Gibt es tatsächlich "klare Maßstäbe, nach denen man beschreiben kann, ob ein Sänger/Orchester/Dirgent gute Leistungen erbringt oder nicht"? Wenn ja: Welche Maßstäbe sind das? Inwieweit sind sie allgemeingültig?
Um nochmal zu deiner Ausgangsfrage zurück zu kommen:
Ich glaube schon, dass es "klare Maßstäbe" für "gute Leistungen" gibt, dass diese aber nicht immer mit dem subjektiven Erleben und Genuss korrelieren. Ein Faktor, der hier noch gar nicht aufgerufen wurde (und den ich für extrem bedeutend halte) ist Musikalische Intimität: Gelingt es eine Verbindung zwischen Interpreten und Publikum aufzubauen (bevor jemand fragt: hierfür sind beide gemeinsam verantwortlich!). Das ist meines Erachtens auch ein Vorteil von Häusern (inkl. Publikum) und Künstlern, die sehr vertraut miteinander sind.
Das Konzerthaus Dortmund beispielsweise ist leider nicht mit einem besonders tollen eigenen Klangkörper gesegnet: klassisches westdeutsches städtisches Orchester, das ein städtisches Vierspartentheater (dankenswerterweise mit eigener Spielstätte für Philharmonisches, das Konzerthaus Dortmund) bedient. Macht 10 mal 2 Abokonzerte pro Saison plus Kinder- und Kammerkonzertreihen sowie sieben Musiktheater- und vier Ballettinszenierungen mit je 5 bis 15 Abenden (die 15 natürlich für das obligatorische Musical). Im Musiktheaterbereich jährlich Zauberflöte, Carmen und Aida im Wechsel, aufgepeppt durch so schöne Sachen wie Frau Luna und Einstein on the Beach oder eben auch mal Eugen Onegin oder Tristan und Isolde. Auf Tournee gehen sie natürlich kaum, die heimischen Verpflichtungen geben das auch gar nicht her.
Um hier herausragende musikalische Momente zu erleben, müssen (in aller Regel) Gäste kommen. Und das klappt auch, weil es einen Saal mit Top-Akustik und einem sehr bindungsbereiten Publikum gibt. Solche Verbindungen gibt es z.B. mit Yannick Nézet-Séguin, der mit seinen Klangkörpern (Rotterdam, Montréal) hier schon Sternstunden gestaltet hat, in denen diese Nicht-Erstliga-Orchester über sich hinauswuchsen. Und ich denke, dass Schlüsselfaktoren dafür auch Vertrauen und Wertschätzung und Begeisterungsfähigkeit des Publikums sind. Weitere in Dortmund geschätzte, mit Nestwärme umschlungene (und immer wiederkehrende) Künstler sind Andris Nelsons, Teodor Currentzis, Patricia Kopatchinskaya, das MCO u.a.m.
Ich finde zwar, dass die Dortmunderinnen und Dortmunder ob ihrer Begeisterungsfähigkeit oft zu wenig leistungsdifferenzierende Beurteilungen vergeben. Aber andersherum ist ein supportendes Publikum in der musikalischen Diaspora wohl (neben einer exzellenten Hausleitung) die Voraussetzung dafür, dass man Weltklasseorchester, -solisten und -dirigenten anlocken kann.
Um zum Abschluss zu kommen: Ich glaube, dass für eine gute Musikkultur vor Ort nicht nur - und vielleicht nicht einmal in erster Linie - die Qualitäten von Klangkörpern, Solisten und Dirigat verantwortlich sind, sondern die "Entdeckergemeinschaft" (Harnoncourt), die Künstler und Publikum bilden können.