Johannes Brahms: Die Streichsextette B-Dur Op. 18 und G-Dur Op. 36

  • Johannes Brahms: Die Streichsextette B-Dur Op. 18 und G-Dur Op. 36

    Die beiden Streichsextette Op. 18 und Op. 36 sind Johannes Brahms’ erste (veröffentlichte) Kompositionen für eine reine Streicherbesetzung. Er komponierte beide Werke in seiner frühen Schaffensphase in Detmold. In der gleichen Zeit entstanden auch die beiden Klavierquartette Op. 25 und 26 und das Klavierquintett Op. 34.

    Für diese Besetzung war bis dahin nur selten komponiert worden. Selbst Boccherini hat nur sechs Streichsextette geschrieben. Im 19. Jahrhundert gab es an möglichen Vorbildern wohl nur Louis Spohrs C-Dur-Sextett Op. 140 von 1850.

    Um Brahms’ skrupulöse und selbstkritische Haltung und sein Zögern bei der Fortsetzung der “Königs-Disziplinen” Symphonie und Streichquartett wissend, könnte man mutmaßen, er habe eine selten genutzte Besetzung gewählt, um nicht an Vorbildern zu scheitern. Auch bietet die Besetzung wohl in beide Richtungen - symphonisch wie quartettkompositorisch - Potential zum Sammeln von Erfahrungen.

    Zu den Eckdaten:

    Die Sextette wurden 1862 bzw. 1866 bei Simrock veröffentlicht. Op. 18 wurde aus dem Manuskript allerdings bereits 1860 mit Joseph Joachim in Hannover öffentlich aufgeführt.

    Beide Werke haben vier Sätze (Op. 18: I: Allegro ma non troppo, II: Andante ma moderato, III: Scherzo. Allegro molto - Animato, IV: Rondo. Poco allegretto e grazioso - Op. 36: I: Allegro non troppo, II: Scherzo. Allegro non troppo - Presto giocoso, III: Adagio, IV: Poco Allegro).

    Von der formalen Anlage gemeinsam haben die Sextette Kopfsätze in Sonatensatzform und Scherzi mit schnelleren Trio-Abschnitten. Der langsame Satz ist jeweils ein Thema mit Variationen. Während allerdings das Finale in Op. 18 ein Rondo ist, hat es in Op. 36 eine Sonatensatzanlage. Gemeinsam ist den Stücken außerdem die Verwendung von volkstümlichen Elementen (Thema im 2. Satz von Op. 18, Trio-Teil des Scherzos in Op. 36 u. a.) .

    Im direkten Vergleich mit Op. 18 empfinde ich Op. 36 trotz des berühmten A-G-A-H-E-Motivs im Seitenthema des Kopfsatzes in Anspielung auf die 1859 wohl vorübergehend mit ihm verlobte Agathe von Siebold - „Fesseln tragen kann ich nicht!“, so Brahms dann statt eines Heiratsantrags - als deutlich “abstrakter”.

    Bspw. schon der Beginn. In Op. 18 eine klare, eingängige Melodie im poco forte. Op. 36 beginnt mit der Begleitfigur, erst dann entwickelt sich über einer Begleitung im pp das Thema in der ersten Violine, dessen Dynamik über weite Strecken zunächst in einem geheimnisvoll gedämpften Bereich bleibt.

    Ähnlich die Situation im langsamen Satz. In Op. 18 klare Kante mit dem auftaktigen Thema im forte in der ersten Viola über einer stampfenden Bassbegleitung, in Op. 36 ein vorsichtiges Tasten der ersten Violine im piano molto espressivo über einer Begleitung, die durch eine Zwei-gegen-drei-Rhythmik viel unklarer wirkt.

    Insgesamt entsteht für mich oft der Eindruck, in Op. 18 sei vieles direkter, klarer und auch ein wenig gröber gearbeitet.

    Peter Gülke meint: “Es ist, als habe Brahms das im ersten Versuch Gelernte noch ein zweites Mal gründlich durchkneten müssen.[...] Weniger orchestral als das erste in B-Dur op.18, dafür komplexer, auch kondensierter und empfindlicher gibt sich dieses zweite Streichsextett G-Dur op. 36 von Johannes Brahms.”

    Dennoch ist auch Op. 36 ein Werk, das im Vergleich etwa zu den Streichquartetten Op. 51 oder auch zu den Streichquintetten weniger spröde oder und melodienseliger wirkt, ähnlich wie die in der gleichen Zeit entstandenen Werke für Klavier und Streicher auch.

    Marie Sumner Lott weist in ihrem interessanten Aufsatz zu hausmusikalischen Aspekten in den Brahms-Sextetten darauf hin, dass einige Merkmale der Werke (lange, lyrische Themen, die mehrfach im Werk in voller Ausdehnung wiederholt werden, eher kurze und weniger komplizierte Durchführungen, sequenzierte Passagen, in denen die verschiedenen Stimmen abwechselnd zu Wort kommen können, im Vergleich zur Exposition wenig variierte Reprisen) unter Rücksichtnahme auf die Freude der Musiker so gestaltet sind. Dies besonders in Op. 18, das sie als auf die Ausführenden hin angelegt sieht, die damals in Hausmusikkreisen teilweise auch ambitionierte Laien waren; weniger in Op. 36, das Brahms nach einem Besuch in Wien komponierte, bei dem er auch den Quartett-Primarius Joseph Hellmesberger kennengelernt hatte.

    Auch das G-Dur-Sextett kam bei den Hausmusikern in Brahms’ Umkreis jedenfalls gut an.

    “Gestern haben wir bei mir, teils Künstler, teils Dilettanten, Ihr neues Sextett gespielt, und es drängt mich, Ihnen zu sagen, eine wie außerordentliche Freude wir alle daran gehabt haben [...] Es liegt dies nicht allein in der Leichtigkeit des Stroms, mit welcher sich ein reizendes Motiv an das andere wie von selbst anknüpft, [...] sondern ebensosehr an dem Aufbau des ganzen Kunstwerkes, an der Steigerung und harmonischen Zusammenwirkung des Ganzen. Der Schluß des Adagios ist von einer unmenschlichen Schönheit, von einer zauberhaften Klangwirkung [...]”, schreibt Theodor Billroth am 4. Mai 1866 an Brahms.

    Ich schließe mich dem mal an und bin auf Eure Eindrücke und natürlich auch Empfehlungen zu Aufnahmen gespannt.

  • Bei mir stehen nur ad hoc Ensembles : die Truppen um Casals , Heifetz und Menuhin .

       

    Good taste is timeless "Ach, ewig währt so lang " "But I am good. What the hell has gone wrong?" A thing of beauty is a joy forever.

  • Danke, werter Braccio, für die anregende Einführung!

    Bei mir wäre wohl eine weitere Einspielung gar nicht so verkehrt. Denn ich finde nur diese eine im Rahmen der bewährten Brilliant-Box.

    Im Rundfunk habe ich zumindest op. 18 früher bisweilen wahrgenommen und wohl auch auf Kassette bzw. vorher Spule (Letztere aktuell nicht mehr aufrufbar) festgehalten. Das könnte bereits vor rund 45 Jahren gewesen sein =O . Das erste Sextett ist mir von daher deutlich vertrauter als das zweite, das ich vielleicht fünf Mal oder so gehört habe.

    Übrigena kenne ich eine Bearbeitung des Opus 18 für Gitarre und habe sie (zuletzt schon vor längerer Zeit) gelegentlich gehört - auch dies eine Kassettenproduktion, deren Herkunft ich nicht nachvollziehen kann, und das gilt genauso für das Werk selbst. Der Interpret müsste Narciso Yepes sein. Es ist kein Original, der Tonträger aber mit großer Sicherheit auch nicht von mir erstellt. Uninteressant oder fragwürdig erscheint mir die Version keineswegs.

    ... Wenn ich so nachdenke, ist die alte Kassette ein Mitbringsel meiner Gemahlin, also damaligen Freundin. Das heißt, dass sie mir von daher in den frühen Achtzigern geläufiger war als das Original.

    :wink: Wolfgang

    He who can, does. He who cannot, teaches. He who cannot teach, teaches teaching.

  • Bearbeitung des Opus 18 für Gitarre

    Wow! Noch nie davon gehört. Bearbeitungen, die etwas geläufiger sind, gibt es z. B. für Klavier zu vier Händen (vom Komponisten) und für Klaviertrio (von Theodor Kirchner). Auch diese Versionen kenne ich noch nicht, dafür bin ich zu Streicher-affin ;) .

  • Wie zwischen den Zeilen schon angedeutet: Die intime Gitarrenversion steht dem Werk ganz ausgezeichnet. Trotzdem habe ich so spontan nichts dazu im Netz gefunden. :)

    EDIT: Wir kommen der Sache einen kleinen Schritt näher.

    Die Bearbeitung bezieht sich nur auf den Variationen-Satz. Narciso Yepes ist korrekt. Bei yt findet sich im Übrigen folgende Version für Gitarrenduo (und es ist dort nicht die einzige Datei!):

    https://www.youtube.com/watch?v=uMWoOSoJRfI

    He who can, does. He who cannot, teaches. He who cannot teach, teaches teaching.

  • Schade, dass niemand zu der All-Star-Aufnahme mit Faust und Freunden oder der Concertgebouw-Solisten-Einspielung etwas weiß. Die hat Qobuz leider auch nicht vorrätig.

    Op. 36 mit Heifetz und Freunden ist richtig klasse. Höchste Energiestufe. Op. 18 mit Stern, Casals & Co. ist ja auch legendär. B-major hatte irgendwo in "Eben gehört" etwas von beseeltem Spiel geschrieben. So fand ich's heute beim Wiederhören auch, selbst wenn ich eigentlich die Beachtung der Wiederholungszeichen ganz gern habe und mir manches auch schneller vorstellen könnte.

    Von den neueren Aufnahmen von Op. 36, die ich in der letzten Zeit gehört habe, fand ich die mit dem Leipziger Streichquartett, Hartmut Rohde und Peter Bruns am spannendsten. Sie wurde 2004 in der Paul-Gerhard-Kirche in Leipzig aufgenommen.

    Recht zügig, im Kopfsatz mit 66 Takten/Minute Grundmetrum etwa so wie die Archibudelli. Sehr gute Dynamik, vor allem auch in den leisen Passagen, in denen eine starke Spannung aufgebaut wird. Überhaupt eher auf der lyrischen, nicht wie manchmal bei den Leipzigern auf der ruppig-virtuosen Linie. Klangtechnisch für mein Empfinden sehr gut gemacht. Die beigepackte Aufnahme von 51/1 ist auch ziemlich stark.

  • Im RONDO-Hörtest werden verschiedene Aufnahmen besprochen. Sehr gut kommen in dieser HIP-favorisierenden Besprechung insbesondere zwei Aufnahmen weg:
    ...

    Kennt jemand diese Einspielungen?

    Die Concertgebouw-Aufnahme habe ich mir dann doch noch zugelegt. Am auffälligsten ist bei Op. 36 in dieser Einspielung das fetzige Tempo im Finale. Ansonsten hatte ich - auch bei Op. 18 - den Eindruck einer sehr guten, aber aus der Vielzahl an gelungenen Einspielungen auch nicht herausragenden Aufnahme. Klanglich wie erwartet sehr gut eingefangen.

  • B-Dur op 18
    Für mich ist es kein Wunder, dass dieses Stück bei Hörern nicht beliebt ist, denn die meisten Aufnahmen sind intrumentaltechnisch so schlecht, dass ich kaum über die ersten 5 Minuten hinwegkomme, wenn ich mir so eine Bemerkung anmassen darf. Miserable Saitenwechsel, schlechte Koordination von Bogen- und Lagenwechsel, zweifelhafte Intonation, Saite zu Tode gedrückt, Solo verkratzt, Spieler hat Angst vor der eigenen Courage und fällt gegenüber den anderen ab, usw, ein Katalog des Versagens bei - für mich, je nach Stimmung - einem der allerschönsten Kammermusikwerke überhaupt. Das Stück macht nämlich einen Reisenspass selber zu spielen. Nur das Anhören ist schwierig.

    Eine Aufnahme, die für mich von der instrumentaltechnischen Ausführung akzeptabel genug ist, dass ich überhaupt beginnen kann, die Musik zu geniessen, ist diese:

    Meine Lieblingsaufnahme ist aber diese:

    Amadeus/Aronowitz/Pleeth sind instrumentaltechnisch auch nicht perfekt (besonderrs die ersten 5 Minuten lassen zu wünschen übrig), aber kammermusikalisch und musikalisch für mich unübertroffen, dh das Zusammenspiel ist vom Feinsten und die überbordende Stimmung des Werkes herrlich getroffen. Brainin und Nissel sind so perfekt zusammen, dass sich an manchen Stellen sogar die Vibratoschwingungen decken. Alle Instrumantalisten produzieren einen einheitlichen Klang und einheitliches Vibrato. Musikalisch wird es ein Ohrenschmauss, eine wahre Sternstunde, sobald Brainin ab etwa der 5. Minute ganz aufgewacht ist. Dann aber wird man belohnt mit Vintage Brainin – er hatte einen der unvergesslich schönsten Kammermusik- Geigenklänge jemals. Auch zu bewundern im Schubert Quintett. :verbeugung1:

  • Hier ist eine weitere Aufnahme des B Dur Sextetts, welche intrumentaltechnisch so gespielt ist, dass ich mich auf die Musik konzentrieren kann.
    Musikalisch ist diese Aufnahme aber nicht immer mein Geschmack, da sie mir oft zu schwerfällig, im 2. Satz sogar sehr zäh erscheint.
    Der Klang ist aber sehr schön und als besonders klangschön empfinde ich das erste Cello. Auch die erste Bratsche verspricht ausgesprochen viel, hält ihr Versprechen aber dann in ihrem Solo gegen Ende des 1.Satzes nicht ganz.
    Die Balance der Stimmen fällt meist zugute der tiefen Streicher aus, so dass leider die erste Geige für meinen Geschmack zu viel von ihrer Brillianz und an anderer Stelle auch zu viel von ihrer Süsse einbüsst.
    Es fehlt mir in den ersten beiden Sätzen eine gewisse Durchsichtigkeit. "An airier texture might have given the playing a more distinctive character", wie Andrew Clements 2007 im Guardian schrieb. Oft wird sehr dick aufgetragen, auch von den jeweiligen Nebenstimmen. Dies wirkt sich besonders fatal auf den 2. Satz aus: Die erste Hälfte wird für mich zu einem musikalischen sitcky toffee pudding. Dies gibt sich aber dann fast ganz im 4. Satz, welcher sich durch viele sehr zart und empfindsam gespielte grazioso Passagen auszeichnet. Fast meine ich, dass der 4. Satz in dieser Aufnahme der musikalisch am besten getroffene ist und allein dafür lohnt es sich, diese Aufnahme einmal anzuhören.

    Marianne Thorsen - violin
    Malin Broman - violin
    Lawrence Power - viola
    Philip Dukes - viola
    Paul Watkins - cello
    Tim Hugh - cello

  • B Dur Sextett

    Hier nun eine weitere Version gespielt vom Mandelring Quartett mit Roland Glassel (Viola 2) und Wolfgang Emanuel Schmidt (Cello 2).

    Die Kunst bei Brahms und besonders bei diesem Werk ist mE, die Gratwanderung zwischen der Erdigkeit und Bodenständigkeit einerseits und der Schwebe und Zartheit andererseits, erfolgreich zu absolvieren. Und egal auf welcher Seite des Berghangs man sich verirrt, sollte man mMn dennoch immer mit zutiefst empfundener Leidenschaft umherwandeln. Introvertiert empfinde ich Brahms nie, selbst im pianissimo, und in diesem Sextett schon gar nicht. Wenn man aber zu leidenschaftlich extrovertiert unterwegs ist, dann riskiert man den Hörer mit einer unerbittlichen Klangdichte zu erschlagen. Brahms kann dann zur Tortur werden - also muss man sorgfältig ausdünnen und lernen den schwebenden, zarten Brahms zu entdecken, wo immer man kann.

    In dieser Aufnahme höre ich nun einen eher schwebenden, luftigeren Brahms und dies könnte genau jenen Hören einen Zugang zu diesem Stück erlauben, welche von der Dichte und Schwerfälligkeit anderer Einspielungen für immer vergrault wurden.
    Der erste Satz ist flüssig im Tempo und insgesamt durchsichtig und dadurch weniger aufdringlich in seiner hier etwas zurückgehaltenen Leidenschaft. Instrumentaltechnisch ist es zufriedenstellend gespielt, obwohl es mir klanglich im Vergleich zu Capucon oder Amadeus ein klein wenig an Brillianz und Süsse fehlt.
    Der 2. Satz lässt für mich jedoch ziemlich nach, denn hier finde ich den musikalischen Ansatz nicht einheitlich genug, nicht überzeugend genug. Ich bin mir nicht sicher, welchen Ausdruck sie hier gesucht haben und ob sie sich überhaupt etwas Einheitliches gedacht haben.
    Der 3. Satz ist passend lebhaft, und der 4. Satz wieder luftig und schwebend, jedoch bei weitem nicht so wunderbar grazioso, zart und klangschön wie der 4. Satz des Nash Ensembles.
    Insgesamt aber eine gelungene Einspielung.
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    Wer Einheit im 2.Satz sucht, sollte sich Casals/Isaac Sterns 2. Satz anhören.

    Es ist nicht meine Lieblingsversion, aber bekommt meine volle Punktzahl in musikalischer Einheit des Ensembleansatzes (im 2.Satz). Irgendwie unerbittlich archäisch und sehr überzeugend. Und übrigens ist das letzte verhaltene Cellosolo sehr berührend. Gänsehaut, bei mir jedenfalls.

  • Eine weitere Einspielung in hochkarätiger Besetzung kommt auf uns:

    Belcea Quartet + Tabea Zimmermann + Jean-Guihen Queyras

    Toleranz ist der Verdacht, der andere könnte Recht haben.

  • Heute gehört

    Brahms

    Streichsextett op. 18

    Belcea Quartet + Tabea Zimmermann + Jean-Guihen Queyras


    Sehr schön

    Toleranz ist der Verdacht, der andere könnte Recht haben.

  • Danke für den Hinweis.

    Die Besetzung erweckt wirklich höchste Erwartungen.

    :cincinbier:

    "it's hard to find your way through the darkness / and it's hard to know what to believe
    but if you live by your heart and value the love you find / then you have all you need"
    - H. W. M.

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