Ihrer Zeit weit voraus?

  • Ihrer Zeit weit voraus?

    Mir fallen auf Anhieb viele Stücke ein, bei denen ich denke, "wie extrem modern" sie eigentlich sind, besonders bezogen auf deren Entstehungszeit. Zum Beispiel:

    • Johann Sebastian Bach: Toccata und Fuge in d-Moll, BWV 565. Ein Werk, was ja heute noch als fast modern gelten kann, oder?
    • Wolfgang Amadeus Mozart: Späte Sinfonien, späte Klavierkonzerte; insbesondere die "kleine g-Moll Sinfonie" Nr. 25; oder in Bezug auf ein relativ neues Instrument, einflussreiche Werke mit Klarinette wie das Klarinettenkonzert und das -quintett, sowie die Gran Partita.
    • Ludwig van Beethoven: späte Klaviersonaten (etwa Op. 111), späte Streichquartette, die ersten zwei Sätze der Sinfonie Nr. 9.
    • Frédéric Chopin: Klaviersonaten Nr. 2 und Nr. 3.

    Mich interessiert die Frage, inwieweit diese oder andere (klassische, barocke, romantische, ...) Werke ihrer Zeit tatsächlich (weit) voraus waren (oder eher nicht), und inwieweit sie sogar heute noch einen quasi-modernen Status aufrechterhalten können. Die Nennung von weiteren Werken, die dafür in Frage kommen, ist dabei natürlich sehr gewünscht. Was sind hier Extrembeispiele?


    maticus

    Social media is the toilet of the internet. --- Lady Gaga

    Ich lieb‘ den Schlaf, doch mehr noch: Stein zu sein.
    Wenn ringsum nur Schande herrscht und nur Zerstören,
    so heißt mein Glück: nicht sehen und nicht hören.
    Drum leise, Freund, lass mich im Schlaf allein.
                       --- Michelangelo Buonarroti (dt. Nachdicht. J. Morgener)

  • Was soll denn an der (vielleicht gar nicht von oder nur im Arrangement von) Bach-Toccata "modern" sein?

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Was soll denn an der (vielleicht gar nicht von oder nur im Arrangement von) Bach-Toccata "modern" sein?

    Ich finde sie modern. :)

    Aber genau so eine Diskussion fände ich interessant. Argumente für oder wider.


    maticus

    Social media is the toilet of the internet. --- Lady Gaga

    Ich lieb‘ den Schlaf, doch mehr noch: Stein zu sein.
    Wenn ringsum nur Schande herrscht und nur Zerstören,
    so heißt mein Glück: nicht sehen und nicht hören.
    Drum leise, Freund, lass mich im Schlaf allein.
                       --- Michelangelo Buonarroti (dt. Nachdicht. J. Morgener)

  • Johann Sebastian Bach: Toccata und Fuge in d-Moll, BWV 565. Ein Werk, was ja heute noch als fast modern gelten kann, oder?

    Bach oder von wem auch immer - allenfalls tauglich als Untermalung für irgendwelche Werbespots oder Filmsequenzen oder bestenfalls rückwärts gespielt, sozusagen als ganz nett anzuhörende Improvisation, insoweit durchaus modern.

  • Bach oder von wem auch immer - allenfalls tauglich als Untermalung für irgendwelche Werbespots oder Filmsequenzen oder bestenfalls rückwärts gespielt, sozusagen als ganz nett anzuhörende Improvisation, insoweit durchaus modern.

    Naja, das ist jetzt die zynische Variante einer Antwort. Aber mal jenseits von diesen Stereotypen, mehr intrinsisch gedacht...?

    maticus

    Social media is the toilet of the internet. --- Lady Gaga

    Ich lieb‘ den Schlaf, doch mehr noch: Stein zu sein.
    Wenn ringsum nur Schande herrscht und nur Zerstören,
    so heißt mein Glück: nicht sehen und nicht hören.
    Drum leise, Freund, lass mich im Schlaf allein.
                       --- Michelangelo Buonarroti (dt. Nachdicht. J. Morgener)

  • Als prominentes Beispiel fällt mir der Hexensabbat aus Berlioz' Symphonie fantastique (1830) ein, vor allem wegen der weit vorwärts weisenden Instrumentation und der Orchesterfarben.

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Interessantes Thema, danke. Allerdings gibt es viele Fragen, die, unterschiedlich beantwortet, zu unterschiedlichen Beiträgen führen können.

    Seiner Zeit voraus ist ein Werk, das seinerzeit noch nicht auf empfängliche Umstände traf, später aber schon. Damit scheiden Werke aus, die sofort Erfolg hatten, wie die Spätwerke Mozarts (ich hätte das Streichtrio genannt). Zu denken ist an Mahlers "Meine Zeit wird kommen." Schwierig ist, wann die Zeit gekommen ist. Wenn es Erfolg hat? Bei wem? Bei Experten oder beim Publikum?


    Extrem modern ist ein Werk, das ... schwierig, seiner Zeit in besonderem Maße voraus ist? Oder ist modern im Sinne von zeitgenössisch, also auf dem heutigen Stand der Komposition gemeint. Dann dürften alle oben genannten Werke ausscheiden.

  • Interessantes Thema, danke. Allerdings gibt es viele Fragen, die, unterschiedlich beantwortet, zu unterschiedlichen Beiträgen führen können.


    Aller Varianten sind denkbar und "erlaubt", bei entsprechender Erläuterung.

    Zitat

    Extrem modern ist ein Werk, das ... schwierig, seiner Zeit in besonderem Maße voraus ist? Oder ist modern im Sinne von zeitgenössisch, also auf dem heutigen Stand der Komposition gemeint. Dann dürften alle oben genannten Werke ausscheiden.

    Auch hier: es kann aus heutiger Sicht, aber auch aus damaliger Sicht bewertet werden (das kann zu unterschiedlichen Ergebnissen führen!). Und es ist unabhängig davon, ob es zur Zeit der Veröffentlichung erfolgreich war oder nicht. (Man kann sich ja vorstellen, dass gerade Werke, die "ihrer Zeit weit voraus" waren, nicht populär waren.)

    maticus

    Social media is the toilet of the internet. --- Lady Gaga

    Ich lieb‘ den Schlaf, doch mehr noch: Stein zu sein.
    Wenn ringsum nur Schande herrscht und nur Zerstören,
    so heißt mein Glück: nicht sehen und nicht hören.
    Drum leise, Freund, lass mich im Schlaf allein.
                       --- Michelangelo Buonarroti (dt. Nachdicht. J. Morgener)

  • Das Fragezeichen im Titel steht auch dafür, ob es Werke gibt, die modern scheinen, es aber nicht "sind".

    maticus

    Social media is the toilet of the internet. --- Lady Gaga

    Ich lieb‘ den Schlaf, doch mehr noch: Stein zu sein.
    Wenn ringsum nur Schande herrscht und nur Zerstören,
    so heißt mein Glück: nicht sehen und nicht hören.
    Drum leise, Freund, lass mich im Schlaf allein.
                       --- Michelangelo Buonarroti (dt. Nachdicht. J. Morgener)

  • Naja, das ist jetzt die zynische Variante einer Antwort. Aber mal jenseits von diesen Stereotypen, mehr intrinsisch gedacht...?

    maticus

    Nun, hinsichtlich Orgelmusik denke ich z.B. an Olivier Messiaen möglicherweise als Anreger zeitgenössischer Improvisatoren. Und Nachfolger mit Blick auf seine Musiksprache vermag ich auf Anhieb nicht zu erkennen (auch nicht Naji Hakim als sein Trinité-Nachfolger), insoweit mag er vielleicht seiner Zeit tatsächlich weit voraus gewesen sein oder eben doch jemand, der in seiner Art Musik zu komponieren, einzigartig gewesen ist. Darüber kann man in der Tat gelegentlich einmal nachdenken. Insoweit danke ich Dir für Deinen Thread, lieber maticus.

  • Klassiker sind wohl

    - Beethoven, Große Fuge B-Dur op. 133
    - Liszt, Bagatelle sans tonalité
    - Bruckner, Sinfonie Nr. 9, langsamer Satz, Tredezimakkord
    - Strawinsky, Le Sacre du printemps

    Wegen Haydns op. 76 zitiere ich mich einfach mal selbst:

    Etliche Sätze tragen weisen weit über ihre Zeit hinaus: Die Menuette aus Nr. 1 und Nr. 6 nehmen mit ihrer „Presto“-Tempovorschrift bereits den beethovenschen Scherzotyp vorweg, der Kopfsatz von Nr. 5 ist eine vorbildlose Kombination von Sonaten- und Variationsform, das Fis-Dur-Adagio im selben Quartett scheint langsame Sätze des späten Beethoven vorzuahnen, der Kopfsatz von Nr. 6 darf als Prototyp der erst später prominent verwendeten Form „Variationen und Fuge“ gelten, im langsamen Satz von Nr. 6, bezeichnenderweise mit „Fantasia“ überschrieben, verzichtet Haydn der komplexen Harmonik wegen anfangs auf das Angeben einer Tonart durch Setzen von Vorzeichen – und dies bei einem Beginn in H-Dur. Erst im 20. Jahrhundert haben Komponisten es wieder so gehandhabt. In diesem Satz mit seinen einsamen Monologen und seiner strengen Fuge wurde nicht nur eine Vorahnung des späten Beethoven, sondern sogar der Zweiten Wiener Schule erkannt.


    Gruß
    MB

    :wink:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Den fertiggestellten Satz aus Mahlers 10. Sinfonie und die 4. Sinfonie von Charles Ives möchte ich nennen.

    Mit der Radikalität von Beethovens Großer Fuge können beide Werke - und diverse andere bislang genannte - nicht mithalten. Dies gilt vor allem im Hinblick auf die Länge der Zeit, über welche diese Komposition Avantgarde verkörpert hat.

    Rebels Chaos kann zwar schon mithalten. Ich denke aber, dass der Vergleich dennoch hinkt. Denn dieser Beginn stellt eine plakative, ja quasi naturalistische Provokation dar. Er hat mit dem Rest der Komposition wohl nur wenig zu tun. Und gibt es nicht auch für Orgel recht ähnliche Grellheiten?

    :wink: Wolfgang

    He who can, does. He who cannot, teaches. He who cannot teach, teaches teaching.

  • Ich höre gerade ein Werk, was das Gegenteil von alldem ist.
    Die genannten Werke (einige wenige kenne ich überhaupt nicht bzw. müsste sie nochmals hören) haben für mich eines gemeinsam. Sie sind so geschaffen, dass sie außerhalb ihres historischen Kontextes bis heute "Gänsehaut" verursachen können bzw. sollten!
    Dazu zählen würde ich wweiterhin die Kern-Werke von Franz Schubert, insbesondere das h-moll-Sinfoniefragment und die große C-Dur-Sinfonie.
    Mit Sicherheit wird man bei zahlreichen Werken Arnold Schönbergs fündig! In den Jahren ist unendlich viel passiert.

    En Seitenthema wäre auch die frühe Integration des Jazz in die klassische Musik. Aber ich nehme an, dass es dem Threaderöffner nicht darum geht. Zudem gibt es Entwicklungen, die mehr oder weniger "in der Luft" liegen, und von vielen Künstlern zur gleichen Zeit aufgenommen werden: Erweiterung der Tonalität, Aushöhlen der Tonalität, Atonalität, Zwölftontechnik, Mikrointervallik, Minimalistik usw.

    LG, Kermit :wink:

    Es ist vielfach leichter, eine Stecknadel in einem Heuhaufen zu finden, als einen Heuhaufen in einer Stecknadel.

  • Ein Problem ist ja, dass tatsächlich alle diese Werke in ihrer jeweiligen Zeit geschrieben wurden. In einem trivialen Sinne sind sie also genauso in ihrer Zeit wie konventionellere Stücke. :D
    Ein weiteres ist, dass man oft einen verzerrten Eindruck der jeweiligen Zeiten hat, weil man nur so wenige Werke präsent hat. Rebels "Chaos" ist vielleicht so ein Fall. Manieristisch-naturalistische Experimente waren dieser Zeit eben keineswegs fremd. Bibers Tierstimmen oder polytonale betrunkene Musketiere, Vivaldis bellender Hund usw. Auch Purcells "Cold Genius" orientiert sich vermutlich an einem (allerdings in meinen Ohren deutlich "harmloseren" Chor) von Lully. Und manche Dinge gibt es schon analog in Renaissance-Madrigalen.
    Gerade die Musik vor ca. 1600 ist den meisten von uns (mich ganz sicher eingeschlossen) genügend unvertraut, um häufig überraschend modern zu wirken. Was gerade bei Musik des MA eben auch mit den alten Stimm- und Tonsatzsystemen und teilweise auch den unumgänglichen Freiheiten moderner Interpreten zu tun hat.
    Fumeux fume ist so ein berühmter Fall aus der Avantgarde um 1400
    "

    Externer Inhalt www.youtube.com
    Inhalte von externen Seiten werden ohne deine Zustimmung nicht automatisch geladen und angezeigt.
    Durch die Aktivierung der externen Inhalte erklärst du dich damit einverstanden, dass personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu haben wir in unserer Datenschutzerklärung zur Verfügung gestellt.

    Und was meint man mit "weit"? Dass Mozarts Werke vom Ende der 1780er Jahre knapp 20 Jahre in die Zukunft weisen, gerne. Aber ist das weit? Schon 40 Jahre später, also ca. beim Tod Beethovens und Schuberts wäre eine der späten Sinfonien nur als sehr konservativer klassizistischer Versuch durchgegangen. Die Klavierkonzerte wären vermutlich schon in den 1800ern zumindest im Solopart als verbesserungsfähig (zu leicht und dünn) befunden worden.

    Oder Mahlers 9. und 10.? Komponiert 1910-11. "Weit [oder überhaupt] voraus" vgl. mit Weberns opp. 6 und 9, Schönbergs op.16 und "Erwartung" (alles in derselben Zeit komponiert)?
    Verglichen damit eher konservativ, oder?

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Hoffmann-Katers Überlegungen sind sehr relevant. :)

    Zitat von Kater Murr

    Oder Mahlers 9. und 10.? Komponiert 1910-11. "Weit [oder überhaupt] voraus" vgl. mit Weberns opp. 6 und 9, Schönbergs op.16 und "Erwartung" (alles in derselben Zeit komponiert)?

    Das sehe ich genauso. Bei meiner Nennung des Mahler-Fragments dachte ich eigentlich auch nur an den grellen Vielfach-Akkord gegen Ende des Satzes. Der ist schon herzhaft avantgardistisch und wurde erst wieder durch Groß-Cluster überboten - wenn man solche überhaupt als eine Weise des Überbietens ansehen möchte.

    Ich lasse mich aber sehr gerne bezüglich solcher Beispiele belehren, an die ich nicht gedacht habe. :)

    :wink: Wolfgang

    He who can, does. He who cannot, teaches. He who cannot teach, teaches teaching.

  • Ich finde sie modern. :)

    Weil sie in Stokowskis Orchesterfassung wie "Das Testament des Dr. Mabuse" klingt? ;)
    Die ist völlig im Rahmen anderer Orgelmusik Bachs oder dieser Zeit. Ein bißchen ungewöhnlich ist vielleicht der sehr improvisatorische Eindruck und die "dünne" Fuge, weswegen man ja vermutet, dass es sich ursprgl. um ein Stück für Geige gehandelt haben könnte.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Naja, den Einleitungssatz zu Les Elements würde ich nur als naturalistisch betrachten, wenn wir ihn aus dem Blickwinkel der Thermodynamik betrachten ;) . Dargestellt wird eher ein regelloser, ungeordneter Zustand, Chaos eben. Freilich geht es nachher "normal" weiter, weshalb das Werk natürlich gut rezipiert werden konnte. Erhellender wäre es vielleicht, Stücke zu suchen, die für ihre Zeit sehr ungewöhnlich waren, und weniger Modernität an und für sich zu fordern. So ein Werk wäre z.B. Mendelssohns f-Moll Streichquartett, das wohl das am kompromisslosesten emotionale Kammermusikwerk überhaupt sein dürfte.

    Im Zweifelsfall immer Haydn.

  • George Rochberg Streichquartett Nr. 3

    George Rochberg begann als Serialist. Er war einer der ersten Komponisten, die feststellten, dass der Serialismus eine Sackgasse ist und bestimmte musikalische Inhalte nicht ausdrücken kann. Dies wurde wohl durch den Tod des Sohnes ausgelöst.
    Mit dem 3. Streichquartett von 1972 wendete sich Rochberg von der seriellen Technik ab und schrieb ein Schlüsselwerk der Postmoderne, das vor allem Einflüsse des späten Beethoven und Bartoks verarbeitete.

    Heute schreibt die überwiegende Zahl der amerikanischen Komponisten und auch viele europäische so.

    Toleranz ist der Verdacht, der andere könnte Recht haben.

Jetzt mitmachen!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!