Franz Schubert: Klaviersonate G-Dur, Op. 78, D. 894 - “so dünkt uns doch die Phantasiesonate seine vollendetste in Form und Geist.”
Franz Schuberts späte G-Dur-Klaviersonate D. 894 wurde 1827 veröffentlicht, sie entstand in engem zeitlichen Kontext mit dem letzten Streichquartett, ebenfalls in G-Dur. Der Herausgeber Tobias Haslinger hatte für den Druck des Werkes Änderungen am Titel vorgenommen, dabei zunächst auf dem Manuskript “Fantasie, Andante, Menuetto und Allegretto” notiert, in einer Zeitungsanzeige “Fantasie, Andante und Allegretto für das Pianoforte allein von Franz Schubert” drucken lassen und die Druckausgabe schließlich mit “Fantasie oder Sonate” betitelt.
In zeitgenössischen Rezensionen des Werkes wurden mal der Kopfsatz, mal die ganze Sonate als “Fantasie” angesprochen. Später bezeichnete aber auch Robert Schumann das Werk als “Phantasiesonate”, Liszt sprach in Ausblick auf seine anstehende Neuedition in einem Brief im Jahr 1868 über die G-Dur-Sonate sogar nur von einer “Phantasie” und gab sie 1870 als “Fantasie und Sonate” heraus. Schumann wie Liszt schätzten die G-Dur-Sonate sehr - von Schumann stammt das Zitat in der Überschrift dieses Fadens.
Die Bezeichnung Sonate setzte sich dann mit den ersten kritischen, auf Autographen basierenden Ausgaben durch Breitkopf und Härtel ab 1888 durch. Auch im ersten Deutsch-Verzeichnis 1951 wurde der Begriff Fantasie zumindest noch erwähnt (Sonate, genannt Fantasie …).
Warum hielt sich die Bezeichnung als Fantasie, Synonym für musikalische Freiheit als Gegensatz zur normierten Sonatenform, so lange? Dass es sich bei D. 894 um eine Sonate handelt, ist ja nicht zu bestreiten. Die Erwartungen an die geforderten formalen Aspekte werden erfüllt: das Werk hat vier Sätze (I. Molto moderato e cantabile, II. Andante, III. Menuetto: Allegro moderato - Trio und IV. Allegretto), die in der Abfolge (Sonatensatz, Andante, Menuett, Rondo) dem üblichen Muster der Sonate entsprechen, mehr jedenfalls als es etwa die “Mondscheinsonate” Beethovens (Sonata quasi una fantasia) tut.
Der Kopfsatz beginnt mit einem wunderbaren melancholisch-nachdenklichen, mit seinen Doppelpunktierungen quasi zögernden Thema, das Seitenthema, das im Verlauf noch ausgeziert wird, drängt dann vorwärts und wirkt deutlich optimistischer. In der Durchführung werden einige Krisen durchlitten. Im Andante kontrastieren ein gesanglicher und ein bewegt-dramatischer Abschnitt, vom Ablauf her könnte man den Satz als A-B-A'-B'-A" beschreiben. Das Menuett beginnt unversöhnlich in h-Moll, das Trio ist dagegen äußerst lieblich. Die repetierten Achtel des Menuetts finden dann eine versöhnliche Entsprechung im Rondo, das das Werk alles in allem heiter-gelassen zum Abschluss bringt.
In einem wie ich finde sehr lesenswerten Aufsatz geht die Musikwissenschaftlerin Clare Carrasco auf die “fantastischen” Aspekte der G-Dur-Sonate ein. Sie fokussiert dabei ganz wesentlich von ihr so genannte ”fantasy spaces” als Abschnitte, die einerseits den formalen Sonaten-Ablauf unterbrechen und andererseits einen klammernden Entwicklungsverlauf über mehrere Sätze herstellen.
Im ersten Satz betrifft das die Takte 10 - 16. Nach der ersten Vorstellung des G-Dur-Hauptthemas ereignet sich hier ein Stimmungswechsel. Harmonisch wendet sich Schubert mediantisch nach h-Moll, der Puls ändert sich von den gefühlten Doppelpunktierungen des Hauptthemas auf eine einfache Punktierung, die Dynamik ins dreifache Piano, zudem schreibt Schubert - wohl selten für ihn - den Gebrauch des Pedals vor. “Entrückt” wäre für diese Passage vielleicht passend. In der Reprise wird dieser Abschnitt nicht wiederholt, was seine Inselstellung noch hervorhebt.
Im Andante identifiziert die Autorin die Takte 47 - 49 bzw. 66 - 68 als fantasy spaces. Wieder handelt es sich um ppp-Abschnitte mit gleichzeitiger Änderung von Tonumfang und Tempogefühl, diesmal einer vorübergehenden Entschleunigung. Den dritten und letzten “Fantasieraum” macht Carrasco im Trio des Menuetts in der Ländlerpassage im ppp aus. Wesentlicher Teil ihres Interpretationskonzepts ist eine über die fantasy spaces konzipierte harmonische Entwicklung mit Aufbau und Lösung einer h-Moll-Dur-Spannung innerhalb der G-Dur-Grundharmonik, die im H-Dur-Trio des Menuetts ihren Abschluss findet und die Sätze verklammert, ohne Material motivisch zu zitieren. Ob Carrascos Konzept zwingend ist, mögen die Experten beurteilen. Ich fand die Lektüre jedenfalls erhellend und spannend.
In der aktuellen Werbung zur Bärenreiter-Urtext-Edition liest man über D. 894 “Schuberts heitere, liedhaft-tänzerische G-Dur-Sonate”. Das Werk gilt wohl allgemein als seine heiterste späte Sonate. Ich persönlich erlebe eigentlich nur den letzten Satz als wirklich gelöst und konfliktarm, aber das ist sicher Auffassungssache.
In jedem Fall hat mich die “Phantasiesonate” schon vor langer Zeit beim ersten Hören berührt und fasziniert mich weiterhin, so dass ich es als weder Klavier- noch Schubert-Connaisseur dennoch wage, diesen Thread zu eröffnen..
Auf Eure Ergänzungen bin ich gespannt, zumal man natürlich auch über Aufnahmen trefflich diskutieren kann; allein schon die Tempoauffassung im Kopfsatz (mit Wiederholung liegt hier die Bandbreite der Spieldauern zwischen 15 und 30 Minuten!) wäre vermutlich einen eigenen Faden wert.
Aufsatz von Clare Carrasco
Partituren einschließlich der Erstausgabe von Haslinger