Haben Künstler "mehr zu geben"?

  • Und wenn sie (und das ist jetzt strikt meine eigene Meinung) nichts zu geben imstande gewesen wären, hätten sie erst einmal eine Bedeutung als Mensch gehabt. Und da ist es egal, ob man geben kann oder nicht. Solange man eben nicht nimmt, nämlich Würde, Rechte, Leben etc. eines anderen Menschen, ist es völlig gleichgültig ob man der Menschheit etwas gibt oder nicht, etwas geben könnte oder nicht (was in 100 Jahren sowieso in der Regel vergessen ist). Ein Mensch ist ein Mensch und hat von daher zunächst einen absolut gleichen Wert, eine gleiche Bedeutung. Was auch immer er/sie der Menschheit gibt, geben wird, geben würde.

    Dem stimme ich zu. Und gerade deshalb meine ich, dass es nicht verboten ist, über die Frage zu diskutieren, die irgendwann einmal am Anfang dieser Debatte stand, ob nämlich der/die eine mehr als der/die andere zu geben hat, denn davon hängt ja dann die Würde oder der "Wert" des Menschen gerade nicht ab. Wiesenthal hebt jedenfalls ganz selbstverständlich die besonderen Fähigkeiten des jungen Mannes hervor, um andere mit besonderen Fähigkeiten zu betrauern. Sicherlich hält er deshalb nicht nur besonders befähigte Opfer für trauerwürdig.


    da ist ein Unterschied zu den Äußerungen von du Pré/Barenboim (vorausgesetzt sie stimmen denn so).

    Barenboim bezieht in der engl. Version (im dt. Bericht ist das weggelassen) die "Tragödie" auf das Schicksal der du Pré, auf einen Verlust der musikalische Welt dagegen höchstens implizit:

    Das ist zwar eine andere Perspektive, aber auf denselben Vorgang: Wo jemand etwas "gibt", ist ein anderer, der "nimmt".


  • Das ist zwar eine andere Perspektive, aber auf denselben Vorgang: Wo jemand etwas "gibt", ist ein anderer, der "nimmt".

    richtig, aber die "andere Perspektive" macht eben den - m.E. nicht unerheblichen - Unterschied.

    ---
    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • richtig, aber die "andere Perspektive" macht eben den - m.E. nicht unerheblichen - Unterschied.

    Ich finde das eigentlich selbstverständlich. Man muss sich nur mal vorstellen, Barenboim hätte als direkt Betroffener die andere Perspektive gewählt und die Tragödie nicht auf Seiten seiner Frau sondern auf der des Publikums gesehen, welches mit dem großen Unglück geschlagen wurde, sie nicht mehr hören zu können. Dann könnte man sich ja wohl erst recht über seine Herzlosigkeit echauffieren.

  • Ich finde das eigentlich selbstverständlich. Man muss sich nur mal vorstellen, Barenboim hätte als direkt Betroffener die andere Perspektive gewählt und die Tragödie nicht auf Seiten seiner Frau sondern auf der des Publikums gesehen, welches mit dem großen Unglück geschlagen wurde, sie nicht mehr hören zu können. Dann könnte man sich ja wohl erst recht über seine Herzlosigkeit echauffieren.

    die "persönliche" Tragödie, besser der persönliche Schicksalsschlag - einer von ungezählten - gehört m.E. nicht an die Öffentlichkeit (außer man verarbeitet diese z.B. künstlerisch).

    ---
    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Und da ist es egal, ob man geben kann oder nicht. Solange man eben nicht nimmt, nämlich Würde, Rechte, Leben etc. eines anderen Menschen, ist es völlig gleichgültig ob man der Menschheit etwas gibt oder nicht, etwas geben könnte oder nicht (was in 100 Jahren sowieso in der Regel vergessen ist). Ein Mensch ist ein Mensch und hat von daher zunächst einen absolut gleichen Wert, eine gleiche Bedeutung. Was auch immer er/sie der Menschheit gibt, geben wird, geben würde.

    Möchte ich so, in dieser Formulierung, nicht zu 100pro unterschreiben. Richtig ist, kein Mensch ist wertvoller als ein anderer. Aber ich finde es auch nicht ganz "egal", ob ein Mensch etwas zu geben hat oder nicht. (Und damit meine ich jetzt nicht unbedingt, ein Cellokonzert geben zu können o. ä.) Wir sollten nicht vergessen, dass der Mensch ein soziales Wesen ist, und das definiert sich zum großen Teil auch durch "geben", also durch soziale Interaktion. D. h. aber nicht, dass ich einem Menschen, der nicht oder kaum sozial interagiert, oder dies nicht kann, den Wert als Mensch abspreche.

    Zudem würde ich die Wörter "Wert" und "Bedeutung" hier unterscheiden. Die "Bedeutung" eines Menschen ist m. E. sein Bild in der Gesellschaft, auch z. B. in der Historie. Die "Bedeutung" eines Menschen ist der "Wert" seines Handelns und Schaffens. Dieser "Wert" wird von anderen Menschen bzw. "der" Gesellschaft definiert bzw. beurteilt. Insbesondere ist er subjektiv und stark von temporären geselllschaftlichen Verhältnissen und Moralvorstellungen abhängig. Die "Bedeutung" ist also kein absoluter "Wert". Dagegen darf der "Wert" eines Menschen/menschlichen Lebens niemals in Frage gestellt werden. Allerdings muss man auch sehen, dass diese kulturelle Errungenschaft noch sehr neu ist und auch nur in wenigen Teilen der Welt etabliert ist.

    (Dies ist alles nur meine ganz persönliche Sicht der Dinge. Ich kenne mich in Philosophie, Ethik etc. ansonsten nicht aus.)

    maticus

    Social media is the toilet of the internet. --- Lady Gaga

    Ich lieb‘ den Schlaf, doch mehr noch: Stein zu sein.
    Wenn ringsum nur Schande herrscht und nur Zerstören,
    so heißt mein Glück: nicht sehen und nicht hören.
    Drum leise, Freund, lass mich im Schlaf allein.
                       --- Michelangelo Buonarroti (dt. Nachdicht. J. Morgener)

  • über die Frage zu diskutieren, die irgendwann einmal am Anfang dieser Debatte stand, ob nämlich der/die eine mehr als der/die andere zu geben hat,

    Womit wir dann wieder an dem Punkt wären, beurteilen zu müssen, welche 'Gabe' an die Menschen wertvoller ist.

    :wink: Wolfram

    "Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern." (Samuel Beckett)

    "Rage, rage against the dying of the light" (Dylan Thomas)

  • Aber ich finde es auch nicht ganz "egal", ob ein Mensch etwas zu geben hat oder nicht.

    Wir sind ja gar nicht so weit voneinander entfernt. Ich gehe eigentlich davon aus, dass zunächst jeder Mensch irgendwann irgend einem anderen Menschen (oder Tier) etwas Positives gibt. Klammern wir hier mal die Scheusale der Geschichte aus. Nur manche Menschen sind vielleicht durch körperliche oder auch psychische Gegebenheiten nicht (mehr) dazu in der Lage. Und trotzdem haben sie einen Wert, worüber bei uns ja kein Dissens besteht. ;)

    Zudem würde ich die Wörter "Wert" und "Bedeutung" hier unterscheiden. Die "Bedeutung" eines Menschen ist m. E. sein Bild in der Gesellschaft, auch z. B. in der Historie. Die "Bedeutung" eines Menschen ist der "Wert" seines Handelns und Schaffens. Dieser "Wert" wird von anderen Menschen bzw. "der" Gesellschaft definiert bzw. beurteilt. Insbesondere ist er subjektiv und stark von temporären geselllschaftlichen Verhältnissen und Moralvorstellungen abhängig. Die "Bedeutung" ist also kein absoluter "Wert". Dagegen darf der "Wert" eines Menschen/menschlichen Lebens niemals in Frage gestellt werden. Allerdings muss man auch sehen, dass diese kulturelle Errungenschaft noch sehr neu ist und auch nur in wenigen Teilen der Welt etabliert ist.

    Völlig d'accord.

    :wink: Wolfram

    "Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern." (Samuel Beckett)

    "Rage, rage against the dying of the light" (Dylan Thomas)

  • Wir sind ja gar nicht so weit voneinander entfernt. Ich gehe eigentlich davon aus, dass zunächst jeder Mensch irgendwann irgend einem anderen Menschen (oder Tier) etwas Positives gibt. Klammern wir hier mal die Scheusale der Geschichte aus. Nur manche Menschen sind vielleicht durch körperliche oder auch psychische Gegebenheiten nicht (mehr) dazu in der Lage. Und trotzdem haben sie einen Wert, worüber bei uns ja kein Dissens besteht. ;)

    Also entweder haben alle Menschen diesen nicht tilgbaren positiven Wert, der hier wiederholt als ganz grundlegend für unsere Gesellschaft proklamiert wurde, oder nicht. "Klammern wir hier mal die Scheusale der Geschichte aus" geht nicht. Die "Scheusale der Geschichte" sind auch Menschen. Dass die "Scheusale der Geschichte" auch "irgend einem anderen Menschen (oder Tier) etwas Positives" gegeben hat, scheint mir auch klar, sonst hätten sie es nicht so weit gebracht mit ihrer Karriere. Kandidaten für Menschen, die nie "irgend einem anderen Menschen (oder Tier) etwas Positives" gegeben hätten wären eher Menschen, die entsprechend auch nie irgendwie öffentlichkeitsbekannt wurden. Diesen wird man aber schon gar nicht diesen "Menschlichkeitsgrundwert" absprechen wollen. Die Frage ist eben, ob man den Wert der Taten und den "Menschlichkeitsgrundwert" quasi auf derselben Skala sieht und gegenrechnet - dann kommt mit Sicherheit Mist heraus - oder ob man, wie Kater Murr, davon ausgeht, dass es sich um völlig andere Dinge handelt. Das vorausgesetzt, ist aber die Argumentation "dass zunächst jeder Mensch irgendwann irgend einem anderen Menschen (oder Tier) etwas Positives gibt" Fehl am Platz. Der "Menschlichkeitsgrundwert" kann eigentlich nur vertreten werden, wenn er nicht auf tatsächlich angefallenen Nutz-Erfahrungen basiert, da diese eben auch nicht anfallen oder durch Negativ-Erfahrungen aufgehoben werden können.

    This play can only function if performed strictly as written and in accordance with its stage instructions, nothing added and nothing removed. (Samuel Beckett)
    playing in good Taste doth not confit of frequent Passages, but in expressing with Strength and Delicacy the Intention of the Composer (F. Geminiani)

  • Die allermeisten, also jene Menschen, die beide nicht kennen, werden der Frage in Wahrheit indifferent gegenüberstehen. Wenn man mit Kategorien, also hier Berufen, hantiert, sollte man tunlichst die Verallgemeinerung einer Vorstellung anstreben. Also in diesem Fall: "ist das Erkranken eines Einbrechers immer dem Erkranken eines Chirurgen vorzuziehen"? Hier kann die Antwort nur "nein" heißen. Wenn die Frage lautet: "ist Einbruch immer zu bestrafen und chirurgische Tätigkeit nicht?" kommt übrigens auch ein "nein" raus.

    Passender Zeitungsartikel heute:
    https://diepresse.com/home/ausland/w…-mit-Fachwissen

    This play can only function if performed strictly as written and in accordance with its stage instructions, nothing added and nothing removed. (Samuel Beckett)
    playing in good Taste doth not confit of frequent Passages, but in expressing with Strength and Delicacy the Intention of the Composer (F. Geminiani)

  • Die Nachricht vom willkommenen Einbrecher habe ich heute auch gelesen. :)

    Dazu paßt auch dieser Fall, vor einigen Jahren im Radio gehört: Ein deutscher Literaturprofessor geriet um 1945/46 als Soldat der Wehrmacht in französische Kriegsgefangenschaft und berichtete über seine Erfahrungen im Lager. Es herrschte eine große Not an Nahrung, einige Insassen waren krank und dem Verhungern nahe. Das führte dazu, daß, so berichtete der Akademiker, zu einer Umkehrung der sozialen Hierarchie in der geschlossenen Gesellschaft der Gefangenen. Unter diesen befanden sich auch Kriminelle, die sich gut auf das illegale Beschaffen von Nahrung, Medikamenten u. a. m. verstanden. Sie stahlen und schmuggelten einiges ins Lager und teilten das mit den anderen. Diese Menschen mit krimineller Erfahrung standen in der Hierarchie dort ganz oben, während er, der Professor, sich willig unterordnete: Schließlich half ihm das, am Ende das Lager lebendig und einigermaßen gesund wieder verlassen zu können.

    Der Wert dessen, was Diebe und Schmuggler hier leisteten, war in der besonderen Situation offensichtlich höher als das, was ein Literaturwissenschaftler zu bieten hatte. Was natürlich nichts daran ändert, daß nach dem demokratischen Selbstverständnis unserer Gesellschaft alle Menschen gleich wertvoll sind, das zeigt sich auch an den Menschenrechten, die, zumindest in der Theorie - aber immerhin das! - allen Menschen zukommen.

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Was natürlich nichts daran ändert, daß nach dem demokratischen Selbstverständnis unserer Gesellschaft alle Menschen gleich wertvoll sind, das zeigt sich auch an den Menschenrechten, die, zumindest in der Theorie - aber immerhin das! - allen Menschen zukommen.

    Nö, in den Menschenrechten steht nicht, dass "alle Menschen gleich wertvoll sind".

    This play can only function if performed strictly as written and in accordance with its stage instructions, nothing added and nothing removed. (Samuel Beckett)
    playing in good Taste doth not confit of frequent Passages, but in expressing with Strength and Delicacy the Intention of the Composer (F. Geminiani)

  • Unter diesen befanden sich auch Kriminelle, die sich gut auf das illegale Beschaffen von Nahrung, Medikamenten u. a. m. verstanden. Sie stahlen und schmuggelten einiges ins Lager und teilten das mit den anderen. Diese Menschen mit krimineller Erfahrung standen in der Hierarchie dort ganz oben, während er, der Professor, sich willig unterordnete: Schließlich half ihm das, am Ende das Lager lebendig und einigermaßen gesund wieder verlassen zu können.

    Nicht nur das. Mein Großvater war fast fünf Jahre im KZ und er meinte, die Kapos, welche als Kriminelle einsaßen, waren die menschlichsten von allen. Viele Kriminelle fügen sich nicht in die Gesellschaftsordnung ein. Das kann, wie im Falle des Nationalsozialismus oder des Bolschewismus, bedeuten, dass sie die humaneren Zeitgenossen sind.

    Im Zweifelsfall immer Haydn.

  • Nö, in den Menschenrechten steht nicht, dass "alle Menschen gleich wertvoll sind".

    Das habe ich auch nicht behauptet. Ich mache es mir einfach und zitiere nur den ersten Satz des Wikipedia-Artikels zu "Menschenrechte":

    "Als Menschenrechte werden moralisch begründete Freiheits- und Autonomieansprüche bezeichnet, die jedem Menschen zustehen sollen."

    Das impliziert nach meinem Verständnis die Gleichwertigkeit aller Menschen.

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann


  • Das habe ich auch nicht behauptet. Ich mache es mir einfach und zitiere nur den ersten Satz des Wikipedia-Artikels zu "Menschenrechte":

    "Als Menschenrechte werden moralisch begründete Freiheits- und Autonomieansprüche bezeichnet, die jedem Menschen zustehen sollen."

    Das impliziert nach meinem Verständnis die Gleichwertigkeit aller Menschen.

    Warum sollte es das? Ein Freiheitsanspruch und ein Autonomieanspruch für alle bedeutet doch nicht, dass alle irgendetwas anderes - außer eben den Anspruch - gemeinsam haben.

    This play can only function if performed strictly as written and in accordance with its stage instructions, nothing added and nothing removed. (Samuel Beckett)
    playing in good Taste doth not confit of frequent Passages, but in expressing with Strength and Delicacy the Intention of the Composer (F. Geminiani)

  • Ein Freiheitsanspruch und ein Autonomieanspruch für alle bedeutet doch nicht, dass alle irgendetwas anderes - außer eben den Anspruch - gemeinsam haben.

    Ich glaube, es hakt daran, daß wir über "Wert eines Menschen" unterschiedliche Vorstellungen haben. Sobald dieser "Wert" an etwas anderes gebunden wird wie den Menschen selbst, also an die reine Tatsache des Mensch-Seins, also z. B. an besondere Leistungen, die Menschen erbringen, reden wir nicht mehr über den Wert von Menschen, sondern über deren Handlungen o. ä.

    Das aber gerade tangiert die Menschenrechte nicht: Universalität und Egalität betreffen nun einmal alle Menschen in gleicher Weise. Ein ungleicher, unterschiedlicher Wert von Menschen selbst würde dem widersprechen.

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Die Diskussion nimmt in Teilen zunehmend philosophische Züge an. Daher einige Gedanken von mir in diese Richtung:
    Keineswegs ist es allgemeine Auffassung, dass dem Menschen als solchem ein absoluter Wert zukommt. Erst recht nicht ist dies eine Frage von richtig oder falsch. Vielmehr handelt es sich um eine Bewertung.

    Richtig ist, dass die Auffassung vom absolut geschützten Menschen im deutschen Grundgesetz aufgegriffen und Fundament unserer Rechtsordnung geworden ist. Lesenswert hierzu sind etwa die Ausführungen des BVerfG im Luftsicherheitsgesetz-Fall (Leitsatz 3): https://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen…1bvr035705.html

    Spätestens in der Nachkriegsordnung hatte sich die hierzu gehörige individualistische Auffassung durchgesetzt (ein Mensch, absolut geschützte Würde, Grundrechte). Philosophisch gibt es andere Modelle.

    Ein bekanntes Beispiel ist der Weichenstellerfall bzw. das Trolley-Problem, das gern im Zusammenhang mit dem Utilitarismus diskutiert wird: Du kannst fünf Menschenleben retten, wenn du einen Menschen tötest. Interessanterweise sind sehr viele Menschen bei diesem Experiment nicht mehr auf der Basis des Grundgesetzes. Klar rette ich die – in Summe – vier Leben! Das BVerfG führt aus, dass das Grundgesetz das verbietet: Menschenleben dürfen nicht gegeneinander aufgerechnet werden. Wenn man so will, bedeutet absolut unendlich. Fünfmal Unendlich ist nicht mehr als einmal Unendlich. In Filmen gibt es überdies immer wieder den Helden, der sich opfert, um viele andere zu retten. Uns leuchtet das in diesem Momenten häufig ein. Mit dem BVerfSchG müssten wir sagen: Blödmann. Er rettet nicht mehr, als er opfert.

    Ein anderer Ansatz betont das Soziale des Menschseins. Nach Heidegger beispielsweise ist das Dasein immer schon eingebettet in die Mitwelt. In Heideggers In-der-Welt-sein ist alles mit allem verbunden, gibt es keine isolierten, sondern nur vielfältig, und zwar gerade auch soziale Vernetzungen. Jedes In-der-Welt-sein ist ein Mitsein.

    Das Letztere aufgreifend, kann man mit Bezug auf die Fragestellung und das Ausgangsbeispiel du Pre äußern: Jeder Mensch, der davon spricht, dass er in Bezug auf einen anderen mehr zu geben hat, verkennt das Mitsein. du Pre zum Beispiel sieht sich als Gebende und damit das Publikum als Objekt des Gebens. Völlig falsch, denn damit wird dem vielfältig strukturierten In-der-Welt-sein Gewalt angetan. Oben ist es bereits angeklungen: du Pre konnte nur deshalb herausragend gut Cello spielen weil (hier kann man nahezu endlose Bedingungen einfügen: Weil sie bestimmte Lehrer hatte, ein bestimmtes Cello hatte, ein leistungsförderndes Umfeld hatte, das Cellospiel als solches angesehen war, sie von ihrer Mutter geboren, von ihrem Vater gezeugt wurde usw.).

    Damit werden die Unterschiede nicht nivelliert. Unbenommen bleibt, dass bestimmte Personen bestimmte Fähigkeiten aufweisen, die andere nicht haben. Die Einordnung dieser Fähigkeit im Sinne von Wert oder Bedeutung wird jedoch eine andere, weil weniger die individuelle Großartigkeit, sondern vielmehr die vielfältige, wechselbezügliche Bedingtheit herausgestellt wird.

  • Ich glaube, es hakt daran, daß wir über "Wert eines Menschen" unterschiedliche Vorstellungen haben. Sobald dieser "Wert" an etwas anderes gebunden wird wie den Menschen selbst, also an die reine Tatsache des Mensch-Seins, also z. B. an besondere Leistungen, die Menschen erbringen, reden wir nicht mehr über den Wert von Menschen, sondern über deren Handlungen o. ä.

    Klar, für mich wäre wohl der "Wert des Menschlichen" der überindividuell einheitliche, der gattungsspezifische, und der "Wert eines Menschen" der individuelle durch Taten "erworbene".

    Für mich funktioniert Deine Methode nicht, aus dem Wert der Taten nicht auf den Wert des Urhebers zu kommen. So wie der Hammer ein wertvolles Instrument ist und nicht nur seine Taten wertvoll, so ist jemand, der Wertvolles leistet, selbst wertvoll.

    This play can only function if performed strictly as written and in accordance with its stage instructions, nothing added and nothing removed. (Samuel Beckett)
    playing in good Taste doth not confit of frequent Passages, but in expressing with Strength and Delicacy the Intention of the Composer (F. Geminiani)

  • Für mich funktioniert Deine Methode nicht, aus dem Wert der Taten nicht auf den Wert des Urhebers zu kommen.

    "Methode"? Ich schließe eben nicht vom Wert der Taten auf den Wert des Tätigen, das ist alles und es "funktioniert" sehr gut. So wie es Knulp erläutert:

    Keineswegs ist es allgemeine Auffassung, dass dem Menschen als solchem ein absoluter Wert zukommt. Erst recht nicht ist dies eine Frage von richtig oder falsch. Vielmehr handelt es sich um eine Bewertung.

    Und diese Bewertung kann ich vornehmen oder auch nicht.

    So wie der Hammer ein wertvolles Instrument ist und nicht nur seine Taten wertvoll, so ist jemand, der Wertvolles leistet, selbst wertvoll.

    Der Hammer "tut" nichts, also gibt es da auch keine Taten. Der Mensch, der den Hammer betätigt, "tut" etwas. Dein Beispiel überzeugt mich nicht. Wenn Du einen Menschen "wertvoll" nennst, weil er "Wertvolles" tut, ist das Deine Sache. Ich mache das nun mal nicht.

    Menschenleben dürfen nicht gegeneinander aufgerechnet. Wenn man so will, bedeutet absolut unendlich. Fünfmal Unendlich ist nicht mehr als einmal Unendlich.

    Das überzeugt mich. Insofern ist es vielleicht problematisch, vom Wert von Menschen zu sprechen. Nur ein Streit um Worte?

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Das überzeugt mich. Insofern ist es vielleicht problematisch, vom Wert von Menschen zu sprechen. Nur ein Streit um Worte?

    Mich überzeugt es nicht - schließlich ist es nicht egal, ob ein Mensch, fünf, oder Millionen von Menschen getötet werden. Gerade im Umgang mit den "dunklen Kapiteln der Geschichte".

    This play can only function if performed strictly as written and in accordance with its stage instructions, nothing added and nothing removed. (Samuel Beckett)
    playing in good Taste doth not confit of frequent Passages, but in expressing with Strength and Delicacy the Intention of the Composer (F. Geminiani)

  • Ein bekanntes Beispiel ist der Weichenstellerfall bzw. das Trolley-Problem, das gern im Zusammenhang mit dem Utilitarismus diskutiert wird: Du kannst fünf Menschenleben retten, wenn du einen Menschen tötest. Interessanterweise sind sehr viele Menschen bei diesem Experiment nicht mehr auf der Basis des Grundgesetzes. Klar rette ich die – in Summe – vier Leben!

    Das Weichendilemma erscheint auch in einem Buch des Hirnforschers Eric Kandel, das ich gerade gelesen habe. Kandel vergleicht dieses zusammen mit einer Variante, dem Brückendilemma. Im ersten Fall werden durch Umstellen einer Weiche fünf Menschen gerettet und einer getötet. Im zweiten Fall wird dies erreicht, indem man eine Person von einer Brücke auf die Gleise schubst, die dann getötet wird, dafür aber fünf Personen gerettet werden. Rein rational gesehen kein Unterschied.

    Die meisten Testpersonen würden im Weichendilemma den Hebel umlegen, durch rationale Betrachtung, dass dadurch weniger Menschen getötet werden. Manche sehen es sogar als ihre moralische Pflicht an. Völlig anders ist das Ergebnis beim Brückendilemma, weil man hier "aktiv" eine Person tötet. Hier wird im Empfinden die vorher moralisch richtige Handlung zu Mord. Bei der Entscheidungsfindung sind in den beiden Fällen unterschiedliche Hirnregionen beteiligt. Im ersten Fall der bewusste, rationale Entscheidungsapparat (präfrontaler Cortex), im zweiten Regionen, die das unbewusste, emotionale Empfinden steuern ("es fühlt sich falsch an").

    maticus

    Social media is the toilet of the internet. --- Lady Gaga

    Ich lieb‘ den Schlaf, doch mehr noch: Stein zu sein.
    Wenn ringsum nur Schande herrscht und nur Zerstören,
    so heißt mein Glück: nicht sehen und nicht hören.
    Drum leise, Freund, lass mich im Schlaf allein.
                       --- Michelangelo Buonarroti (dt. Nachdicht. J. Morgener)

Jetzt mitmachen!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!