- es entbehrt einfach jeder Plausibilität, dass die Menge der Kunstschaffenden heute irgendetwas weniger hätte als frühere Generationen.
Meinst Du nicht, daß das etwas zu pauschal formuliert ist? Natürlich ist die Vergangenheitsverklärung ein Faktor, der oft unterschätzt wird. Aber eine Verschiebung der Schwerpunkte o.dgl. ist doch objektiv feststellbar, auch wenn die Gründe dafür oft nicht leicht auszumachen sind. Beispielsweise haben wir derzeit nicht sehr viele Spitzenstimmen für die deutsche Spieloper (für deren Vernachlässigung es natürlich auch sehr viele Erklärungen gibt, sie wird ja auch in der Ausbildung nicht besonders forciert). In den 1950er und 1960er Jahren hatten wir eine Überfülle an großartigen Tenören im italienischen Fach, heute ist die Zahl überschaubar. Ist die Lücke, die Pavarotti/Domingo/Carreras hinterlassen haben, wirklich gleichwertig gefüllt? Ich persönlich finde, nur teilweise.
Es gab an der Wiener Staatsoper Zeiten, wo der Ausfall einer Berühmtheit oft keine echte (höchstens eine hochgeschaukelte) Affäre war, weil man aus dem Ensemble hochwertigst nachbesetzen konnte. Klar, heute kann sich die Staatsoper es gar nicht mehr leisten, eine solche Reserve zu besitzen (ich kann mir aber gut vorstellen, daß man mit irgendeinem mäzenatischen Krösus im Hintergrund dergleichen innerhalb mehrerer Jahre sogar wieder aufbauen könnte - ist natürlich irrealer Wunschtraum...). Jetzt haben wir kaum einen adäquaten Duca für den "Rigoletto". Bei der letzten Premiere sang ihn Beczala, ein toller Sänger, aber für diese Partie zu diesem Zeitpunkt kein idealer Interpret. Seine Schwerpunkte liegen woanders (dem Mozartfach ist er entwachsen, dafür begeistert er als Lohengrin oder jüngst als Cavaradossi). Natürlich fallen mir andere Namen ein, die in Frage kämen, aber die Qualität etwa von Big P hätte keiner.
Andererseits sind wir weltweit gegenwärtig sehr gut mit Künstlern versehen, die Barockopern wirklich gut singen können. Das gab es früher nicht, weil sich zu wenige Leute dafür interessiert haben. Auch bei den Mezzosopranen sind wir mit Weltklasse bestens versorgt (Garanca, DiDonato…). Und die haben es nicht nur in der Stimme, sondern vermögen auch ihre Rollen wirklich auszufüllen. Gestern habe ich mir wieder einmal den ORF-Film der "Cosi" (Böhm/Kaslik) gegönnt (leider ist er nicht im Handel) und bin bereit, der himmlischen Christa Ludwig als Dorabella stundenlang die Füsse zu küssen (den anderen MItwirkenden bitte auch), aber ich behaupte selbstverständlich nicht, daß es das heute nicht mehr geben könnte. Dem Himmel sei Dank dafür! Doch ob ich je noch einmal so ein Timbre wie das von Fritz Wunderlich erleben werde? Nun, die Hoffnung stirbt zuletzt oder auch nie.
Waldi