrer Zeit voraus! Da wird dann meiner Meinung nach der Begriff sehr inflationär. Der Zeit voraus ist nur ein innovatives Konzept, wenn es erst einmal ignoriert wird, bevor es später irgend wann einmal doch noch aufgegriffen wird. Albrecht Ludwig Berblingers Flugmaschine von 1811 (Stichwort: Schneider von Ulm) ist so ein Beispiel. Wir wissen heute, daß das Gerät flugtauglich gewesen ist, und die damals vorgesehene Donauüberquerung auch heute noch für moderne Drachengleiter kaum zu bewältigen ist. Erst Otto Lilienthal hat die Idee wieder aufgegriffen.

    Oder ist es das Vorhandensein von Elementen, die wir gewohnt sind, in einer späteren Zeit zu finden? Dazu putto:

    Wenn Dich das heute rockt, dann offenbar, weil es Dich an Rockmusik erinnert. Das hat früher nicht funktioniert, da die Leute keine Rockmusik kannten. Ebenso mit der Jazz-Assoziation. Das sind sozusagen false friends.

    Was klingt denn "jazzig"? Synkopen, Swing Style, Walking Bass? Man könnte es auch andersherum begründen: Die genannten Elemente finden wir z.B. auch in der französischen Barockmusik ("Swing Style" heißt dort "Inégalité") - sogar wenn direkte Einflüsse auf den Jazz über lokale Musiktraditionen im frankophonen Süden der USA nicht exstieren sollten, bleibt der Umstand, daß derartige Stilelemente auch bereits in der Alten Musik, und zwar bereits zu einem vergleichbar frühen Zeitpunkt wirksam waren. Ist es daher nicht eine nachträgliche Konstruktion, wenn uns heute etwas "jazzig" klingt, was vor Jahrhunderten in Europa geschrieben wurde (oder romatisch, was in der Wiener Klassik entstand etc.)? Ich höre etwas, was ich von etwas Anderem, Neuerem kenne und deswegen wäre das "Alte" seiner Zeit voraus? Klingt nicht der Anfang von Telemanns Brockes-Passion wie später Haydn - ist er daher seiner Zeit voraus?) Wäre auch eine eine derartige Einschätzung nicht rein subjektiv?

    Daß etwas "modern" klingt, heute noch "rockt" oder Assoziationen an Späteres weckt ist also nur subjektives Empfinden - und Innovatonen, die unnmittelbar aufgegriffen werden, sind nicht ihrer Zeit voraus. Was ist dann aber "seiner Zeit voraus"? Doch etwas, wo die Idee sehr viel früher da war, als die Realisation. Oder die Realisation erst einmal nur vorrübergehend stattfand. In der Rechtsgeschichte findet man so etwas. Beispiel: Das frischgebackene Königreich Bayern hat im Gegensatz zu anderen deutschen Staaten Anfang des 19.Jhs in seinem Strafgesetzbuch den "Unzuchts"-Paragraphen gestrichen, weil der Staat nicht Hüter der Moral seiner Bürger sein wollte. Zwei Generationen später wurde er mit Reichsgesetz wieder eingeführt und erst 1995 wieder abgeschafft - fast 2 Jahrhunderte später. In die Kunst - und damit auch in der Musik - ist diese Definition aber nicht so einfach übertragbar, da sich die Idee zu einem Kunstwerk üblicherweise in dessen Realisation manifestiert. Da kann ein Kunstwerk (oder ein Künstler) nur insoweit seiner Zeit voraus sein, als eine Idee zwar existiert, d.h. beschrieben oder ausgeführt wird, aber allgemein erst sehr viel später wieder aufgegriffen wird. Konstruiertes Beispiel: Irgend jemand hätte bereits irgendwann im frühen 19.Jh. so etwas wie Zwölftonmusik gemacht - oder das zumindest theoretisch beschrieben: Das wäre dann seiner Zeit voraus gewesen, weil es sich ja nicht durchgesetzt hätte und erst im 20. Jh. darauf zurückgegriffen worden wäre.

    Also: wo finden wir so etwas im Sinne des Thread-Starters?
    mir fällt da, ehrlich gesagt, nichts ein...

    [Satiremodus]
    Doch halt: Wagners "unendliche Melodie" ist eigentlich genau das, was wir bei der frühen Oper, speziell der französischen, bereits im 17 Jh. hatten. Die wäre dann unter diesem Gesichtspunkt ihrer Zeit weit voraus gewesen - oder Wagner hätte in Unkenntnis der historischen Entwicklung etwas wiedererfunden, was vor langer Zeit bereits anderen Formen gewichen war und seine Apologeten hätten in der gleichen Unkenntnis diese Neuerfindung bejubelt....
    :versteck1:
    Dann hätten die Welschen das Primat hier - nein, das kann nicht sein... :versteck1: :versteck1:
    [/Satiremodus]

    viele Grüße

    Bustopher


    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • Noch eine Überlegung:
    Wenn es in der Kunst etwas wie "ist seiner Zeit voraus" gibt, muß es dann nicht zweifellos auch so etwas wie "Aktualität" in der Kunst geben? (Daß es das im KunstMARKT gibt, ist keine Frage! Hier geht es aber um das Kunstwerk als solches.) Verträgt sich das mit einem Konzept, in dem jedes Kunstwerk seine Berechtigung in sich selbst trägt? Und was ist dann mit "unaktuellen" Kustwerken, die dann ja zwingend ebenfalls existieren müssen?

    viele Grüße

    Bustopher


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    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • Das ist ja immer erst in der Rückschau möglich.

    Ebend! "A posteriori"!

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    Drum leise, Freund, lass mich im Schlaf allein.
                       --- Michelangelo Buonarroti (dt. Nachdicht. J. Morgener)

  • Zitat

    Ist es daher nicht eine nachträgliche Konstruktion, wenn uns heute etwas "jazzig" klingt, was vor Jahrhunderten in Europa geschrieben wurde (oder romatisch, was in der Wiener Klassik entstand etc.)? Ich höre etwas, was ich von etwas Anderem, Neuerem kenne und deswegen wäre das "Alte" seiner Zeit voraus? Klingt nicht der Anfang von Telemanns Brockes-Passion wie später Haydn - ist er daher seiner Zeit voraus?) Wäre auch eine eine derartige Einschätzung nicht rein subjektiv?

    ist es nicht auch das: Man vergleicht etwas Bekanntes mit etwas Unbekanntem und findet Analogien. Ist das Bekannte das Ältere, nennt man das Vorbild. Ist das Bekannte aber das Neuere, sind die Analogien im Älteren der Zeit voraus.

    viele Grüße

    Bustopher


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    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • Mozart Klarinettenwerke hatte ich genannt, nicht weil sie vielleicht hyper-revolutionär sind, sondern weil die Klarinette ein damals noch ganz neues und unfertiges Instrument war. Mozart war ja einer der ersten, die überhaupt für dieses Instrument geschrieben haben. Und er hat den Charakter der Klarinette offenbar sofort verstanden. Das Konzert und das Quintett gelten noch heute bei Klarinettisten als die absoluten Heiligtümer. Auch Brahms hat wunderbare Klarinettenmusik geschrieben, aber geht diese, 100 Jahre später, über Mozart hinaus?

    Zudem geht das Klarinettenkonzert (2. Satz) ja heute noch als brauchbare Filmmusik durch. Es kennen und mögen sehr, sehr viele Menschen, auch welche, die nicht klassik-affin sind. Und ist diesen Menschen allen bewusst, dass die Musik schon 200 Jahre alt ist?


    maticus

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